3. Akt(sechs Wochen später) Ein großer, dunkler Raum, eine Art Gästezimmer. Wenig Möbel, nichts Weiches, zwei Bücherschränke und ein Klavier. Hinten eine Tür und zwei große italienische Fenster, die auf die Veranda hinausgehen. Die Fenster und die Tür sind geöffnet, so dass man den dunklen, fast schwarzen Himmel sieht, der mit ungewöhnlich hell leuchtenden Sternen übersät ist. In einer Ecke der Wand, näher zur Vorderbühne hin, ein Tisch, darauf eine Lampe mit dunklem Schirm. An diesem Tisch sitzt Inna Alexandrovna und liest Zeitung. Anna näht irgendetwas. Luntz geht auf und ab. An einem der Schränke Verchovtzev, der sich gerade ein Buch angelt. Auf der Veranda Zhitov. Tiefe Stille, wie es sie nur in den Bergen gibt. Das Schweigen hält eine Weile an, nachdem sich der Vorhang geöffnet hat.
VERCHOVTZEV: (brummt) Mist! INNA: Valja, hast Du gelesen, dass der Präsident Kassovskijs Begnadigungsgesuch abgelehnt hat? VERCHOVTZEV: Ja. INNA: Und was bedeutet das nun? VERCHOVTZEV: Dass man ihn erschießen wird. INNA: Du lieber Gott, wo soll das bloß alles hinführen? Haben wir denn nicht schon genügend Opfer zu beklagen? VERCHOVTZEV: (trägt das Buch unter dem Arm, läßt es fallen) Verfluchter Mist... Anna, heb mal auf. ANNA: (erhebt sich langsam) Gleich. Luntz hebt schweigend das Buch auf, legt es auf den Tisch und geht weiter auf und ab. VERCHOVTZEV: (setzt sich langsam hin, blättert im Buch herum; zu Anna) Sag mal, hast Du diese Rumstocherei nicht bald satt? ANNA: Irgendwas muß man doch tun. VERCHOVTZEV: Man könnte lesen. Anna antwortet nicht. Schweigen. VERCHOVTZEV: Das ist ja nicht zum Aushalten. Diese verfluchte Stille, man kommt sich ja vor wie im Sarg! Noch so eine Woche und ich stürze mich vom Felsen, fange an zu saufen, oder verprügele Pollak. LUNTZ: (nervös) Schrecklich, diese Stille! Als ob Byrons Traum in Erfüllung gegangen wäre, aber genauso: die Sonne ist verloschen, alle Menschen sind bereits tot, und wir... sind die letzten Überlebenden. Schrecklich, diese Stille! VERCHOVTZEV: Zhitov, was machen Sie da eigentlich? ZHITOV: (von der Veranda) Ich gucke. VERCHOVTZEV: (abfällig) Er guckt! Schweigen. INNA: Serjozhenka wäre jetzt schon 21... Er war so ein hübscher kleiner Junge, ganz wie Kolja... Anjuta, erinnerst Du dich noch an ihn? ANNA: Nein. INNA: Und ich erinnere mich noch ganz genau... Du hast ihn immer verhauen, Anna, Du warst ein unartiges Kind. Wie schnell das alles ging - in nur drei Tagen hatte ihn die Krankheit dahingerafft. Blinddarmdurchbruch - bei so einem Würmchen. Und als sie dann anfingen, ihm das kleine Bäuchlein aufzuschneiden..! Also Sie können mir glauben, Iossif Abramitsch... VERCHOVTZEV: Herr Gott nochmal, jetzt reicht's aber langsam. Den ganzen Abend reden Sie von Leichen. Er ist gestorben - und er tut verdammt gut daran, aber nun ist er tot und damit basta! Zhitov, kommen Sie her, unterhalten Sie sich mit mir! ZHITOV: Sofort. LUNTZ: Diese Schwermut! VERCHOVTZEV: (zu Inna) Was schreibt denn Marusja? INNA: (mit einem Seufzer) Sie schreibt viel, aber es ergibt alles keinen Sinn. Erst verspricht sie, in einer Woche zu kommen, und dann klappt es wieder nicht. In dem gestrigen Brief hat sie ja auch... VERCHOVTZEV: Ich weiß, ich weiß - ich dachte nur, dass es vielleicht etwas Neues gibt. INNA: Sie meinen, dass Koljuschka vielleicht krank sein könnte? VERCHOVTZEV: Wieso bloß krank? Sagen Sie doch gleich: tot! LUNTZ: Dann würde sie seinen Leichnam entführen und herbringen. INNA: Also ich muß doch sehr bitten! Was fällt Ihnen ein? Bedenken Sie, was Sie sagen! ZHITOV: (tritt ein) Nun? Worüber unterhalten Sie sich? VERCHOVTZEV: Setzen Sie sich. Was machen Sie denn da draußen? ZHITOV: Ich habe die Sterne betrachtet. Sie sind heute so schön, so unruhig. Petja tritt ein. Im Laufe der Szene überquert er einige Male die Bühne. LUNTZ: Also ich kann mir heute keine Sterne angucken, aber wie soll man sich vor ihnen verstecken?. Ich könnte natürlich in den Keller gehen, aber auch dort werde ich sie spüren. Verstehen Sie: als ob es zwischen ihnen und uns keinen Raum gäbe - als ob sich all diese Monstren lebendiger und toter Materie zusammenrotteten und langsam auf uns zukämen, als ob sie irgendetwas... ich weiß nicht. (geht umher, indem er weiter gestikuliert) ZHITOV: Die Atmosphäre ist hier sehr klar. Wie in Kalifornien, wo manchmal... VERCHOVTZEV: Sie waren in Kalifornien? ZHITOV: Ja. In Licks Observatorium. Und da die Sterne zu beobachten - geradezu gruselig war das manchmal. PETJA: Mama, wer ist denn die Alte in der Küche? INNA: Welche Alte? Ach, die Alte. Sie kommt aus dem Tal, eine Bettlerin oder so. Ich habe angeordnet, sich ein bißchen um sie zu kümmern. Offenbar ist sie taubstumm, man kriegt nichts aus ihr raus. PETJA: Wie ist sie denn hier raufgekommen? VERCHOVTZEV: Sie sollten vielleicht ein Altersheim aufmachen, Schwiegermütterchen. INNA: Warum eigentlich nicht. Wenn mein Mann nichts dagegen hat... PETJA: (hartnäckig) Aber wie kommt denn so ein Tattergreis den ganzen Berg hier rauf, Mama? INNA: Ich weiß es doch auch nicht, mein Herzchen. Du solltest lieber mal lesen, was Marusja über die hungernden Kinder schreibt: Ein kleines Mädchen fleht seine Mutter um Brot an; die Mutter geht los, um irgendwo etwas Eßbares aufzutreiben, und als sie wiederkommt, liegt ihr kleines Töchterchen bereits tot am Boden - ist das nicht schrecklich!? ANNA: Mit Deiner Barmherzigkeit ist diesen Menschen jedenfalls auch nicht gedient. INNA: Was schlägst Du vor - sollen wir sie sterben lassen? PETJA: Was denn sonst? Die Alte stirbt sowieso bald. Iossif, Sie sind ja so traurig heute!? LUNTZ: Tja, Petja, ich mache mir so viele schwere Gedanken. Eine Nacht ist das! Ich weiß auch nicht... Was für eine Nacht! Gespenstisch. Habt Ihr euch heute die Sterne mal genauer angesehen? PETJA: Und ich bin so fröhlich heute! (klimpert irgendetwas Wildes auf dem Flügel) VERCHOVTZEV: Hör auf damit! PETJA: (spielt und singt) Ich habe richtig gute Laune! INNA: Also wirklich, Petetschka! Nun hör schon auf damit! Petja schlägt den Deckel des Flügels geräuschvoll zu und geht auf die Veranda hinaus. Schweigen. LUNTZ: Müßte nicht Treitsch heute zurückkommen? VERCHOVTZEV: Nein, kann nicht sein... Das heißt doch, eigentlich müßte er ja