George Martin
"Summer
of love"
MacMillan,
London 1994.
Übersetzung
von Frank Jankowski
5. Kapitel:
"There, beneath the blue suburban skies..."
Wir hörten alle
Sleepy John Estes in der Kunsthochschule...
- John Lennon Remembered
Als die Beatles anfingen,
Sgt. Pepper aufzunehmen, hatten sie die frühen Vorbilder, die ihnen
geholfen hatten, zu ihrem Musikstil zu finden, mittlerweile aufgearbeitet
und bis zu einem gewissen Grad auch verarbeitet. Dennoch waren diese Einflüsse
auch weiterhin wichtig: In ihrer Funktion als eine Art musikalische Höhensonne.
Sie sind zahlreich und unterschiedlich vertreten, und über einige
von ihnen wurde bereits ausführlich geschrieben.
Der Einfluß von Bob Dylan zum Beispiel ist unübersehbar: 'Subterranean
Homesick Blues' der im April 1965 herauskam, war mit Sicherheit kein Song
über eine hirnlose Teenager-Verliebtheit; der kettensägenartige
Text und der atemberaubende Film dieses 'unterirdischen Heimweh-Blues'
hinterließen tiefgründige Spuren in der Popwelt, und nicht
zuletzt auch in der Arbeit der Beatles. Aber es gibt einen Einfluß,
der noch nicht so häufig durchgekaut wurde, und das ist der Blues.
Die Bluesmusik ist
der wahre Ursprung des Rock 'n' Roll. Man kann den Blues so weit zurückverfolgen
wie es einem beliebt, bis zum akustischen Down-Home/Country-Blues des
tiefen Südens der USA, zum Field Holler, dem schlichten, traurigen
Feld-und Wiesen-Liedchen, oder, wenn man möchte, auch noch weiter.
Man würde vermutlich irgendwann in Westafrika landen beziehungsweise
auf den Sklavenschiffen, einige hundert Jahre vor unserer Zeit, bei den
Gefangenen, die singend ihre höllischen Lebensbedingungen beklagten.
Der Begriff 'Blues' beinhaltet ein weites Feld unterschiedlichster Musikrichtungen.
Das ist ein heißes Eisen, aber ich will es anfassen - auch auf die
Gefahr hin, mich zu verbrennen.
Während der 'Großen Depression' der frühen 1930er Jahre
überschlugen sich die Wellen verelendeter, arbeitsloser schwarzer
Immigranten, die vom Süden der Vereinigten Staaten in die närdlichen
Städte aufbrachen, genauer gesagt nach New York, Detroit und Chicago.
Diese pilzartig sich ausbreitenden Konglomerate erwiesen sich als fruchtbarer
Nährboden für die Musik der Unterdrückung. Die Countryblues-Musiker,
die Teil dieser Massenbewegung waren, erfanden ziemlich bald die elektrische
Gitarre und gestalteten die alte Countryblues-Tradition zu etwas vällig
anderem um. Einige nannten diesen neuen Musikstil den 'Städtischen
Elektrik- Blues' ('urban electric blues'). Für moderne weiße
Künstler wie die Beatles war es diese spätere Version der Bluesmusik,
von der sie sich inspirieren ließen.
Eine Vielzahl weißer Künstler, wie etwa die Rolling Stones
oder die Yardbirds, übernahm diesen elektrifizierten zwölftaktigen
Blues en gros und formten ihn für ein neues, meistenteils weißes
Publikum um - für ein Publikum, dem die ursprüngliche Musik
vollkommen gleichgültig war.* Elvis Presley startete seine Karriere
auf diese Weise, und auch Jimi Hendrix. Die Beatles bedienten sich des
Zwölftakt-Blues', aber man wird nur wenige Beatles-Kompositionen
finden, die den Zwölftakt-Blues zur Grundlage haben. Der 1964 von
den Beatles aufgenommene Song 'Matchbox' ist ein gutes Beispiel, in dem
diese Technik Verwendung fand. Sie wurde erstmals 1927 von Blind Lemon
Jefferson, einem der Blues-Paten, aufgezeichnet. 'Can't Buy Me Love' (1964)
sowie ein paar weitere frühe Beatles-Kompositionen verdanken ihre
Struktur der zwölftaktigen Form. Alles in allem nutzten die Beatles
die Ausdrucksform des Blues - die Poetik dieser Musik, deren Seele - und
machten sie sich zueigen.
