Kapitel 18

 

 

 

Einen Schritt voraus

 

(1970 -1981)

 

 

 

Als Teil der Strategie, sich seinen selbstbestimmten Platz in der Geschichte zu bewahren, wies Speer niemals jemanden ab, der ihn über seine Vergangenheit befragen wollte, sei es für einen Zeitungsartikel, eine akademische Arbeit oder für ein Buch. Ein endloser Strom von Besuchern, zwischen denen letztlich auch ich mich einreihte, pilgerte zu seinem abscheulichen/gehaßten Haus in Heidelberg - zum Ärger und manchmal auch zur Verwirrung seiner Frau und Familie. Letztere wußten besser als irgendjemand sonst, daß er keine solche Anregungen nötig hatte, um den weitaus größten Teil der fünfzehn Jahre zwischen Freilassung und Lebensabend im Rückblick zu verbringen.

 

 

Noch im Gefängnis korrigierte er Janssens Doktorarbeit, wie wir wissen. Während und nachdem seine Erinnerungen (KURSIV) 1969 erschienen waren, stand er jedermann zur Verfügung. Ebenso ein Jahr darauf, als sie auf englisch herauskamen. Er befleißigte sich auch sehr, William Hamsher - einem ehemaligen Deutschland-Korrespondenten der Londoner Daily Express (2x KURSIV), der über Nürnberg berichtet hatte - bei der ersten Speer-Biographie (im Unterschied zur Autobiographie) behilflich zu sein; und das, obwohl die Hauptperson des Buches wußte, daß das Werk des Journalisten mit der englischen Übersetzung seiner Memoiren zusammenfallen würde. Das Ergebnis, Albert Speer - Victim of Nuremberg? (5x KURSIV) (Albert Speer - ein Opfer Nürnbergs?) war den zeitlichen Aufwand und die Mühe wert: Das Buch, wenn auch nicht gerade eine Hagiographie, ist eine sowohl unkritische (UNCRITICAL) als auch vergnügliche Lektüre, ein sowohl nützlicher Kontrapunkt zu den Erinnerungen (KURSIV) als auch eine gut durchdachte Übung in gegenseitiger Nutznießerei/Ausbeutung - hinsichtlich des Motivs, wenn auch nicht des Umfanges, vergleichbar mit meinem eigenen kleinen Artikel über die englischsprachige Publikation der Tagebücher Speers im Jahre 1976.

 

 

Diese Politik der fortwährenden Verfügbarkeit ging bis zum Letzten. Selbst Matthias Schmidt, dem einzigen Besucher, abgesehen von mir, der später über Speer schreiben sollte und Heidelberg anscheinend genauso skepisch verließ wie er angereist war, wurde die Gunst eines ausgedehnten Interviews 1979 und dann noch einmal 1980 gewährt, und das, obgleich Speer ihn unsympathisch fand. Den absoluten Rekord hält Gitta Sereny, die ihn 1978 ständig, offensichtlich ad nauseam mutualem (3x KURSIV), interviewte. Der Zweck war ein langes biographisches Profil für die Londoner Sunday Times (2x KURSIV) und für das Zeit Magazin (2x KURSIV). Dieses Porträt stellt gleichsam die Grundlage für ihr 1995 erschienenes Buch dar. Die Befragung dauerte dreizehn Tage (wenn man nach den Zeitungen geht) beziehungsweise drei Wochen (laut Buch). Daß dieser ununterbrochene Strom von wißbegierigen Leuten mitunter an den Nerven zerrte, wird eindeutig durch den Umstand bezeugt, daß sich Speer 1973 ein abgelegenes Bauernhaus in den bayrischen Alpen kaufte, wo er später viel Schreibarbeit erledigte. Außerdem zog er sich in den letzten zehn Jahren regelmäßig in die idyllisch gelegene Benediktinerabtei Maria-Laach im Rheinland zurück, wo der nicht übermäßig religiöse Protestant unter die gütigen/leutseligen Fittiche von Vater Athanasius, einem katholischen Mönch, genommen wurde. Dies als eine Form der freiwilligen Einzelhaft aus Heimweh nach dem Spandauer Zwangsvariet‚ aufzufassen, mag primitiv sein, aber auch sehr plausibel. Unter den vielen Brieffreunden Speers, die der neue Ruhm als Schriftsteller nach sich zog, war auch Pastor Casalis, sein französischer Gesprächspartner aus den ersten Jahren in Spandau, und außerdem Rabbi Raphael Geis, ein deutsch-jüdischer Zeitgenosse, der ab 1969 für kurze Zeit ein enger geistlicher Brieffreund wurde, bis er 1972 starb. FUßNOTE (1)

 

 