heute oder morgen kommen. Zhitov, weshalb sagen Sie nichts? ZHITOV: Einfach so. Keine Lust. LUNTZ: Ich habe so sonderbare Anwandlungen, ich bin so schwermütig!.. Könnte glatt Selbstmord begehen. VERCHOVTZEV: Blödsinn. Ein Astronom begeht keinen Selbstmord. LUNTZ: Ich bin ein schlechter Astronom. Ein extrem schlechter! ANNA: Um so besser, dann können Sie sich ja in Zukunft mit irgendwas Sinnvollem beschäftigen. LUNTZ: Ich habe solche Angst vor den Sternen... Ich denke die ganze Zeit: Sie sind so riesig und so gleichgültig. Sie haben überhaupt keine Beziehung zu mir. Ich komme mir so klein vor, so erbärmlich, wissen Sie - wie ein kleiner Vogel, der sich die ganze Zeit vor dem Judenpogrom versteckt und nun völlig verängstigt irgendwo in seinem Versteck kauert. Petja tritt ein. VERCHOVTZEV: Sterne, kleine Vögel und Judenpogrome... Originelle Mixtur. INNA: (wirft Verchovtzev einen warnenden Blick zu) Das liegt daran, Iossif Abramitsch, dass wir alle mit den Nerven am Ende sind. Bedenken Sie doch nur: Anderthalb Monate ist es her, seit Marusja losgefahren ist - und immer noch nichts. Selbst ich habe mittlerweile nervöse Zuckungen - und ich bin ja nun wirklich einiges gewöhnt! LUNTZ: Mich erschreckt diese Unendlichkeit. Was ist das: Unendlichkeit? Wozu gibt es Unendlichkeit überhaupt? Ich betrachte die Sterne: einen, zehn, eine Million - und noch immer kein Ende. Mein Gott, wann wird mir endlich Gerechtigkeit widerfahren?! VERCHOVTZEV: Wieso Gerechtigkeit? LUNTZ: Sehen Sie mich an, ein kleiner Jude... (geht umher, fährt fort zu gestikulieren). POLLAK: (tritt ein) Guten Abend, die Herrschaften. Darf ich mich ein wenig zu Ihnen setzen? Ich störe doch nicht? INNA: Aber natürlich nicht, bitte. POLLAK: Luntz, die Magnetnadel ist heftig am Schwanken. Morgen sollten wir die Sonne beobachten. Luntz brummelt irgendetwas. POLLAK: Ihnen brauche ich ja wohl nichts mehr zu sagen, Zhitov, - Sie haben Ihre Arbeit ja offenbar endgültig aufgegeben. Wollen Sie uns verlassen? ZHITOV: Ja, übermorgen. INNA: Wie bitte? Sie wollten doch abwarten, bis Kolja zurück ist! Und jetzt... ZHITOV: Ich kann nicht anders, ich lungere schon viel zu lange hier herum. VERCHOVTZEV: Dann wird es ja noch öder in diesem Kuckucksnest. Hängen Sie es an den Nagel, dieses Neuseeland. ZHITOV: Nein, ich muß weg hier. ANNA: Pollak, Sie arbeiten ja gar nicht - fühlen Sie sich nicht wohl? POLLAK: Heute träume ich, verehrte Anna Sergejevna. Ich habe heute mein 32stes Lebensjahr vollendet... (schaut auf die Uhr) ...und zwar genau in dieser Minute. Ich wurde um 22 Uhr 37 geboren. Nach hiesiger Zeit also um 22 Uhr 16, wenn man die Zeitverschiebung berücksichtigt. VERCHOVTZEV: Gratuliere. POLLAK: Danke. Und aus diesem Grunde gebe ich mich heute ein wenig meinen Träumen hin. In den 32 Jahren habe ich bereits einiges für die Wissenschaft geleistet, und mein Name... aber ich will Sie nicht mit Details langweilen. Jedenfalls erfülle ich nunmehr alle Voraussetzungen für eine Familiengründung. VERCHOVTZEV: Sie wollen doch nicht etwa heiraten? Wollen Sie doch? ZHITOV: Erraten. ich werde heiraten. INNA: Und Sie tun gut daran, mein Lieber! Jetzt müssen Sie nur noch eine finden, die zu Ihnen paßt. POLLAK: Mein Verlobte macht dieses Jahr ihr Diplom. Ihr behagliches Heim, verehrte Inna Alexandrovna, wird mich also schon in Kürze nicht mehr zu seinen Bewohnern zählen dürfen. INNA: Aber das haben Sie ja bisher mit keinem Wort erwähnt! Was sind Sie nur für ein Geheimniskrämer?! PETJA: (scharf) Auch ich werde heiraten. Ich bin nämlich auch schon verlobt - und sie ist wunderschön! POLLAK: Tatsächlich? Nein, Sie scherzen, nicht wahr? INNA: Petja! Petja stimmt ein schallendes Gelächter an und geht auf die Veranda. ANNA: Was ist denn mit dem los? Der ist ja völlig aus dem Häuschen! INNA: Ich weiß es auch nicht. Seit eurer Rückkehr erkenne ich ihn nicht wieder... Iossif Abramitsch, Sie haben doch einen guten Draht zu Petja - was ist bloß mit ihm los? Ich bin ernsthaft beunruhigt. LUNTZ: Er ist wohl auch ein bißchen schwermütig. (murmelt) Das sind die Sterne... POLLAK: Was wollen Sie uns da über die Sterne erzählen, lieber Luntz? LUNTZ: Auch damals leuchteten sie hinter der Wolkendecke, als wir dasaßen, warteten und dachten, dass sie bereits gesiegt haben könnten. Und jetzt leuchten sie auch wieder so... Es ist zum verrückt werden!.. VERCHOVTZEV: Verdammt, ich hätte soviel zu tun, ich sollte eigentlich arbeiten. Stattdessen hänge ich hier in diesem verfluchten Grab rum - Mist! (humpelt durchs Zimmer zum Fenster, schaut eine Weile hinaus und kehrt zurück) Treitsch ist scheinbar von seinem Ausflug zurück. POLLAK: Gefällt mir ausgesprochen gut, dieser Treitsch. Ein seriöser Mensch. TREITSCH: (tritt ein) Guten Abend. (begrüßt alle Anwesenden und nimmt Platz) INNA: Und, haben Sie Neuigkeiten? TREITSCH: Viele Verhaftungen. Dass sie Zanjko gehängt haben, wissen Sie ja wohl bereits? STIMMEN: Was?/Wirklich?/Nein..! VERCHOVTZEV: Das arme Schwein! waren Sie dabei?.. (Treitsch nickt) INNA: Zanjko? Der war doch letztes Jahr mit Kolja hier, nicht wahr? So ein dunkler mit dünnem Schnurrbärtchen... ANNA: Ja, das ist er. INNA: Und er war noch so jung. Er hat mir die Hand geküßt... Fast noch ein Kind! Lebt seine Mutter noch? (Treitsch schüttelt den Kopf) ANNA: Ach Mama!.. Sagen Sie, Treitsch - glauben Sie, dass sie was aus ihm rausgekriegt haben? TREITSCH: Auf keinen Fall. Er ist dem Tod sehr tapfer entgegengetreten, obwohl sie ihn schlimm zugerichtet haben - diese... Verbrecher. Er wollte, dass sein Anwalt bei der Hinrichtung anwesend ist; das ist sein gutes Recht, da er keine Verwandten mehr hat. Sie sagten es ihm zu... und als es dann soweit war, hieß es plötzlich, man habe sich anders entschieden - so dass er in den letzten Minuten vor seinem Tod nur den Henker sah... und die Sterne - die Hinrichtung fand abends statt. LUNTZ: Die Sterne!.. Schweigen. TREITSCH: In Ternach haben die Soldaten fast 200 Arbeiter getötet - darunter viele Frauen und Kinder. Und im Sternberger Bezirk herrscht furchtbare Hungersnot. Es gab sogar Fälle von Leichenverzehrung. VERCHOVTZEV: Das sind ja Hiobsbotschaften! TREITSCH: Ja, und in Polen werden Juden verfolgt. LUNTZ: Was, schon wieder?! POLLAK: Diese Barbaren! Was