Man sagt, Liverpool sei die Quelle der neuen Musik gewesen, die England
in den Sechzigern erschütterte, weil die Stadt einer der größten
britischen Atlantikhäfen war. Sämtliche Schallplatten oder sonstigen
Musikerzeugnisse, die via Schiff aus den Vereinigten Staaten importiert
wurden, kamen zuerst nach Merseyside. Insofern kann man die Spuren heutzutage
beliebter Blues-, Country- und Westernmusik von Merseyside bis zurück
auf die Baumwollschiffe verfolgen, die während des neunzehnten Jahrhunderts
und bis in unsere Zeit zwischen den Häfen der amerikanischen Südstaaten
(wie beispielsweise New Orleans) und Liverpool verkehrten. Die meisten
Baumwollspinnereien befanden sich in Lancashire; es machte also durchaus
sehr viel Sinn, die Rohbaumwolle über Liverpool einzuführen.
Vielleicht ist es ja Känig Baumwolle, dem wir einen Teil des Dankes
für die wertvolle und vielfältige Musik der Beatles schulden.
Es könnte allerdings auch einen anderen, moderneren Grund geben,
warum John Lennon in den fünfziger Jahren Sleepy John Estes in einer
Liverpooler Kunsthochschule gehört hatte. Ich würde eine stattliche
Summe darauf verwetten, daß Sleepy John Estes zu dieser Zeit tatsächlich
nirgendwo sonst in England gehört wurde. Sein Name ist auch heute
nicht gerade in aller Munde.
Während des Zweiten Weltkriegs wurde unser Land von den Atlantik-Konvois
mit dringend benötigten Hilfsgütern und Truppenverbänden
aus den USA beliefert, die zur nächstgelegenen Landemöglichkeit
an der Nordwestküste Englands transportiert wurden: Abermals Liverpool.
Die Konvois mußten den Hafen so schnell wie möglich erreichen.
Der fürchterliche Tribut an Schiffen und Menschenleben, den das Wolfsrudel
deutscher U-Boote einforderte, machte den Doppelturm des Liver-Buildings
zum süßesten Gegenstand, den ein alliierter Seemann erblicken
konnte.
Es waren allerdings nicht nur Schiffe, die eine sichere Anlegestelle brauchten:
auch die Flugzeugpiloten waren heilfroh, festen Boden unter die Füße
zu bekommen, nachdem sie fünftausend Kilometer über das Meer
geflogen waren. Und Tausende von ihnen flogen einen Luftwaffenstützpunkt
an, der nur wenige Kilometer nordwestlich von Liverpool gelegen war: Royal
Air Force (RAF) Burtonwood. Die Fläche dieses Geländes dehnte
sich während der ersten Kriegsmonate unglaublich schnell aus, schließlich
beheimatete es nicht weniger als 18.000 US-amerikanische Militärpersonen
- es war der größte Einzelstützpunkt der britischen US-Streitkräfte
im Zweiten Weltkrieg. RAF Burtonwood war dermaßen groß, daß
es unter der Bezeichnung 'Klein Amerika' bekannt wurde. Klein Amerika
war der Haupteingang für alles, was im europäischen Kriegsdrama
irgend etwas mit der US Air Force zu tun hatte: Bomben, Raketen, Flugzeugersatzteile,
Fahrzeuge, Männer und Frauen - alles passierte diese Institution,
so auch die eigentlichen Kampfflugzeuge: B-24 Liberators, B-17 Superfortresses,
P-51 Mustangs, P-38 Lightnings... Billy Graham betete dort, Vera Lynn
sang dort ihre moralaufbauenden Lieder, und General Dwight D. Eisenhower
klügelte dort seinen Invasionsplan für den D-Day aus.
Der Stützpunkt diente der gesamten Achten US-amerikanischen Luftwaffendivision
während des Kriegs als Basis und ab 1944 auch der Neunten Division.
Es war das, was man eine großangelegte Operation nennen könnte.
Tausende von GIs, weiße und schwarze (äoverpaid, oversexed
and over hereä -ägeldversessen, sexversessen und ihren Arsch
hier plattgesessenä), wurden 1944, während der Warmlaufphase
zur D-Day-Landung, durch die Liverpooler Hafendocks geschleust.