Als die Erinnerungen (KURSIV) ein Jahr nach der ersten deutschen Auflage ins Englische und in andere Fremdsprachen übersetzt wurden (letztendlich insgesamt achtzehn, einschließlich Serbokroatisch), erschienen das ganze Jahr 1970 hindurch und auch danach noch Rezensionen; und durch einen Artikel nach dem anderen wurde das Interesse an Speer als Autor und als Hitler-Autorität kontinuierlich wachgehalten. Der größte davon war im Playboy (KURSIV) abgedruckt. Der amerikanische Journalist Eric Norden war der erste Interviewer der Speer so lange in die Mangel nahm, wie er es zuletzt in den alliierten Verhör-/Anhörungszentren von Ashcan und Dustbin und dann in 1945-46 in Nürnberg erlebt hatte. Der daraus resultierende Artikel, der längste, der über ihn jemals geschrieben wurde, erschien 1971 in jener amerikanischen Monatszeitschrift, die einst für ihre bahnbrechenden herausklappbaren/Falt- Poster pneumatischer nackter Frauen bekannt war, mittlerweile jedoch mit tiefgründigeren Wortbeiträgen über Themen wie Männerkosmetik oder Holocaust aufwartet. Mr. Norden brachte nicht weniger als zehn Tage damit zu, Speer für sein Frage-und-Antwort-Werk zu interviewen. Das Ergebnis erstreckte sich über vierundzwanzig Seiten (siebzig Spalten Text, dazu Fotos und Raum für Layout, Überschriften und Anzeigen). Der Artikel war nicht nur für die Zeitschrift in der er erschien und wegen seiner Länge außergewöhnlich, sondern auch wegen einiger Enthüllungsbrocken, die sich inmitten dessen befanden, was im Wesentlichen ein Handgalopp durch die Memoiren darstellte. Nordens Marathon hatte außerdem den bedeutsamen, wenn auch zufälligen, Nebeneffekt, Rudolf Wolters dazu zu bringen, daß er seine Beziehungen zum Protagonisten in tiefer Verachtung abbrach, nachdem dieser übersetzte Auszüge davon in der Illustrierten Quick (KURSIV) entdeckt hatte.

 

 

Mr. Norden, der zugab, daß er und sein Gesprächspartner die gemeinsame Feuerprobe als mühselig empfunden hatten, war ob der Tatsache verwirrt, daß Speer so unbeschwert über schreckliche Ereignisse sprach. Wenn er einem Kuchen anbot habe er sich desselben seelenruhigen Tonfalls bedient wie wenn er sich selbst mit entsetzlichen Verbrechen in Zusammenhang brachte. 'Ich hatte den Verdacht, wie andere Interviewer auch, daß die Litanei seiner Selbstbeschuldigungen an sich schon eine Vermeidung grundlegender Verantwortung sei.' Norden führte auch die englischen Schriftsteller Geoffrey Barraclough und Rebecca West an, die Speers Selbstdarstellung verschiedentlich als eine verzerrte/entstellte Legende und als eine zynische Schönfärberei angefochten hatten.

 

 

Norden war auch froh über Speers nunmehr vertrauliches Eingeständnis, daß er den Fehler gemacht habe, Hitlers Drohungen gegen die Juden nicht ernst genommen zu haben beziehungsweise die Tatsache nicht zur Kenntnis genommen zu haben, daß sie buchstabengetreu in die Tat umgesetzt wurden. Speer gebrauchte ein wichtiges Wort (das noch einmal zur Sprache kommen wird), um das Wesen seiner Verantwortung für die Nazi-Verbrechen zu definieren: Billigung (KURSIV). Norden zitierte Speer, der zu ihm gesagt hatte:

 

 

'Ich stand einfach daneben und sagte zu mir selbst, daß, solange ich nicht persönlich teilnehme, es mich nichts angeht ... Meine Billigung (KURSIV) der antisemitischen Kampagne (CAMPAIGN) machte mich verantwortlich dafür.'

 

 

Es gibt nur eine Möglichkeit, dieses Bekenntnis auszulegen: Ganz gleich, ob passiv tolerierend oder aktiv zustimmend, Billigung (KURSIV) heißt, Speer wußte (KURSIV). Es ist nicht möglich, etwas zu tolerieren oder zu billigen, wovon man keine Ahnung hat. Ein Disput darüber, wieviel oder wie wenig einer wußte, dient lediglich dem Beweis, daß (KURSIV) er etwas wußte. Für den Playboy (KURSIV) pochte Speer weiterhin darauf, daß 'Ich nicht dafür beschuldigt werden kann, nicht gewußt zu haben, was passierte' (! ÜBERSETZT !), denn die Nazis seien überaus verschwiegen gewesen. Doch er gestand, daß

 

 

'wenn ich es nicht gesehen habe, dann deshalb, weil ich es nicht sehen wollte ... Ich stand auf dem Gipfel der Macht und war von den entfernten Landschaften, die ich sah, vergiftet - während zu meinen Füßen ein Leichenhaus kokelte.' (! ÜBERSETZT !)