gibt es nur für primitive Dummköpfe! INNA: Ach, es wird viel geredet. Vielleicht ist es bloß ein Gerücht... Und von Kolja wissen Sie gar nichts? TREITSCH: Zur verabredeten Zeit war niemand am Treffpunkt. Vermutlich haben sie die Sache aufgeschoben... Ich habe mich selbst schon in wilden Spekulationen verstrickt. Morgen fahre ich nochmal hin. ANNA: Und werden auch aufgehängt. Mehr wird dabei nicht rauskommen. Wir sollten lieber abwarten. VERCHOVTZEV: Ich begleite Sie - zum Teufel nochmal! ANNA: Mit diesen Beinen?! Valentin, spiel nicht den Helden! Du bist doch kein Kind mehr! VERCHOVTZEV: Ach was!.. TREITSCH: Wie geht es denn Ihren Beinen, Valentin Alexejevitsch? Verchovtzev winkt ab. ANNA: Schlecht. POLLAK: (zu Zhitov) Ist das nicht höchst erstaunlich? Ein Arbeiter - und so gebildet! sagen Sie selbst. ZHITOV: Mh...ja. POLLAK: Was mir an ihm besonders gefällt, ist seine prägnante Ausdrucksweise. LUNTZ: (schreit) Nun hören Sie sich das an! ANNA: Was schreien Sie hier so rum?!.. Einen so zu erschrecken! LUNTZ: Schon wieder! Schon wieder ermorden sie Väter und Mütter; schon wieder reißen sie Geschwister auseinander. Oh, ich habe es ja geahnt! Ich habe es gefühlt, als ich heute diese verfluchten Sterne beobachtet habe! POLLAK: Lieber Luntz, beruhigen Sie sich. INNA: (zu Treitsch) Warum mußten Sie das auch sagen, Herr Treitsch? LUNTZ: Ich will mich aber nicht beruhigen! Ich war lange genug ruhig. Ich bin ruhig geblieben, als sie meine Mutter, meinen Vater und meine Schwester ermordeten. Ich bin ruhig geblieben, als sie da drüben auf den Barrikaden meine Brüder ermordeten. Oh nein, ich bin lange genug ruhig geblieben! Und... ich bleibe auch jetzt ruhig. Oder bin ich vielleicht nicht ruhig? Treitsch!.. Heißt das, es war alles... umsonst? TREITSCH: Nein, wir werden siegen. LUNTZ: Wissen Sie, ich habe die Wissenschaft geliebt. Ja, Pollak, ich habe sie wirklich geliebt. Ich habe die Wissenschaft schon geliebt, als ich noch ein kleiner Junge war und die anderen kleinen Jungs mich regelmäßig verprügelten. Und während sie mich prügelten, dachte ich immer nur das eine: Wenn du erst erwachsen bist, wirst du ein berühmter Wissenschaftler - und die ganze Familie wird stolz auf dich sein... POLLAK: Das ist sehr bedauerlich, Luntz. Ich habe Sie sehr zu schätzen gelernt... LUNTZ: Selbst als ich am Verhungern war, als ich auf der Straße nach etwas Eßbarem suchte... selbst da dachte ich an die Wissenschaft. Und jetzt... (leise) Jetzt verachte ich sie. (schreit) Ich hasse die Wissenschaft! Sie lügt! Man sollte sie abschaffen! POLLAK: Luntz, Luntz! Es tut mir so leid für Sie... ANNA: Reißen Sie sich zusammen, Luntz! Sie sind ja hysterisch! LUNTZ: Hysterisch! Mir doch egal. Wenn Sie glauben, dass ich hysterisch bin, dann täuschen Sie sich gewaltig! - ich bin völlig gefaßt. Ich werde von hier weggehen. Haben Sie gehört? Ich gehe! TREITSCH: Kommen Sie mit mir. LUNTZ: Ja, ich gehe mit Ihnen. Ich will mit der Wissenschaft nichts mehr zu tun haben. Verfluchte Sterne! Schon wieder!.. Ich höre schon wieder, wie sie da oben schreien! Sie können es nicht hören, aber ich! Sie wollen uns dafür bestrafen, weil wir einen Jesus und einen Marx hervorgebracht haben! Ich sehe sie, sie beobachten mich durchs Fenster, die kalten, verwesten Leichen. Und wenn ich schlafe, beugen sie sich über mich und fragen: "Du willst also Wissenschaftler werden, Luntz?" Nein, nein! INNA: Mein Armer! Gott möge Dir helfen... LUNTZ: Ja, Gott! Ich bin Jude und ich rufe den jüdischen Gott an. Gott der Rache! Herrgott der Rache! Zeige Dich! Wehre Dich! Du Richter der Welt, verurteile die Hochmütigen! Zeige Dich, Gott der Rache! VERCHOVTZEV: Ja, ja - Rache an den Henkern. Luntz droht ihm schweigend mit der Faust und geht ab. POLLAK: Was für ein unglücklicher junger Mann! Es ist schwer für jemanden, der die Wissenschaft liebt und ihr nicht dienen kann. Und dabei hatte ich so gute Laune. ZHITOV: Ja, das ist schwer. Treitsch nimmt Verchovtzev beiseite und erzählt ihm etwas im Flüsterton, wobei er warnend auf Inna zeigt. Nach den ersten Worten legt Verchovtzev seinen Kopf nach hinten und spricht laut. VERCHOVTZEV: Das darf doch nicht wahr sein! Niko... TREITSCH: Psst! Sie flüstern weiter miteinander. POLLAK: Vertrauen auf Gott ist ja im Prinzip richtig, verehrte Inna Alexandrovna, aber nicht auf den Gott der Rache, sondern auf den Gott der Barmherzigkeit und der Liebe. ZHITOV: Na eben, es gibt ja viele Götter. Für jeden ist einer dabei. INNA: Ach Kinder! Mit Euch macht man was durch! TERNOVSKIJ: (tritt ein und begrüßt die Anwesenden) Pollak, Sie hier? POLLAK: Ja, ich habe heute Geburtstag, verehrter Herr Professor. TERNOVSKIJ: Herzlichen Glückwunsch. (schüttelt ihm die Hand) POLLAK: Und ich hatte auch bereits die Ehre, den anwesenden Herrschaften meine Verlobung mit Fanny Erström bekannt zu geben. TERNOVSKIJ: Sie sind ja ein richtiger Glückspilz! POLLAK: Ja, ich werde jetzt gewissermaßen einen Satelliten haben, verehrter Sergej Nikolajitsch. (lacht laut). TERNOVSKIJ: Na, dann nochmals herzlichen Glückwunsch. Aber sagen Sie mal: Bezüglich Nikolaj gibt es immer noch nichts Neues? TREITSCH: Seine Flucht wurde offenbar aufgeschoben. VERCHOVTZEV: Was alles auf der Erde passiert, verehrtester Sternenzähler, wenn Sie wüßten..! TERNOVSKIJ: Was denn? Schon wieder ein Unglück? VERCHOVTZEV: Wie man's nimmt - eitle Sorgen. (indem er seinen Kopf seitwärts neigt) Wenn ich Sie so angucke, dann frage ich mich manchmal: Haben Sie eigentlich Freunde, oder sind Sie ein richtiger... Einzelgänger? TERNOVSKIJ: (zeigt auf Inna Alexandrovna) Sie ist mein Freund. INNA: Sergej, bring mich nicht in Verlegenheit! Findest Du wirklich, dass ich Dein Freund bin? VERCHOVTZEV: Schon gut, lassen wir das mal gelten. Und ansonsten? TERNOVSKIJ: Es gibt noch mehr. Aber stellen Sie sich vor, ich habe sie nie zu Gesicht bekommen. Einer lebt in Südafrika, er hat dort ein Observatorium; ein anderer lebt in Brasilien... und ein Dritter... ich weiß nicht wo. VERCHOVTZEV: Verschollen? TERNOVSKIJ: Er ist gestorben, vor ungefähr anderthalb Jahrhunderten. Aber es gibt da noch einen, den ich überhaupt nicht kenne, obwohl ich ihn sehr gern habe - er ist nämlich noch gar nicht geboren. Er müßte in annähernd 750 