Stellt sich die Frage, was das alles mit der Musik der Beatles zu tun
hat? Nun ja, wo es US-Luftwaffenstützpunkte oder US-Armeekasernen
gab, da gab es auch amerikanische Soldaten, die amerikanische Musik hörten.
Und viele dieser Leute waren schwarz. Mit ihnen kam auch ihre Kultur ins
Land - und ihre Lieblingsschallplatten -, und beides wurde direkt unter
das Liverpooler Volk gebracht.
Die amerikanischen Truppen mischten sich gerne unters Volk, wenn sie abends
in der Merseygegend einen draufmachen wollten; und Liverpool mit seinen
Hafenanlagen übte eine starke magnetische Anziehungskraft auf sie
aus.
Umgekehrt übte 'Klein Amerika' auch eine starke magnetische Anziehungskraft
auf die lokale Bevälkerung aus, in erster Linie auf Frauen im Alter
zwischen fünfzehn und dreißig. Ganze Schwärme strömten
von überall her dorthin; nicht bloß aus den umliegenden Gegenden,
wie Warrington, Liverpool und Manchester, sondern auch von weit her -
Stockport entsandte zum Beispiel regelmäßige Kontingente zu
den amerikanischen Tanzveranstaltungen, wo amerikanische Musiker auftraten.
Dort gab es Nylonstrümpfe, Schokolade, Geld und Spaß, und einen
unermeßlichen Vorrat an attraktiven jungen Männern, die einem
all diese Dinge spendierten, kein Wunder, daß sie kamen. Viele von
diesen Frauen - ca. 6.500, das ist belegt! - überquerten schließlich
gemeinsam mit den Soldaten den großen Teich - als 'GI-Bräute'.
Wie auch immer, mir gefällt die Geschichte. Es muß doch irgendwelche
Gründe für die Tatsache geben, daß Liverpool von allen
britischen Städten die einzige war, die in den fünfziger Jahren
eine pulsierende, sich um die Popmusik drehende Teenager-Kultur hatte,
während der Rest von England im mollig warmen Arm der Schnulzensänger
dahindämmerte.
Einige von diesen Liverpooler Teenagern der Fünfziger waren die Beatles
- und dies ist der springende Punkt.
Die Bluesmusik inspirierte die Beatles aufgrund der Direktheit ihrer Lieder,
der ihr zugrundeliegenden Bodenständigkeit und Emotionalität.
Die Lieder handelten von Sex, Liebe, Elend, vom Reisen ohne Hoffnung und
ohne Geld und vom glücklichen Leben trotz harter Zeiten. Die Songs
besaßen den 'Real gone spirit', den Geist längst vergangener
Tage.
Was die Instrumente anbelangt, so liebten die Beatles die Lautstärke
und Grobschlächtigkeit des Gitarrenspiels, den 'Backbeat', den schweren
Beat, die dumpfen Schläge des Schlagzeugs und des Basses, den Umstand,
daß man sich beim Singen die Seele aus dem Leib brüllen konnte.
Dann war da noch die allgegenWörtige Harmonika. Dieses antike Delta,
dieses Hillbilly*-Instrument hatte den Aufstieg des Blues aus den Mississippi-Sümpfen
irgendwie überlebt, und vor allem John liebte es heiß und innig.
Dutzende von großen schwarzen Künstlern - Muddy Waters, Howlin'
Wolf, Sonny Boy Williamson, John Lee Hooker, Otis Spann - legten den musikalischen
Grundstein für ein gewaltiges Vermächtnis. Daß sich die
Jungs mit diesem spannenden Thema auskannten, war selbstverständlich
nicht mein Verdienst - sie hatten sich längst ganz alleine damit
auseinandergesetzt - durch meine Arbeit bei Parlophone war ich mit der
Materie jedoch vertraut genug, um diese Einflüsse auf ihre Musik
zu erkennen.
