Erich Fried (1921 - 1988)


Kleines Beispiel

Auch ungelebtes Leben
geht zu Ende
zwar vielleicht langsamer
wie eine Batterie
in einer Taschenlampe
die keiner benutzt

Aber das hilft nicht viel:
Wenn man
(sagen wir einmal)
diese Taschenlampe
nach so- und sovielen Jahren
anknipsen will
kommt kein Atemzug Licht mehr heraus
und wenn du sie aufmachst
findest du nur deine Knochen
und falls du Pech hast
auch diese
schon ganz zerfressen

Da hättest du
genau so gut
leuchten können

 


Was es ist

Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe

 


Worte

Wenn meinen Worten die Silben ausfallen vor Müdigkeit
und auf der Schreibmaschine die dummen Fehler beginnen
wenn ich einschlafen will
und nicht mehr wachen zur täglichen Trauer
um das was geschieht in der Welt
und was ich nicht mehr verhindern kann

beginnt da und dort ein Wort sich zu putzen und leise zu summen
und ein halber Gedanke kämmt sich und sucht einen andern
der vielleicht eben noch an etwas gewürgt hat
was er nicht schlucken konnte
doch jetzt sich umsieht
und den halben Gedanken an der Hand nimmt und sagt zu ihm:
Komm

Und dann fliegen einige von den müden Worten
und einige Tippfehler die über sich selber lachen
mit oder ohne die halben und ganzen Gedanken
aus dem Londoner Elend über Meer und Flachland und Berge
immer wieder hinüber zur selben Stelle

Und morgens wenn du die Stufen hinuntergehst durch den Garten
und stehenbleibst und aufmerksam wirst und hinsiehst
kannst du sie sitzen sehen oder auch flattern hören
ein wenig verfroren und vielleicht noch ein wenig verloren
und immer ganz dumm vor Glück daß sie wirklich bei dir sind

 

 

 

 

 


Hans Magnus Enzensberger

Charles Robert Darwin (1809-1882)*


Der Mann, der nicht wollte.
Die Erde unter den Füßen machte ihn seekrank.
"Bahnbrechend", "umwälzend", "genial", "ein Titan":
er wollte nicht, hat sich gewehrt,
von Anfang an, mit allen Mitteln.
Brechreiz, Migräne, Hypochondrie.

Die Schule nichts weiter als ein weißer Fleck.
Stellt sich dumm. Aus Mimikry mittelmäßig und faul.
Das Studium abstoßend, unerträglich langweilig,
verlorene Zeit. Versteht nichts von Mathematik,
vergißt die Klassiker, bleibt unwissend wie ein Schwein,
was Politik betrifft, Geschichte und Philosophie.

Man mutet ihm zu, Arzt zu werden:
er kann kein Blut sehen.
Man will einen Pfarrer aus ihm machen:
er kann kein Latein.
Versager. Hält sich aus allem heraus,
zaudert, vermeidet es, Konsequenzen zu ziehen,
hat keine Ellbogen.

Die Ehe: Schreckliche Zeitvergeudung.
Kinder: Immerhin besser als ein Hund.
Jeglichem Amüsement geht er aus dem Weg:
Amüsement ist das Allerschlimmste.


Dann die berühmte Weltreise: halb widerwillig,
halb aus Versehen. An Bord
liegt er stundenlang auf dem Kartentisch.
Schwindelgefühl, Schlaffheit.
Sammelt Proben, Daten, Präparate.
Seine Überzeugungen behält er für sich.

Eines Nachmittags liest er Malthus
(zur Unterhaltung): Herzklopfen,
heftiger Schüttelfrost, und im Gehirn
ein elektrischer Sturm. Fortan
war er verloren. Der Rest war Evolution:

Die Entstehung der Arten entsteht
und entfaltet "naturwüchsig", unaufhaltsam,
eine neue Art von Ideen, in einem Prozeß,
der den Zermalmer zermalmt, allmählich,
langsam und unerbittlich.

Er weicht zurück, heiratet,
zieht in ein abgelegenes Dorf,
vermeidet Reisen, Geselligkeiten,
schirmt sich ab: Rentner mit dreiunddreißig.

Mein Kopf hat sich in eine Maschine verwandelt,
die dazu bestimmt ist, große Mengen von Fakten
zu allgemeinen Gesetzen zu vermahlen.

Sieben Jahre Über Korallenriffe, ihre Struktur und Verbreitung.
Einundzwanzig Jahre Über Bewegungsvermögen und Lebensweise
der Rank-, Schling- und Kletterpflanzen.
Acht Jahre Über Entenmuscheln und Seepocken
(zwei Folianten über die lebenden Arten, zwei über die fossilen).

Es bildet sich aber über der Schale ein festes Gehäuse,
das den Leib gleich einem Panzer schützt.
Aus meinem weiteren Leben habe ich daher,
abgesehen von meinen Publikationen,
nichts zu berichten.

Tageslauf: höchstens vier Stunden Arbeit,
dann der Besuch in den Treibhäusern.
Lange Siesta, in einen Schal gewickelt,
auf dem Sofa. Umkleiden. Nach dem Dinner
spielt jemand eine Klaviersonate.

Man geht früh zu Bett. Schlaflosigkeit:
Seine Nächte waren meist schlecht,
er lag oft wach oder saß aufrecht im Bett.