Jahren geboren werden, und ich habe ihn bereits mit der Verifizierung einiger meiner Theorien beauftragt. VERCHOVTZEV: Und Sie glauben, er wird den Auftrag ausführen? TERNOVSKIJ: Durchaus. VERCHOVTZEV: Komische Clique! Sie sollten Sie im Museum ausstellen. Oder, Treitsch, meinen Sie nicht auch? TREITSCH: Mir gefallen die Freunde von Herrn Ternovskij. Plötzlich fegt Petja herein und schaut sich um. PETJA: Sind alle hier? Sehr gut. Und wo ist Luntz? INNA: Er ist auf seinem Zimmer, Petja, geh mal hin und rede ein bißchen mit ihm, er ist heute so verwirrt. PETJA: Alle hierbleiben, bitte. Ich bin nämlich gerade dabei, 'ne kleine Party zu veranstalten - heute ist genau der richtige Tag dafür. Bin gleich wieder da. (geht ab) POLLAK: Doch wohl kein Feuerwerk, oder? Ein Hitzkopf, dieser Petja. Aber das wäre ja nun wirklich nicht nötig gewesen - obwohl heute ja tatsächlich ein besonderer Tag ist... Ternovskij geht langsam durchs Zimmer. ANNA: Möchte nicht wissen, was Petja da wieder ausgeheckt hat. VERCHOVTZEV: (geht mit Treitsch zum Tisch) Wieso sagt denn niemand was? Hier herrscht ja eine Grabesstille! TERNOVSKIJ: Finden Sie? Mir schien es hier unten sehr lebhaft zuzugehen. TREITSCH: (zu Verchovtzev) Also abgemacht: Falls ich nicht zurückkommen sollte, sagen Sie ihr, dass... VERCHOVTZEV: Ich weiß schon! Puh! Diese schwüle Hitze! ANNA: Schwül? Ich finde es eher kühl. VERCHOVTZEV: Schwüle - Kühle... Ist doch alles derselbe Mist. Wenn ich das noch eine Woche ertragen muß, dann... POLLAK: Herrschaften, vielleicht bringen wir ja eine mehr oder weniger produktive Diskussion zustande, an der sich alle beteiligen? Als Diskussionsleiter schlage ich... LUNTZ: (tritt ein) Wollte mich jemand sprechen? Haben Sie mich rufen lassen, Herr Professor? TERNOVSKIJ: Nein. LUNTZ: Aber Petja hat mir doch eben gesagt... (will gehen) POLLAK: Setzen Sie sich zu uns, lieber Luntz. Nun, da Sie sich ein wenig beruhigt haben, möchte ich Ihnen sagen, dass ich Ihnen nicht zustimmen kann, bezüglich der Wissenschaft. LUNTZ: Ach, hören Sie auf damit. Sergej Nikolajitsch, ich habe Ihnen etwas mitzuteilen: Ich gebe meine Arbeit im Observatorium auf. PETJA: (hinter der Tür) Pagen, tretet zurück, die Herzogin kommt! POLLAK: (lacht) Also dieser Petja! Ein wahrhaftiger Spaßvogel! Hören Sie sich das an! Die Türen werden weit aufgesperrt. Petja und die Alte treten ein. Sie ist fast im rechten Winkel gebeugt und kommt kaum vorwärts - ein schreckliches Bild der Armut, des Alters und des Elends. Petja hat sie an die Hand genommen und tritt feierlich mit ihr auf, wie in der Oper. An der Tür die lächelnden Gestalten Minnas, Franzens und irgendeines weiteren Bediensteten. Petja ist krank; während der folgenden Szene verschlechtert sich sein Zustand zusehens. PETJA: Gestatten Sie, meine Herrschaften, dass ich vorstelle: Dies ist meine Braut, die holde Sieström. VERCHOVTZEV: (lacht derb) Spinner! ANNA: Ich hab's ja gesagt. POLLAK: (steht auf) Also das geht zu weit. Ich lasse es nicht zu, dass sich jemand über meine Braut lustig macht! PETJA: Holde Sieström, verbeugt Euch vor der Versammlung! Die Alte verbeugt sich. POLLAK: Ich protestiere! Das ist eine Beleidigung! INNA: Er macht nur Spaß. Petetschka, es gehört sich nicht, alte Menschen zu verspotten. LUNTZ: Nein, das ist kein Spaß! Ich verstehe. Oh, ich verstehe! PETJA: So, meine holde Sieström. Jetzt laß uns ein bißchen Konversation betreiben. Wie alt seid Ihr denn eigentlich? (die Alte schüttelt schweigend den Kopf) Siebzehn? Ihr seid also erst siebzehn Jahre alt, bezaubernde Jungfrau? Und Eure Eltern, der Herzog und die Frau Herzogin, sind sie mit der Eheschließung einverstanden? (die Alte schüttelt schweigend den Kopf) POLLAK: Hochverehrter Sergej Nikolajevitsch! Man insultiert mich in Ihrem Haus!.. LUNTZ: (wütend) Was mischen Sie sich da überhaupt ein? Wen interessiert denn ihre idiotische Braut? POLLAK: Herr Luntz! Dafür verlange ich Genugtuung! LUNTZ: Diese verfluchten Sterne! PETJA: Holde Sieström, ich bin ja so glücklich! Riecht Ihr den Rosenduft? Vernehmt Ihr den Gesang der Nachtigall im Garten? Sie singt von unserer Liebe, holde Sieström! LUNTZ: Verfluchte Sterne! PETJA: Dieser Wohlgeruch, der Euren zarten Lippen entströmt! LUNTZ: Ja... ja... PETJA: Eure perlenhaften, schönen Zähne... LUNTZ: Ja... ja... PETJA: Eure zarten, rosigen Wangen! Oh, holde Sieström, ich bin wahnsinnig in Euch verliebt! Warum schlagt Ihr denn Eure bezaubernden Äuglein so bescheiden nieder? LUNTZ: So was Erbärmliches! Schämen Sie sich denn nicht, Pollak?! Wissenschaft! Sehen Sie das hier? Das ist meine Mutter! - jawohl, meine Mutter! POLLAK: Wie bitte?.. PETJA: Liebreizende Sieström, in Eurer Umarmung wird mein pochendes Herz ewige Ruhe finden! (Die Alte schüttelt schweigend den Kopf) ANNA: Man sollte Euch alle ins Irrenhaus stecken! VERCHOVTZEV: (erschrocken) Anna, sei still! POLLAK: Das ist eine solche... LUNTZ: Schweig still, Bourgeois, oder ich werde... Das ist meine Mutter! (zur Alten) Meine Dame! (stößt Petja weg) Hören Sie mir zu, meine Dame. Hier kniee ich vor Ihnen nieder - ein kleiner Jude. Sie sind meine Mutter, und bitte, erlauben Sie mir, Ihnen die Hand zu küssen... PETJA: (zitternd, schreit) Das ist meine Verlobte! LUNTZ: Das ist meine Mutter! Lassen Sie sie... ANNA: Schnell, ein Glas Wasser! LUNTZ: Meine Dame, vergeben Sie mir, ich habe die Wissenschaft wirklich geliebt, ich bin ein dummer, kleiner Jude, ein Saujude! VERCHOVTZEV: Was sollen wir denn bloß machen? TREITSCH: Nichts. LUNTZ: Ich liebe nur Sie, meine Dame. Ich gebe Ihnen mein Herz. Verfluchte Sterne!.. TREITSCH: Luntz, Sie kommen mit mir! PETJA: (zitternd, schreit) Das ist meine Verlobte! INNA: Oh mein Gott, Petjuschka! Ist Dir nicht gut? ANNA: Wasser! LUNTZ: Ja, ich gehe mit Ihnen, ich schwöre es bei Gott!.. VERCHOVTZEV: Ach, halten Sie doch endlich die Klappe! Petja erleidet einen Anfall. Alle, außer Treitsch, stürzen zu ihm hin; Ternovskij macht einen Schritt auf Petja zu, bleibt jedoch stehen und betrachtet Luntz. LUNTZ: Meine Dame, Sie sehen, ich weine. Ich bin ein kleiner Jude, der die Wissenschaft liebt. Sie sind meine Mutter, meine Mutter, und ich schwöre Ihnen bei Gott, ich lege Ihnen mein ganzes Leben zu Füßen... Verfluchte Sterne!..