Einer meiner Jobs bei Parlophone in den fünfziger Jahren bestand
darin, eine ganze Reihe von Platten auf eine im Rahmen des Labelprogramms
mögliche Übernahme zu prüfen. Einen Großteil davon
erhielten wir von der amerikanischen Plattenfirma King. Ein mühseliger
Job - sich seinen Lebensunterhalt mit Plattenanhören zu verdienen;
sich einige der besten Stücke anzuhören, die jemals auf Vinyl
gepreßt wurden... Damals merkte ich gar nicht, was für ein
Glückspilz ich war - peinlich genug.
King war ein kleines R&B Label, das wie Chess, Vee Jay, Atlantic und
Sun Records den musikalischen Wert und das kommerzielle Potential schwarzer
Musik erkannt hatte. Er wurde als ein 'Rassen'-Label ins Leben gerufen,
was damals soviel bedeutete, wie äeine Plattenfirma, die Musik von
Schwarzen für Schwarze produziertä.
Durch King gelangten einige große Unbekannte, wie Nina Simone, zu
mir - es erforderte keine besondere Weitsicht, um sie in den Parlophone-Katalog
aufzunehmen. Aber in Hinblick auf die Beatles erinnere ich mich hauptsächlich
an die Platten von Sonny Terry und Brownie McGhee, deren Bluesgesang und
Bluesgitarre von einem eindrucksvollen Harmonikaspiel begleitet wurde.
Es war ihr scharfkantiger, heimatverwurzelter Sound, der mir an jenem
ersten sonnigen Nachmittag, als John seine 'Harp' aufnahm - so nannte
er seine verbeulte alte Blechharmonika - unwillkürlich ins Bewußtsein
drang und dann ein langanhaltendes Wehklagen dazu ausläste.
Wahrscheinlich war es dieser Harmonika-Sound, der mich bewegte, 'Love
Me Do' als erste Schallplattenaufnahme der Beatles auszuwählen. Keiner
der Songs, die ich gehört hatte, weder ihre eigenen Kompositionen
noch die Cover-Versionen der Standardnummern, hatte mich auf Anhieb zu
überzeugen vermocht. Der Einsatz einer Harmonika in diesem neuen,
hüpfenden, schrillen Beatsong erschien mir jedoch hächst originell.
Es war ganz sicher ein sehr ungewöhnlicher Sound, und er sollte von
ein paar weißen Jungs herrühren, die britische Popmusik machten.
Für die Bluesmusik gab es während der fünfziger Jahre in
England nur einen kleinen Markt. Großbritannien hatte damals einen
verhältnismäßig geringen schwarzen Bevälkerungsanteil,
und der Teil, den es gab, bevorzugte Musik westindischen Ursprungs, also
Reggae oder Jazz. Weiße hörten Jazz oder Pop. An Bluesmusik
war demgemäß nur eine kleine Minderheit interessiert. Ich nahm
kaum Notiz davon, da es zu entscheiden galt, was sich über Parlophone
würde verkaufen lassen. Doch unter denen, die es hörten, und
die gierig danach waren, befanden sich einige britische Bands, die sich
gerade erst zusammengefunden hatten: Die Beatles, und, als die bemerkenswertesten
von denjenigen Künstlern, die ihnen dicht auf den Fersen waren, die
Rolling Stones.
Soweit es die englischen Plattenfirmen betraf, wurde der Blues tendenziell
mit der Jazzmusik in einen Topf geworfen; zum Teil deshalb, weil die englischen
Jazzmusiker eine Menge dafür getan hatten, ihren Musikstil in dieses
Fahrwasser zu leiten. Parlophone war zu dieser Zeit vor allem ein Jazz-Label;
ich produzierte Leute wie Humphrey Lyttelton, Jack Parnell, Johnny Dankworth,
Freddy Randall & His Dixieland Band; und die ganze Bluesmusik, die
ich durch King Records zu hören bekam, hatte etwas viel Gräberes.
Aber für mich war es schwarzer Jazz aus den USA. Ich dachte, daß
sich bald darauf ein brauchbarer harter Kern herauskristallisieren und
der Blues dann wieder von der Bildfläche verschwinden würde.
Die Beatles sahen in dieser Musik etwas gänzlich anderes: Alles,
außer Jazz. Tatsache ist, daß der Blues für sie beinahe
das Gegenteil vom Jazz war. Was sie am meisten begeisterte, wohl auch
weil es ihnen zeitlich näher war, war die Musik von Chuck Berry und
Konsorten. Dies war für sie die Schnittkante des Blues.