 

 

Aber er wußte (KURSIV).

 

 

Norden benutzte auch das Zitat von Karl Maria Hettlage, der gesagt hatte, Speer sei Hitlers 'unerfüllte/unerwiderte Liebe' gewesen, und schaffte es zum ersten Mal, den Architekten dazu zu bewegen/bringen, öffentlich seinen Stolz auf die Leistungen zu bekunden, die er als Minister vollbracht hatte; es folgte das, was Wolters als ein 'Ja, aber post Festum' bezeichnet hatte:

 

 

'Ich kann nicht umhin, Anwandlungen/Aufwallungen von Stolz zu empfinden ... Ich habe Dinge vollbracht, die viele Menschen für unmöglich hielten, und ich nehme an, daß mein Ego sich nach wie vor an diesen vollendeten Werken erfreut. Dann denke ich an all die zerstörten Städte, die getöteten Soldaten und die zwischen 1943 und 1945 abgeschlachteten Juden - und mein Stolz verwandelt sich in Übelkeit.' (! ÜBERSETZT !)

 

 

Zu Sauckel, dem Generalbevollmächtigten für Arbeitseinsatz, der ihm auf sein Geheiß Sklaven besorgt hatte, erzählte Speer gegenüber Norden: 'Ich war bei dem Zwangsarbeits-Programm sein uneingeschränkter Kollaborateur und teile seine Schuld.' (! ÜBERSETZT !) Dann stellte er ein einwandfreies Gleichnis auf:

 

 

'Unsere Rollen waren eher die eines Kapitäns auf einer Sklavengaleere und die eines Sklavenbesitzers, der seine Ladung/Fracht kauft.' (! ÜBERSETZT !)

 

 

Norden zitierte den anglophilen deutschen Zeitungskorrespondenten Willy Frischauer - 'Mir ist noch nie etwas derart Widersprüchliches begegnet, wie die Tränen, die Speer (für die Sklavenarbeiter) vergießt.' (! ÜBERSETZT !) Eine scharfe Zurückweisung, die Speer schlicht hinnehmen mußte wenn man sich vor Augen führt, was er früher konzediert hatte. Am Ende seines bombastischen Interviews sagte Speer, er habe in Nürnberg trotz seiner Einsicht der Mitverantwortung auf Nicht Schuldig plädiert, weil ein Schuldbekenntnis 'automatisch eine Todesstrafe' nach sich gezogen hätte.

 

 

Wolters war des Englischen nicht mächtig und hatte das Original des oben genannten Textes nie gelesen, und erst recht nicht den an die Sekretärin gerichteten Kraftausdruck des britischen Kolumnisten, Sir John Junor, der, als er einen Fall von extrem salbungsvollem Pathos aufgeschnappt hatte, gesagt haben soll - 'Alice, reichen Sie mir die Brech/Kotztüte'. Doch dies ist zweifellos auch genau das, was Wolters/er fühlte, als er Ende Mai 1971 (als die Juni-Ausgabe des Playboy (KURSIV) erhältlich war) die deutschen Auszüge zu Gesicht bekam. In einem Brief vom 24. Mai verlieh er seinen Gefühlen auf beispiellos ungestüme Weise Ausdruck:

 

 

'Was ist nur in Dich gefahren, daß Du nach den Schuldbekenntissen Deiner "Erinnerungen" nicht aufhörst, Dich immer wieder und immer radikaler als Verbrecher hinzustellen?' (ZITIERT NACH SERENY, S.790).

 

 

Wolters unterstrich die Diskrepanz zwischen dem wiederholten mea culpa (2x KURSIV) und dem ersprießlichen Lebensstil des Reumütigen, 'von der Playboy- und Quickleser natürlich nichts wissen!' (DITO) Speer habe die führenden Nazis leichtfertig als durch und durch korrupte Verbrecher in die Pfanne gehauen und beiläufig seine alten Freunde in den Schmutz gezogen, so zum Beispiel die führenden Industriellen (namentlich nicht genannt), die Göring geschmiert hatten:

 

 

'In diesem Brief sage ich alles, was ich denke. Es ist für mich eine ausgesprochene Belastung, Deine beiden Seiten, den schuldigen Verbrecher (im Volksmund "Bundesbüßer vom Dienst" und den anderen Albert Speer mit seinem Spaß an gelungenen Tricks, mit seiner ehrlich zugegebenen Freude an Geld und Geltung zu verarbeiten.' (ZITIERT NACH KOPIE VON BAUDISCH)

 

 