4. Akt (einige Wochen später)
In der rechten Ecke der Bühne die Kuppel des Observatoriums im Aufschnitt, von der ein Drittel hinter den Kulissen verschwindet. Rings um die Kuppel herum eine Galerie mit gußeisernem, durchsichtigem Gitter. Weiter unten ein Teil des Daches, das an das Hauptgebäude des Observatoriums angrenzt, sowie die Konturen des Gebirges. Alles andere stellt die riesige Ausdehnung des Nachthimmels dar. Sternbilder. Im Innern der Kuppel ist es sehr dunkel. Links sind vage die riesigen Umrisse des Refraktors angedeutet. Zwei Tische, darauf Lampen mit dunklen, undurchsichtigen Schirmen. Das Schiebedach der Kuppel ist geöffnet und durch die Öffnung scheint der Sternenhimmel herein. Die Treppe nach unten ebenfalls im Aufschnitt. Stille, das leise Ticken des Metronoms. Ternovskij, Petja und Pollak.
POLLAK: Es ist soweit, verehrter Sergej Nikolajitsch, ich muß jetzt los. Übrigens, die Tabellen müssen unbedingt noch vervollständigt werden. TERNOVSKIJ: Auf Wiedersehen und alles Gute! POLLAK: Na, junger Priester der Göttin Urania - wie fühlen wir uns denn heute? PETJA: Danke, gut. POLLAK: Und wir werden auch bestimmt den armen Pollak nicht mehr verspotten, der so gerne heiraten möchte? PETJA: Mein Ehrenwort, ich wollte Sie nicht... POLLAK: Ich weiß, ich weiß... TERNOVSKIJ: Sie wissen ja, er war krank. POLLAK: Ich mache doch nur Spaß. Im übrigen sollte ich ihm dankbar sein - habe ich doch zu meinem Erstaunen riesige Vorkommen von Humor bei mir entdeckt. Als Franz zum Beispiel heute Morgen die Milch verschüttete, sagte ich zu ihm: Franz, Sie lassen da eine Milchstraße hinter sich entstehen, - und er hat richtig laut gelacht. (lacht schallend) Aber ich will Sie nicht mit Details langweilen. Auf Wiedersehen. (geht ab) PETJA: Komischer Typ, dieser Pollak. Papa, störe ich Dich, wenn ich ein bißchen hier bei Dir bleibe? TERNOVSKIJ: Aber nein, mein kleiner Freund. PETJA: Unten ist es nämlich so langweilig. Weißt Du was: Zhitov hat uns gestern ein Telegramm aus Kairo geschickt: "Ich sitze hier und beobachte die Pyramiden". Und Du, hast Du schon mal die Pyramiden gesehen? TERNOVSKIJ: Ja, das habe ich. Ich befürchte nur, mein kleiner Freund, dass Mama sich einsam fühlt, da unten allein. PETJA: Die wird jetzt schon schlafen. Und tagsüber bin ich ja meistens bei ihr. Sie muß immerzu an Kolja denken. TERNOVSKIJ: Gibt es denn immer noch nichts Neues? Auch keine Nachricht von Anna? PETJA: Nein, die ist schreibfaul. Und ich habe Mama schon hundertmal erklärt, dass wir nichts Genaues wissen - na ja, mit Frauen kann man eben nicht reden! Aber ich will Dich nicht stören. TERNOVSKIJ: Du störst mich nicht, ich bin nur ein wenig müde. PETJA: Ich werde ein bißchen lesen... (nimmt sich eine Zeitschrift) Weißt Du, was ich gestern in dieser Zeitschrift gelesen habe, Papa? Du sollst eine Wahnsinns-Entdeckung gemacht haben - irgendwelche Nebelflecken..., und da stand auch, dass Du deshalb genauso bedeutend sein sollst, wie dieser... TERNOVSKIJ: Diese Entdeckung, mein kleiner Freund, habe ich schon vor zehn Jahren gemacht. Der astronomische Ruhm kommt immer erst sehr spät - man interessiert sich nur marginal für uns. PETJA: Aber selbst ich wußte nichts davon! TERNOVSKIJ: Wir waren schon immer auf uns allein gestellt, wie damals die ägyptischen Hohepriester, wenn auch gegen unseren Willen. PETJA: Sag mal, Papotschka, als ich krank war, wieso hast Du da mein Bett hier oben aufstellen lassen? Habe ich Dich nicht gestört? TERNOVSKIJ: Weißt Du Petja, ich bin der lächerlichen Überzeugung, dass Krankheit und Leid hier oben nicht existieren können. Hier oben sind nur die Sterne. PETJA: Einmal habe ich Dich nachts beobachtet: Du schautest Dir die Sterne an, und es war totenstill. Da ist mir auf einmal etwas klargeworden... ich weiß nicht was, es war eigentlich auch mehr ein Gefühl... ich kann es nicht erklären - als wären wir völlig allein auf der Welt: Du, die Sterne und ich... oder als ob wir schon gestorben wären. Aber ich hatte keine Angst, im Gegenteil: Es hat mich sogar beruhigt, es war irgendwie gut und richtig. Weißt Du - obwohl ich immer noch nicht begriffen habe, wozu es uns eigentlich gibt, wozu man alt wird und sterben muß..., will ich jetzt unbedingt leben - alles andere ist mir egal... Aber (grinsend) ich will Dich nicht mit Details langweilen! TERNOVSKIJ: (nachdenklich) Ja, der Mensch denkt nur an sein Leben und an seinen Tod - deshalb ist das Leben auch so anstrengend und so langweilig; wie für einen Floh, der sich in ein Grab verirrt hat... Und um diese unerträgliche Leere auszufüllen, bedient man sich einer Vielzahl von Strategien - tut schöne und starke Dinge. Aber auch diese Dinge beinhalten lediglich Leben und Tod, und so wächst die Angst. Ohne es zu merken, wird man immer mehr zum Betreiber eines Wachsfigurenkabinetts - ja, zum Betreiber eines Wachsfigurenkabinetts. Tagsüber verplempert man seine Zeit mit den Besuchern, kassiert ihr Geld ein, und nachts ist man einsam, streift voller Entsetzen zwischen den seelenlosen, toten Gestalten umher. Wenn der Mensch doch nur begreifen würde, dass das Leben überall ist! PETJA: Weißt Du, wovor ich zum ersten Mal richtig Angst hatte? Es war ein Stuhl, er stand in einem leeren Zimmer, ein simpler Stuhl... ich sah ihn an, und plötzlich hatte ich solche Angst, dass ich anfing zu schreien. TERNOVSKIJ: Das Denken des Menschen ist aus den Vögeln geboren, aus den mächtigen, freien Herrschern des Raums. Aber der Mensch hat seinem Denken die Flügel gestutzt und es dann in einen Käfig gesperrt, einen Käfig des Betrugs und der Heuchelei, durch dessen Drahtgitter hindurch es den Himmel sieht. Der Himmel lockt und reizt das Denken; das macht es aggressiv und es fängt an, sich mit den anderen Vögeln zu streiten - so stumpft es allmählich ab und verblödet - anstatt zu fliegen. (sie schauen sich an) Ja, alles lebt. Und erst, wenn der Mensch das begriffen hat, kann er das Leben genießen - so wie die alten Griechen oder die Heiden. Dann wird es wieder Nymphen geben, und Elfen werden im Mondlicht baden. Dann wird der Mensch wieder in den Wald gehen und sich mit Bäumen und Blumen unterhalten. Er wird nie wieder einsam sein, denn alles lebt: Metall, Stein, Holz... PETJA: Du bist schon ein komischer Typ, Papa. TERNOVSKIJ: Ja? Findest Du? PETJA: Ja, Du bist auch immer so höflich, selbst