Berry hatte die verschiedensten Stilarten in seine Musik einfließen
lassen, Einflüsse der Cowboymusik, Country und Western, des Gospels
und der Hillbilly-Musik. Er klamüserte seinen ganz eigenen, sehr
modern klingenden Mischmasch aus. Berry nahm den 'Urban Elektricblues',
warf alles hinein, was ihm gefiel, beschleunigte ihn und drehte die Lautstärke
sämtlicher Elemente massiv hoch - Gitarren, Gesang, Schlagzeug, den
ganzen Kram, wobei er auf den Backbeat besonderen Wert legte. Er kreierte
einen vällig neuen Gitarrenstil. Ein Discjockey namens Alan Freed
prägte einen Ausdruck zur Beschreibung dieses neuen Sounds; er nannte
ihn 'Rock 'n' Roll'.
Das war es, was die Beatles sich aneigneten: Den modifizierten Blues von
Chuck Berry und denjenigen, die sich an seine Rockschäße gehängt
hatten, eine Bluesvariante, die allerdings, soweit ich weiß 'Pure
Blues', 'Reiner Blues', genannt wurde. Die Musik von Berry und seinen
Nachahmern war sehr rüde, und unterschied sich von der wohlanständigen
Musik damaliger englischer Popsänger wie der Tag von der Nacht. Es
war eine Musik, die einem durch Mark und Bein ging, aber als die Beatles
jung waren, liebten sie es nun mal, wenn ihnen etwas durch Mark und Bein
ging. (Ich nicht. Ich war schon ein alter Knochen und mein Mark für
so etwas bereits zu weich!) Sie verleibten sich diese Musik ein, ohne
sie bewußt imitieren zu wollen, und benutzten sie als Sprungbrett
zu ihrer eigenen musikalischen Erfindung.
In den frühen Tagen des Cavern Club, in den späten Fünfzigern,
begnügten sich die Beatles (zu dieser Zeit noch als Quarry Men bekannt)
damit, die ersten Rock 'n' Roll Künstler zu kopieren. Doch sehr bald
schon bedienten sie sich dieses Materials als Grundlage, auf der sie ihre
eigenen, unverwechselbaren Kompositionen schufen. Sie rissen eine Seite
aus Chuck Berrys hybridem Buch heraus, wirbelten sie in ihrem eigenen
kleinen Liverpuddle herum und expedierten sie zurück über den
Atlantik, zu den Amerikanern, die sie überglücklich als etwas
Neues in Empfang nahmen. Und es war ja auch etwas Neues.
Die Beatles spielten mir diese Platten in unserer Anfangsphase des äfteren
vor: Die neuen, meistenteils schwarzen, amerikanischen Rock 'n' Roll Scheiben.
Als wir uns kennenlernten, hießen ihre Lieblingsmusiker Chuck Berry,
Carl Perkins, Bo Diddley, Jerry Lee Lewis, Fats Domino, Little Richard,
Smokey Robinson, Roy Orbison, Buddy Holly und natürlich Elvis Presley.
"Hör dir das mal an!", sagten sie. "Ist das nicht
großartig?" Ich hörte nicht dasselbe, was sie hörten,
aber das, was ich hörte, war interessant und gut.
Ich war schon so lange Schallplattenproducer gewesen, daß, wenn
immer mir etwas Neues zu Ohren kam, ich mir nicht bloß die Musik
anhörte: Ich versuchte auch herauszuhören, wie die Aufnahme
technisch gemacht war. Was mich sowohl bei den Platten von King Records
verblüffte als auch bei denen, die die Beatles mir vorspielten, war
deren unbändige technische Wildheit. Die US-amerikanischen Studios
frachteten ein unglaubliches Klangvolumen auf die Platten, viel mehr,
als hier in England überhaupt machbar war. Ich konnte ein gerade
importiertes Exemplar einer 45er Vinylscheibe in die Hand nehmen, es mir
angucken und sofort die ohrenbetäubende Lautstärke der Platte
erkennen, noch ehe ich sie aufgelegt hatte. Es hieß, das sei der
Groove.