(Vgl. fünfzehn Meilen [Luftlinie] entfernt
einen anderen Invaliden, der widerwillig
und unaufhaltsam am Umsturz arbeitet:
Leberleiden, Brechreiz, Furunkulose;
matt wie eine Fliege, schlaflos, geplagt
von übertriebenem Blutscheißen:
Ich bin eine Maschine, dazu verdammt,
Bücher zu verschlingen und sie dann
in veränderter Form auf den Dunghaufen der Geschichte zu werfen.)

Endlose Details, akkumuliert wie Korallenkalk,
in Schubladen, Mappen, Registern.

Armer Teufel, bemerkt sein Gärtner,
steht herum und starrt minutenlang
auf eine Sonnenblume.
Wenn er nur etwas zu tun hätte,
das wäre besser für ihn.

Schmerzliche Verkümmerung, Gefühl,
völlig verdorrt zu sein.
Nur die Wissenschaft bleibt.
Um so schlimmer.
Manchmal hasse ich sie.

Will nicht, hat nie gewollt,
und hängt doch sein ganzes Leben an "die Natur",
mit ihrer plumpen Vergeudung, niedrigen Pfuscherei
und abscheulichen Grausamkeit: methodisch
wie ein Buchhalter oder ein Regenwurm.

Die Bildung der Ackererde
durch die Thätigkeit der Würmer,
mit Beobachtungen über deren Lebensweise:
Frucht einer Tätigkeit von fünfzig Jahren.
In der Geschichte der Erde bedeutsamer,
als man denkt, vermahlen sie
in ihrem Muskelmagen die Erde zu Humus,
tonnenweise, lautlos und unaufhaltsam.


[1975]

 

 

 

 

 


Robert Gernhardt (geb. 1937)

Ihm gesagt


In jeder Frau da steckt
Ein Sexualobjekt.
Das muß der Mann erwecken
sonst bleibt es in ihr stecken.

Schamerfüllter Dichter


Daß der Wolf
Daß der Wolf Biermann
Daß der wortgewaltige Wolf Biermann
All sein Lebtag nichts zu Papier gebracht hat
Was sich dem vergleichen ließe, was dieser Spitzel
Was dieser gottverlassne Stasi-Spitzel in jener Nacht notierte:

"Wolf Biermann führte mit einer Dame
Geschlechtsverkehr durch.
Später erkundigt er sich
ob sie Hunger hat.
Die Dame erklärt, daß sie gern einen Konjak trinken würde.
Es ist Eva Hagen.
Danach ist Ruhe im Objekt."

Daß das nicht schlecht sei
Daß das bei Gott ziemlich gut sei
Daß das verdammt noch mal bei sei als s.o. -:
Daß denkt er, und er schämt sich.

 

 

 

 

 

Durs Grünbein (geb. 1962)

Etwas das zählt (gleich am Morgen) ist
dieser träge zu dir
herüberspringende Chromblitz eines
Motorrads. Der Sommer

restlos abgekühlt, liegt in den letzten
Zügen. (Einverstanden,
was neues). Du

im Museumszwielicht am Fenster kaust
Kaugummi, weil es die beste
Arznei ist gegen
Barockphobie. Pünktlich wird Herbst,
kommen die Depressionen
von Stuhlreihen vor einer
leeren Freilichtbühne seit Regen-

gedenken nicht mehr bespielt. Zwei, drei
Arbeiter wickeln Stoffbahnen,
heben das Dielenholz aus den
Rahmen. Du winkst ihnen
zu. Manchmal

ist nichts leicht banaler als ein
Gedicht, eine erste Tagung
so früh am Morgen auf den
erstarrten Flügeln der Motte, die sich

sehr weich anfühlt in deiner Hand.

 

Trilce, César


An manchen Tagen wußten wir einfach
nichts Bessres zu sagen als
'Gleich passierts' oder 'Geht
schon in Ordnung...' gelangweilt in

überheizten Bibliotheken wo unsere Blicke
bevor sie glasig wurden wie
Rauchringe schwebten
unter den hohen Kassettendecken
alexandrinischer Lesesäle. Die
meisten von uns

wollten fort (nach New York oder
sonstwohin): Studenten mit

komisch flatternden Stimmen
gescheiterte Pläne umkreisend immer im
Aufwind und manche vor

melancholischer Anarchie süchtig
nach neuen Totems, Idolen
gestriger Revolutionen und dem
zum x-ten Mal
akupunktierten Leib der Magie. Man kam
ziemlich billig wenn man den ganzen Tag
dort verbrachte (besonders
im Winter) zwischen den
kurzen Pausen allein

mit seinen postlagernden Sorgen miets-
schuldig, die Stille wie
Nervengas aus den Büchern
saugend all dieser
sanften Bestien (...) und manchmal
gab es selbst dort im Einerlei
dieses Treibhausklimas ein wenig
lebendige Überraschung -
(Trilce, César!). Ich

erinnere noch genau eines Nachmittags
im Sommer das
raschelnde Zwielicht als ich
beim Scheißen aus einer Nebenzelle der
Bibliothekstoilette
gedämpftes Atmen und Stoß auf Stoß
schnell sich steigern hörte: mein Herz
flog plötzlich auf und ich
erschrak wie ein ganzer
Schmeißfliegenschwarm vor dem

Liebesspiel zweier Männer die stumm
aneinander arbeiteten
schwitzend und selbst-
vergessen wie fremde
kentaurenartige Wesen auf einer
überbelichteten Fotografie.
Schwer zu vergessen mit welcher
Erleichterung sie nachher
frischgekämmt jeder
hochrot und mit cremigem Teint

einzeln an mir vorübergingen und nur
ein Augenzwinkern (durch mich
hindurch) verriet mir:
Sie hatten sich kennengelernt.