zu den Stühlen! Im Ernst, Du bist höflich zu Gegenständen. Wenn Du etwas in die Hand nimmst, dann machst Du das irgendwie höflich. Ich kann's nicht erklären, aber es ist so. Du bist so zerstreut... und dabei bewegst Du dich so geschickt, dass Du nie etwas anstößt, irgendwas umrennst oder was fallenläßt. Angenommen die Stühle, Schränke und Gläser würden sich nachts treffen und sich unterhalten, so wie bei Andersen, dann würden sie Dich wahrscheinlich die ganze Zeit in den Himmel loben. TERNOVSKIJ: Meinst Du wirklich? Das gefällt mir, dass die Stühle sich unterhalten. PETJA: Warum nicht, wenn Du nicht da bist?! Vielleicht singen sie ja sogar. TERNOVSKIJ: Sie singen sogar, wenn ich hier bin. PETJA: Und das Fernrohr singt den Baß, oder wie? TERNOVSKIJ: Und Du, mein Junge?, hörst Du, wie die Sterne singen? PETJA: Nein. TERNOVSKIJ: Aber sie tun es, und ihr Gesang ist so geheimnisvoll wie die Ewigkeit. Wer auch nur ein einziges Mal ihre Stimme hört, wie sie aus der Tiefe des unendliches Raumes kommt, der wird ein Sohn der Ewigkeit! Sohn der Ewigkeit! - Ja Petja, so wird der Mensch irgendwann einmal heißen. PETJA: (lacht) Sei mir nicht böse, Papotschka, aber sag: Ist Pollak auch ein Sohn der Ewigkeit? TERNOVSKIJ: Wer weiß. PETJA: Aber das ist doch ein aalglatter Spießer... Na ja, ich werde dann jedenfalls keiner. (Pause) Eine Luft ist das hier!.. Denkst Du immer noch darüber nach? TERNOVSKIJ: Ja. PETJA: Mir ist das zu anstrengend. Schweigen. Petja liest. PETJA: Heute vor drei Wochen hat Luntz uns verlassen - auf den Tag genau. TERNOVSKIJ: Ja? Schweigen. Petja liest. Ternovskij kann sich langsam von seiner Grübelei lösen und wendet sich wieder seiner Arbeit zu. PETJA: Die ersten Nächte, als ich dieses hohe Fieber hatte, war mir der Refraktor irgendwie unheimlich. Ich weiß nicht, er sah aus wie ein riesiges schwarzes Auge... mit Mantel und Knitterfalten... Schweigen. Ternovskij legt seine Arbeit beiseite und denkt, das Kinn auf die Hand gestützt, nach. TERNOVSKIJ: Wußtest Du eigentlich, dass Tycho Brahe, der berühmte dänische Astronom, Gedichte auf eines seiner Instrumente geschrieben hat? Es war das parallaktische Lineal, das sogenannte Triquetrum, das Kopernikus aus drei schlichten Holzstäben hergestellt hatte und Tycho Brahe hinterlassen hat - ein extrem schlechtes Instrument, selbst die Araber hatten bessere - aber... willst Du mal eins hören? (Petja nickt) Paß auf:
"Jener, der zur Sonne sprach: "Komm vom Himmel, stell dich mir!" Der die Erde auf den Himmel Und den Mond zur Erde warf, Alles auf den Kopf gestellt, Die heile Ordnung dort und hier, Doch nichts ist anders als es darf Nichts anulliert, zerrissen in der Welt, Indes viel klarer nun stellt er sie vor, Die Welt, die doch so wohl bekannt, Uns immer schon vor Augen stand, Kopernikus heißt dieser Mann, Der all das jetzt erklären kann. Mit jenen Stäbchen, die ein Baum verlor - Zu einem Instrument gesteckt, Mit dem er dann so kühnen Streich hat ausgeheckt: Dem ganzen Himmelsraum Gesetz aufzuerlegen, Das selbst den Hub der Meere nun erhellt, All dies: drei schnöden Hölzchen unterstellt; Selbst zu den Göttern drang er vor, Wohin uns Sterblichen der Weg zuvor Verboten war vom Tag der Schöpfung an. Welch Hindernisse der Verstand doch überwinden kann!.."
Unten erklingt plötzlich Musik - etwas unmotivierte und traurige Akkorde: "Sitz' hier hinter Gittern im feuchten Kerker - ein Adlerjunges, geboren in Freiheit..." PETJA: (fährt hoch) Was ist das für Musik? Da ist doch nur Mama! Wer kann das sein? TERNOVSKIJ: (sich umdrehend) Klingt nach Marusja. PETJA: (schreit) Marusja ist wieder da! (rennt die Treppe runter) TERNOVSKIJ: Welch Hindernisse der Verstand doch überwinden kann!.. Längeres Schweigen. Auf der Treppe erscheinen Petja und Marusja. Petja weint, das Schluchzen unterdrückend. MARUSJA: Was weinst Du denn, Du brauchst doch nicht zu weinen. Geh runter zu Mama, sie ist ganz allein. Du bist doch ein Mann, Du mußt sie trösten. PETJA: Und Du? MARUSJA: Mir geht's gut. (küßt ihn auf den Kopf) Na los!.. (sie gehen in verschiedene Richtungen) TERNOVSKIJ: Marusja, meine Liebe! Ich bin froh, dass Du wieder da bist. Du wirst es ja vielleicht nicht glauben, dass ich zu fühlen vermag, aber ich habe den ganzen Tag gefühlt, dass Du heute zurückkommen würdest. MARUSJA: Guten Tag, Sergej Nikolajitsch, Sie arbeiten? TERNOVSKIJ: Was ist mit Nikolaj? Hat die Flucht geklappt? MARUSJA: Ja, aus dem Gefängnis ist er entflohen. TERNOVSKIJ: Ist er hier? MARUSJA: Nein TERNOVSKIJ: Aber er ist doch jetzt in Sicherheit? MARUSJA: Ja. TERNOVSKIJ: Arme Marusja! Du bist sicher totmüde. Ich denke heute schon den ganzen Tag an Dich und an ihn... Ich bin sehr froh! Erlaube mir, Deine Hand zu küssen - Deine zarte Hand, die so unermüdlich an den eisernen Schlössern und Ketten gerüttelt hat. (küßt zeremoniell ihre Hand) Setz Dich doch, erzähl, was passiert ist! MARUSJA: (zeigt hinüber zur Galerie) Gehen wir da rüber. TERNOVSKIJ: Ich bin tatsächlich sehr froh. Ich nehme einen Stuhl für Dich mit - Du mußt ja wirklich totmüde sein, Marusja. Sie gehen hinüber. TERNOVSKIJ: Also, dann setz Dich mal. Ist es auch bequem so? MARUSJA: Ja, sehr. TERNOVSKIJ: Ich sitze hier manchmal mit Petja. Er ist so ein lieber Junge! In letzter Zeit erinnert er mich an Nikolaj... MARUSJA: Ja. TERNOVSKIJ: Aber Petja hat so viel Weibliches, Schwächliches, zuweilen mache ich mir richtige Sorgen um ihn. Nikolaj dagegen ist ein energischer, mutiger Mensch. Alles an ihm ist so harmonisch und ideal, so fein und stark! Er ist das herrliche Sinnbild eines tapferen Mannes; eine seltene, schöne Form, die die Natur zerschlägt, damit es keine Wiederholungen gibt. MARUSJA: Ja, sie muß zerschlagen werden. Ich wollte Dir sagen... TERNOVSKIJ: Gefängnis! Was ist denn schon ein Gefängnis für meinen Kolja? Ein paar rostige Schlösser, ein paar morsche Gitterstäbe. Überhaupt erstaunlich, dass sie ihn so lange dort festhalten konnten: Sie hätten ihm längst freies Geleit geben müssen - freundlich lächelnd, wie einem jungen Prinzen! MARUSJA: (fällt vor Kummer auf die Knie) Vater, Vater, es ist so schrecklich! TERNOVSKIJ: Marusja, was ist los? MARUSJA: Zerschlagen ist die herrliche Form! Vater, sie ist zerschlagen, die herrliche Form - zerschlagen! TERNOVSKIJ:Ist er tot?! Sag schon! MARUSJA: Er... er hat den Verstand verloren. Schweigen