"Meine Güte!", rief ich aus, "Wieso können wir
das nicht?" Wenn wir versucht hätten, eine Platte von dieser
Lautstärke zu pressen, wäre die Nadel unseres Dansette-Plattenspielers
mit Sicherheit gesprungen, vermutlich sogar sein ganzer Tonarm geradewegs
vom Vinyl gehopst und auf den Fußboden gefallen. Doch bei den Amerikanern
hopste keine Nadel irgendwohin. Sie waren uns technisch um mehrere Nasenlängen
voraus. Und sie waren in der Lage, Platten herzustellen, die nicht nur
rumorten, sondern geradezu drähnten. Ich hatte keine Ahnung, wie
sie das machten. Aber ich wollte es auf jeden Fall herausfinden.
Eine Tonspur mit einem massigen Klangvolumen auszustatten, ist heute nur
eine Frage des Lautstärkereglers; damals warf es hingegen ein echtes
Problem auf. Je lauter man diese Art von Pop-Platten werden lassen konnte,
desto wuchtiger würde ihr Klangvolumen ausfallen und desto besser
würden sie sich natürlich auch verkaufen lassen. Ein Discjockey
würde eine dieser drähnenden Scheiben auflegen und es würde
ihm die Schuhe ausziehen. Ein Radiohörer würde sie zum ersten
Mal hören, und es würde ihm die Schuhe ausziehen. Er würde
sofort ins nächste Musikgeschäft rennen und sich die Platte
kaufen. So läuft das Geschäft.
Aus diesem Groove eine maximale Lautstärke herauszuholen, erklärte
ich nunmehr zu meiner vordringlichsten Aufgabe. Ich wachte mitunter mitten
in der Nacht auf und grübelte darüber nach. Dieses Volumen!
Diesen satten Sound..! Ich schaffte es, diese Lautstärke auf ein
paar frühe Beatles-Platten zu bringen, aber ich wollte mehr, viel
mehr. Und die Jungs lagen mir ständig damit in den Ohren. Schließlich
hörten sie den Unterschied zu den amerikanischen Importen genauso
deutlich wie ich. "Wieso kriegen wir das nicht hin, George?",
fragten sie im Chor. "Wir wollen es auch so haben!"
Tja, wieso kriegte ich das nicht hin? Zum Beispiel wegen der Bässe:
Preßte man sie so auf eine Platte, daß die Nadel beim Abspielen
ihre Spur hielt, ergab das einen sehr dumpfen Sound; es kam darauf an,
die richtige Frequenzabgleichung (eq) zwischen Gitarre, Schlagzeug und
Baß zu bewerkstelligen. Man mußte das Schlagzeug mit einem
speziellen Eigenmikrophon ausstatten. Zahlreiche Gruppen arbeiteten vor
den Beatles ohne eigenes Mikrophon an der Baßtrommel. Sie stellten
das Mikrophon etwa 1,20 Meter vom Schlagzeug entfernt auf, richteten es
ungefähr auf die Mitte des Ensembles und hofften auf das beste Ergebnis;
in ähnlicher Weise verfuhren sie mit der Baßgitarre (selbstverständlich
gab es damals noch keinen direkten Anschluß an die Rekorderkonsole).
Paul bestand jedenfalls auf einem erstklassigen Baßklang, und mir
wurde bald klar, daß wir das Mikrophon bedeutend besser, also viel
unmittelbarer, positionieren mußten, als es bis dahin üblich
gewesen war. Wir setzten uns zusammen und berieten, was zu tun sei. Gemeinsam
schaufelten wir uns so dann den Weg zu einem exquisiten Sound frei.
Irgend etwas müssen wir richtig gemacht haben, denn danach, sogar
noch lange danach, kamen immer wieder Profis aus dem Plattenbusiness zu
mir und erkundigten sich auf ihre Weise nach meinem Geheimnis: "Wieso
klingen unsere Platten nicht so wie die der Beatles?" Sie hörten
die Baßgitarre von 'Baby You're A Rich Man' und staunten "Ey
Mann, der Baß klingt ja echt stark! Wie zum Teufel hast du das auf
die Reihe gekriegt? Wir wollen auch so einen Sound haben - gib uns mal
einen Tip!" Aber das Geheimnis lag eigentlich nur in der treibenden
Kraft des Blues, der eine satte Lautstärke verlangte.
Abgesehen vom Blues
gab es noch viele andere Vorbilder, die die scheinbar unkomplizierte Musik
der Beatles prägten. Im übrigen glaube ich, daß der Blues
für John, George und Ringo eine viel größere Rolle gespielt
hat als für Paul. Guckt man sich McCartney-Songs an, wie zum Beispiel
'Yesterday' oder 'Here, There, And Everywhere', so findet man nur wenige
oder gar keine Anzeichen für Blues-Einflüsse. Man entdeckt eher
Elemente von Elgar als von John Lee Hooker.
Pauls Vater hatte vor längerer Zeit ja bekanntlich in einer kleinen
Tanzkapelle gespielt und populäre amerikanische Evergreens ausgeschlachtet
- nicht zu verwechseln mit amerikanischer Popmusik. Das waren Melodien
in der Art, wie ich sie als junger Bursche mit meiner eigenen Combo gespielt
hatte: George Martin and his Four Tune Tellers* (kein Scherz!). Wir brachten
Songs aus Filmen, Songs von Glenn Miller, Woody Herman, Jimmy Dorsey.
Wenn wir richtig waghalsig aufgelegt waren, spielten wir auch mal ein
Häppchen Boogie, alt(modisch)e Klassiker wie 'Honky Tonk Train Blues'
von Meade Lux Lewis, oder eine Jimmy Yancey Nummer. Meine Band spielte
etwa zweimal pro Woche, meistens bei Tanzveranstaltungen, und getanzt
wurde Foxtrott und Quickstep. Man kann sich vorstellen, wie das ablief.
Zu dieser Zeit spielten in England nur die hörteren Bands Jazzmusik.
(Und wenn jemand Blues spielte, dann war er schon so etwas wie ein musikalischer
Hell's Angel!) Ich denke, Jim McCartney wird auch die Standardtänze
gespielt haben, und sie werden auch in Pauls Ohren gedrungen sein, zumindest
seitdem sie irgendwann die Höhe der Klaviertastatur erreicht hatten.
Paul erzählte mir, daß sein Dad gerne Boogie-Woogie auf dem
Klavier gespielt hatte, was recht aufschlußreich ist, wenn man sich
Pauls Entwicklung zu einem der großen internationalen Baßgitarristen
vor Augen führt. Bei einem Klavier-Boogie ergibt die mit der linken
Hand gespielte Baßlinie eine stark kontrapunktische Melodie, also
viel mehr als bloß eine rhythmische Geräuschkulisse. Pauls
Spiel auf der Baßgitarre ist auch das melodischste, das es je gegeben
hat. Er setzte damit einen Maßstab, der von niemandem jemals erreicht
wurde. Einige Male komponierte er sogar Songs, in deren Mittelpunkt melodische
Baßlinien standen. Pauls Baßlinie in 'Baby You're A Rich Man'
ist ein glänzendes Beispiel für sein Können.
Dann gab es noch den vällig unvorhersehbaren Einfluß von George
Harrison. Seit Mitte der sechziger Jahre war George an der Musik der Beatles
in einer Weise beteiligt, die nicht das geringste mit seinem persönlichen
Hintergrund, seiner Kultur oder mit der amerikanischen Musik zu tun hatte.
Vielmehr hatte sie etwas mit der östlichen Hemisphäre zu tun.
Die Cowboykultur war nichts für ihn - Georges ganzes Wesen war viel
cooler. Wenn ihn auch ab und zu die Musik von Elvis Presley in den Bann
zog, so beeinflußte ihn das doch keineswegs bei seiner Arbeit mit
den Beatles, wo er eine ganz eigene Rolle spielte. Die Songs, die George
Harrison komponierte, waren Lichtjahre von denen der anderen Beatles entfernt.
Er führte ein ganzes Arsenal neuer indischer Instrumente in ihre
Musik ein - Instrumente, die im Laufe der Karriere der Beatles immer mehr
Raum einnahmen und ihrer Musik eine Note verlieh, die mit nichts zu vergleichen
war, was es vor ihnen gegeben hatte oder nach ihnen geben sollte. George
Harrison entpuppte sich als ein sehr stilles Wasser und als ein Außenseiter
- als einer, der gegen den Strom schwimmt und trotzdem ans Ziel gelangt.