MARUSJA: (springt auf) Ich verstehe das nicht! Wo ist Gott? Warum läßt er das zu? Wo hat er seine Augen? Verfluchter Gott! Wozu leben wir überhaupt, wenn die besten Menschen zugrunde gehen, wenn die herrlichsten Formen zerschlagen werden? Verstehst Du das? Hat das Leben denn gar keinen Sinn? TERNOVSKIJ: Erzähl mir, was passiert ist. MARUSJA: Wozu? Wie kann man etwas erzählen, das man nicht versteht? Gibt es da überhaupt irgendetwas zu verstehen? TERNOVSKIJ: Erzähl es mir. MARUSJA: Er war mein Ideal, meine Sonne... Als diese Schweine ihn ins Gefängnis warfen, dachte ich: Jetzt werden sich alle, die ihn lieben, zusammentun und das Gefängnis stürmen - doch ich habe mich getäuscht... TERNOVSKIJ: Wie ist es passiert? MARUSJA: Wie erlischt ein Stern? Wie stirbt ein Vogel im Käfig? Er hörte auf zu singen, wurde blaß und traurig, - und versuchte die ganze Zeit, mich zu beruhigen. Einmal nur sagte er: Ich begreife diese eisernen Gitter nicht. Was hat das bloß zu bedeuten? Sie stehen zwischen mir und dem Himmel. TERNOVSKIJ: Zwischen mir und dem Himmel! MARUSJA: Ja, und dann wurden sie zusammengeschlagen. Es gab einen Gefangenenaufstand. Die Wärter stürmten die Zellen und prügelten einfach drauf los - auf jeden einzelnen. Sie schlugen blind drauflos, mit Händen und Füßen, traten sie in den Zellen zusammen und verstümmelten ihre Gesichter. Sie prügelten so lange und so grausam auf sie ein, - diese stumpfsinnigen, kalten Tiere! Auch Deinen Sohn haben sie nicht verschont. Als ich ihn sehen durfte, war sein Gesicht völlig entstellt. Dieses liebevolle, schöne Gesicht, das immer der ganzen Welt zulächelte! Sämtliche Zähne hatten sie ihm ausgeschlagen; seine Lippen, über die niemals eine Lüge kam, hingen nur noch als Fetzen vom Mund herunter; und seine Augen, die immer nur das Schöne sahen, waren über und über mit dunkelblauen Eiterbeulen zugequollen. Verstehst Du das, Vater? Kannst Du mir das erklären? TERNOVSKIJ: Sprich weiter. MARUSJA: Er hat niemandem irgendwelche Vorwürfe gemacht, im Gegenteil: er hat sogar noch die Gefängniswärter verteidigt - seine eigenen Mörder. Doch in seinen Augen breitete sich eine finstere, bittere Traurigkeit aus. Sein Herz war am verbluten... Und trotzdem versuchte er, mich zu trösten, mich aufzuheitern. Nur einmal sagte er, dass er das Gefühl habe, die Trauer der ganzen Welt in seinem Herzen zu tragen... TERNOVSKIJ: Weiter. MARUSJA: Es ging alles sehr schnell: Erst konnte er sich an nichts mehr erinnern und dann hörte er auf zu sprechen. Schweigend kam er zu mir heraus, schweigend saß er vor mir, bis die Besuchszeiten zuende waren, und schweigend ließ er sich wieder in die Zelle führen. Seine Augen waren so groß und so schwarz, als offenbare sich in ihnen die Trauer der ganzen Welt - und dabei waren sie so schön, ich habe soetwas nie zuvor gesehen, Vater! Als ich ihn heute Morgen besuchen wollte, lag er schon im Krankenhaus. Er wollte sich gestern von der Treppe in den Hof stürzen, aber jemand hielt ihn zurück. Dann verlor er den Verstand... Sie steckten ihn in eine Zwangsjacke - das ist alles. TERNOVSKIJ: Ja, sie haben schon immer ihre Propheten verstümmelt. MARUSJA: Aber wie kann man denn mit Wesen zusammenleben, die ihre eigenen Propheten verstümmeln? Was soll ich denn jetzt machen? Wo soll ich hin? TERNOVSKIJ: Weiß es Inna schon? MARUSJA: Ja. TERNOVSKIJ: Was sagen die Ärzte? MARUSJA: Die Ärzte? Ein Idiot - sagen sie. TERNOVSKIJ: Nikolaj - ein Idiot? MARUSJA: Ja, aber er hat eine hohe Lebenserwartung. Ihm wird jetzt alles egal sein, er wird viel trinken und essen, er wird fett werden aber er wird lange leben. Er wird glücklich sein. TERNOVSKIJ: Nikolaj - geisteskrank. Es ist so schwer, sich das klar zu machen. Dieser wundervolle Mensch, dieser harmonische, helle Geist - versunken in die Finsternis, in ein langweiliges, armseliges, kläglich hindämmerndes Chaos. Sieht er immer noch so schlimm aus? MARUSJA: (verbittert) Ja, er ist entstellt. Das macht Dir doch nichts aus, oder? TERNOVSKIJ: Ich bin froh, dass Du so gefaßt bist... hätte nicht gedacht, dass Du so stark sein kannst. MARUSJA: Seit vier Wochen ertrage ich diese Qual, Tag und Nacht. Ich habe mich daran gewöhnt. Was ist Gewöhnung, Vater? Ist das nicht auch eine Art von Geisteskrankheit? TERNOVSKIJ: Was wirst Du jetzt tun? MARUSJA: Ich weiß es nicht, ich habe noch nicht darüber nachgedacht - es wäre doch wohl auch pietätlos, am frischen Grab über ein neues Leben nachzudenken, oder? Selbst ein Hund braucht Zeit, um sich an den Verlust seines Herrchens zu gewöhnen. TERNOVSKIJ: Um Nikolaj werde ich mich kümmern - Du gehst besser nicht mehr zu ihm. Du solltest ihn überhaupt nicht mehr sehen. MARUSJA: Aber ich werde es trotzdem tun. TERNOVSKIJ: Damit quälst Du Dich nur selbst. Es ist dasselbe, als würde man eine Leiche in seiner Wohnung aufbewahren - Leichen müssen verbrannt werden. MARUSJA: Das ist mir egal. Ich würde seine Leiche in meiner Wohnung aufbewahren. TERNOVSKIJ: Wozu? MARUSJA: Wozu! Kennst Du die holde Sieström? Ich werde sie bei mir aufnehmen. TERNOVSKIJ: Weshalb? MARUSJA: Aus Rache. TERNOVSKIJ: An wem willst Du Dich denn rächen? MARUSJA: Ich weiß nicht... Vielleicht an Dir. TERNOVSKIJ: An mir? MARUSJA: Ja, und ich weiß jetzt auch, was ich tun werde: Ich werde eine Stadt gründen und alle Alten und Armseligen, wie die holde Sieström, alle Verkrüppelten, alle Wahnsinnigen und Blinden in ihr ansiedeln. Es wird dort Taubstumme geben und Geisteskranke, es wird dort Menschen geben, die von Krebsgeschwüren zerfressen und mit Lähmung geschlagen sind. Es wird dort Totschläger geben... TERNOVSKIJ: Du tust mir so leid, Marusja. MARUSJA: Es wird dort Verräter geben, Lügner und Wesen, die wie Menschen aussehen, aber schrecklicher als Tiere sind. Und die Häuser werden genauso aussehen, wie ihre Bewohner: schief, buckelig, blind, beulenverpestet - Mörderhäuser, Verräterhäuser. Sie werden über denen zusammenstürzen, die sich in ihnen eingenistet haben; sie werden sie belügen und unterdrücken, ganz sachte. Und wir werden pausenlos von Mord, Hunger und Tränen umgeben sein. Zum Stadthalter werde ich Judas ernennen, und ich werde die Stadt "Hinauf zu den Sternen!" nennen. TERNOVSKIJ: Meine arme Marusja, Du tust mir so leid. MARUSJA: Dein Sohn sollte Dir leid tun! TERNOVSKIJ: Ich habe keine Kinder. Für mich sind alle Menschen