Als wären es der Einflüsse nicht längst genug, um etwas
damit anfangen zu können, trug auch ich noch mein Scherflein zur
Beatles-Musik bei. Ich schätze, es gab zwei wesentliche Faktoren,
mit denen ich sie beeinflußte: Mein formaler Unterricht in klassischer
Musik sowie meine Liebe zu experimentellen Aufnahmetechniken.
Da wir gerade beim Thema 'Einflüsse' sind - es gab noch einen, nämlich
den Einfluß der Beach Boys. Der Gesangsstil der Beach Boys und der
Kompositionsstil von Brian Wilson waren - wie die Beatles selbst offen
zugaben - die stärksten Faktoren, die die Entstehung von Sgt. Pepper
mitprägten. (Umgekehrt war das übrigens ebenso der Fall.) Wilsons
kontrapunktische Technik in Pet Sounds war etwas, was die Beatles nicht
verstanden oder vielmehr, was sie für eine entfremdete Ausdrucksform
hielten; nichtsdestotrotz begeisterte und inspirierte es sie. Ihre eigenen
Harmonien wurden nun komplizierter: Die einzelnen Stimmen fingen an, miteinander
zu 'kommunizieren'. 'She's Leaving Home' ist eine zweistimmige kontrakunktische
Komposition: Die zwei menschlichen Stimmen, Johns und Pauls, sind miteinander
verflochten und ergänzen einander (und werden zusätzlich noch
von den Saiteninstrumenten unterstrichen). Im Umgang mit solchen Dingen
waren die Beach Boys geschickter als John, Paul, George und Ringo - zumindest
bis zu dem Zeitpunkt, da Sgt. Pepper im Entstehen begriffen war. 'God
Only Knows', das achte Lied auf dem Pet Sounds-Album der Beach Boys, ließ
die Beatles aufhorchen und bewirkte, daß sie sich nun eingehend
mit der Arbeit ihrer Konkurrenz auseinandersetzten. Aber, ganz nebenbei
bemerkt, auch die Konkurrenz hatte sich schon sehr intensiv mit ihnen
beschäftigt:
Im Dezember 1966 [sic
- er meint sicherlich 1965] hörte ich das Album Rubber Soul von den
Beatles. Es war zweifellos eine Herausforderung für mich. Ich stellte
fest, daß jedes einzelne Stück künstlerisch sehr interessant
und stimulierend war. Ich machte mich sofort an die Arbeit und schrieb
die Songs für Pet Sounds.
- Brian Wilsons Anmerkungen auf dem Plattencover von Pet Sounds
Ich war wirklich ganz
baff, wie clever es [Pet Sounds] gemacht war und wie spannend die Arrangements
waren... aufgrund der Arbeit, die sie sich gemacht hatten, brauchten wir
uns scheinbar nicht mehr allzusehr anzustrengen, um noch einen Schritt
weiterzugehen; insofern übte es einen starken Einfluß auf uns
aus.
- Paul, South Bank Show
Sgt. Pepper erschien
erst nach Pet Sounds. Als Brian Wilson Sgt. Pepper hörte, schmiß
er, Gerüchten zufolge, seine Arbeit an dem gerade zu produzierenden
Album hin und ließ sich für einige Monate krankschreiben. Während
dieser Zeit muß er viel nachgedacht haben, denn die nächste
Platte der Beach Boys war wieder einmal ein echter Knaller.
Sie waren Schlachten innerhalb eines Krieges, diese Alben: Exponenten
eines kuriosen transatlantischen Seegefechts, einer Rivalität, die
mit den Mitteln genialer musikalischer Ideen ausgetragen wurde. Die Beatles
hielten Pet Sounds, besonders dessen Gesang, für ein phantastisches
Album. Auch ich fand es großartig. "Ob wir das auch so gut
hinkriegen?", fragten sie mich, während wir uns auf ihre neue
Langspielplatte vorbereiteten. "Nein", erwiderte ich, "Wir
machen es noch besser."
Und wir machten es besser.
Eine glückliche
Verstrickung von Strömungen und Unterströmungen beeinflußte
die Musik der Beatles, doch am Ende blieb davon nur ein leises Gemurmel
im Hintergrund übrig.
Der einzig ausschlaggebende Faktor für die Brillanz der Beatles-Musik
war, ist und bleibt ihr eigenes Talent.
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