gleich. MARUSJA: Das ist abartig! Ich verstehe Dich nicht. TERNOVSKIJ: Das kommt daher, dass ich versuche, alle Dimensionen des Denkens zu berücksichtigen: die Vergangenheit, die Zukunft, die Erde... und auch die Sterne über all dem. Im Nebel der Vergangenheit und hinter dem Schleier der Zukunft sehe ich Myriaden von Ermordeten; ich sehe den Kosmos und ich sehe überall das feierlich überschäumende Leben - aber ich kann deshalb nicht weinen. Auf der Treppe erscheinen Petja und Inna, die Mühe hat zu gehen, und von Petja gestützt wird. Langsam durchschreiten sie die Kuppel. INNA: (stürzt auf ihren Mann zu) Kolja! Unser Koljuschka! PETJA: Mamotschka, Mamotschka! Nicht weinen. INNA: Koljuschka! TERNOVSKIJ: (hilft ihr, sich in einen Stuhl zu setzen, richtet sich auf und schreit) Sie haben uns unseren Kolja genommen! Diese Wahnsinnigen! Diese Blinden! Sie haben ihre eigene Hand gegen sich erhoben! Und wenn die Sonne tiefer hinge, dann würden sie sogar die Sonne auslöschen, um in kalter Finsternis zu verrecken. Sie haben uns unseren Sohn genommen! Sie haben uns unser Licht genommen! (stampft mit dem Fuß auf) Petja und Marusja knieen weinend nieder und liebkosen Inna. Ternovskij geht einige Schritte weg und kommt dann zurück. MARUSJA: Es tut mir leid, Vater... Ich wollte nicht... TERNOVSKIJ: Ihr müßt nicht weinen. Wir haben unseren Verstand, wir können denken... Was ist mit meinem Verstand?!.. Verdammt, ich bin schon zu alt! INNA: Mein Sohn! TERNOVSKIJ: Aber das macht nichts. Das Leben ist überall. Jetzt, in diesem Augenblick, ja, genau in diesem Augenblick wird irgendwo auf der Welt jemand geboren, der genauso gut ist wie Nikolaj - besser als er... die Natur wiederholt sich nicht. MARUSJA: Um wahnsinnig zu werden? Um abgeschlachtet zu werden? Wird er geboren, damit seine Mutter um ihn weint wie sie? Ist es das, was Du sagen willst? TERNOVSKIJ: Seine Mutter? Aber ja, natürlich wird er zugrunde gehen. Das Leben ist wie ein Gärtner - die schönsten Blüten schneidet es ab, aber die ganze Welt ist durchdrungen von ihrem herrlichen Duft. Schau hinaus, in diesen grenzenlosen Raum, in diesen unermeßlichen Ozean schöpferischer Kräfte! Könntest Du hindurchhören, durch die Unendlichkeit, oder könntest Du durch die Ewigkeit hindurchsehen... Du würdest wahrscheinlich sterben - entweder vor Entsetzen oder vor Begeisterung! In glühender Raserei jagen sie durch den Raum, die unendlichen Welten, die den eisernen Gesetzen der Schwerkraft gehorchen, - und über all dem herrscht ein mächtiger, ein unsterblicher Geist! MARUSJA: (sich erhebend) Jetzt komm mir bloß nicht mit dem lieben Gott! TERNOVSKIJ: Nein, ich rede von einem Wesen, das ebenso denkt, leidet und sucht wie wir. Ich kenne es nicht, aber ich liebe es. In dem Augenblick, als beim zufälligen Zusammentreffen zweier undefinierbarer Kräfte das erste Leben entstand - das kleine, winzige Leben einer Amöbe, eines Protoplasmas -, schon in diesem Augenblick hatten alle diese funkelnden Giganten ihren Meister gefunden. Ich rede von einem Wesen, das in uns ist - in unserem Geist, in unserer Seele, in unseren Körpern, in unseren... MARUSJA: Aber es macht sich über uns lustig und es ist... faul! TERNOVSKIJ: Nein, meine Liebe: Es tut das, was wir wollen. Wenn wir es rufen, wird es kommen. Wenn wir es wollen, wird sein zuckendes Geheimnis aus dem tiefsten Höllenschlund hervorkriechen. Es wird sich vor Wut und Angst in furchtbaren Qualen winden, es wird uns mit gespaltener Zunge drohen und mit blinden Augen zuzwinkern - eine armselige, elende, erbärmliche Kreatur, nichts weiter. Und dann werden wir triumphieren und es ansprechen - durch die Ewigkeit und durch die Unendlichkeit hindurch werden wir sagen: Guten Tag, Sohn der Ewigkeit! Einen schönen Tag auch, mein unbekannter und ferner Freund! Wie geht's denn so?.. MARUSJA: Und was ist mit dem Tod? Was ist mit dem Wahnsinn und dem unvorstellbaren Leid der Sklaven? Nein, ich will mich nicht von der Erde lösen, obwohl sie so unglücklich ist... obwohl sie so grausam ist, - ich bin hier geboren; die Leiden der Erde fließen in meinem Blut. Die Sterne, der Kosmos und all das ist mir fremd; ich weiß nicht, was für Kreaturen dort existieren, und ich will es auch nicht wissen; denn: Meine Seele fällt immer wieder auf die Erde zurück, wie ein angeschossener Vogel... TERNOVSKIJ: Der Tod existiert nicht. MARUSJA: Und Nikolaj? Was ist mit Deinem Sohn? TERNOVSKIJ: Er ist in Dir, er ist in Petja, er ist in mir - er ist in all denen, die den süßen Duft seiner Seele heiligen. Ist Giordano Bruno tot? MARUSJA: Giordano Bruno war berühmt. TERNOVSKIJ: Sterben tun lediglich Tiere - Wesen, die keine Persönlichkeit besitzen. Sterben tut nur der, der tötet. Die aber, die getötet werden, die zerfleischt oder verbrannt werden, - die leben ewig. Für einen Menschen gibt es keinen Tod, für einen Sohn der Ewigkeit gibt es keinen Tod. INNA: Koljuschka! Koljuschka! TERNOVSKIJ: In den Tempeln der Antike wurde ein ewiges Feuer entfacht. Seine Flammen verzehrten das Holz und tranken das Öl, aber das Feuer brannte ewig. Spürst Du es denn nicht - hier, überall? Fühlst Du denn seine reine Flamme nicht in Dir selbst? Wer hat Dir diese zarte Seele gegeben? Wessen, aus der sterblichen Hülle entronnener Geist lebt in Dir? - Willst Du etwa behaupten, dass es Dein Geist ist? Deine Seele ist nichts weiter als der Altar, auf dem der Sohn der Ewigkeit seinen Dienst verrichtet! MARUSJA: Ich werde leben. TERNOVSKIJ: Tu das! Und gib Deinem Leben zurück, was Du ihm genommen hast. Gib der Sonne ihre Wärme zurück! Du wirst zugrunde gehen, wie Nikolaj zugrunde gegangen ist und wie all diejenigen zugrunde gehen, denen es beschieden ist, mit ihrer Seele, einer unermeßlich glücklichen Seele, das ewige Feuer zu erhalten. Aber durch Deinen Untergang erlangst Du Unsterblichkeit. Hinauf zu den Sternen! PETJA: Vater, Du weinst. Komm, gib mir Deine Hand, ich möchte sie küssen. INNA: Sergej, bitte... weine nicht. Irgendwie werden wir schon darüber hinwegkommen... VORHANG
Übersetzung: Frank Jankowski
* 1905: In Petersburg schießt am "Blutigen Sonntag" das zaristische Militär einen Petitionszug des Priesters Gapon zusammen; daraufhin Streiks und Revolten in ganz Rußland, Meuterei in Odessa (Panzerkreuzer Potjomkin), Kronstadt-Massaker etc.
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