(Was Wolters mit dem englischen Ausdruck 'Tricks' meinte, wird sich im Epilog zeigen.) Er hoffte, daß Speer es eines Tages nicht mehr als notwendig erachten würde, überall seine Schuld zu proklamieren, um sich selbst untadelig zu halten/machen. 'Darf ich Dir vorschlagen,' endete die hitzige und beredte Ablehnung Wolters', 'daß wir uns erst nach Beendigung dieser Phase wiedersehen, das heißt erst, wenn Du nicht mehr ausschließlich an Deiner Rehabilitation interessiert bist.' (DITO, S.791)

 

 

Speers Antwort fiel vorhersagbar distanziert aus. Es sei in zivilisierten Ländern und insbesondere unter Freunden üblich, so schrieb er am 5. Juni kühl, den Delinquenten vor der Verurteilung zu befragen. Er hätte eine Menge zu dem Playboy (KURSIV) -Artikel zu sagen gehabt, doch 'heute nun nur soviel: Es wurde umstrukturiert, in eine Sprache mit groben Formulierungen gebracht, die mir fremd sind.' (DITO) Wolters habe alles über seine Einstellung zur Schuld in der Spandauer Zeit gewußt. Speer wies insbesondere den Vorwurf zu seinem Lebensstil zurück, an dem er, wie er sagte, durch den Wert eines reinen Gewissens umso mehr Freude habe. Abgesehen davon empfinde er nach zwanzig Jahren die Notwendigkeit, vieles nachzuholen. 'Im übrigen habe ich schon vor etwa einem Jahr vertraglich mit dem Propyläen-Verlag eine Änderung meines Vertrags festgelegt, durch die große Teile meiner Einkünfte wohltätigen Zwecken zugeführt werden.' (DITO) Nach Abzug der Einkommenssteuer würden ihm noch ungefähr zwölf Prozent (immer noch eine stattliche Summe) (ECKIGE KLAMMER) der originalen Buchhonorare verbleiben, sagte Speer.

 

 

'In Anbetracht der Tatsache, daß die Industrie und die Architekten es versäumten, sich um eine Existenzgrundlage für mich zu bemühen, halte ich dieses einmalige Resteinkommen aus dem Buch für die Sicherung meines Lebensabends für notwendig.' (ZITIERT NACH FAX VON VAN DER VAT)

 

 

Er überließ es Wolters, sein Freundschafts-Embargo aufzuheben oder es bleiben zu lassen. 'Daß ich von mir aus nun mich nicht erneut an Dich wenden kann, wirst Du verstehen.' (ZITIERT NACH SERENY, S.791)

 

 

Speer zweigte von seinen enormen Tantiemen in der Tat beträchtliche Summen für anonyme oder indirekte Spenden zu wohltätigen Zwecken ab. Darunter befanden sich auch Organisationen in den Vereinigten Staaten und anderswo, die jüdischen Überlebenden der Naziverfolgungen halfen. Sein Verleger, Wolf Jobst Siedler, erzählte mir, daß er bis zu achtzig Prozent stiftete, 'und er war ein Millionär, oder wäre einer gewesen.' Speer wollte, daß die Schenkungen unbesungen blieben, aus Angst vor Rückzahlungen und davor, als scheinheilig/heuchlerisch bezeichnet zu werden. Obwohl sie schließlich doch bekannt wurden, kann man ihm nicht vorwerfen, für sein persönliches Reparationsprogramm - das ihn zweifellos mehrere Hunderttausend Mark, wenn nicht mehr, gekostet hat - ins eigene Horn getrötet zu haben. Unter den gegebenen Umständen können die Schenkungen mit Fug und Recht als bezahlte Gewissensschuld bezeichnet werden, aber aus seiner Großzügigkeit in der Studentenzeit wird ersichtlich, daß er ohnehin ein sehr freigebiges/generöses Wesen hatte; wenn er etwas besaß, gab er es fort. Mehr noch, er tolerierte die Meinungen anderer Leute, selbst dann, wenn er sie als selbstverständlich voraussetzte; genauso gleichgültig (aus demselben Grund, könnte man sagen) verhielt er sich aber auch ihren Überzeugungen (COMMITMENTS) gegenüber - seien sie politischer, privater oder beruflicher Natur gewesen.

 

 

Wolters hatte diese überaus hohe Schwelle nun freilich überschritten, indem er ihn praktisch einen Heuchler genannt hatte. Ihrer Freundschaft war eine tödliche Wunde zugefügt worden und sie sollte sich nie mehr davon erholen. Wolters brachte es nicht über sich, die Sache an die große Glocke zu hängen, solange sie beide, Speer und er selbst noch am Leben waren; aber er sorgte dafür, daß seine eigene Bereinigung der Chronik unausweichlich an die Öffentlichkeit kommen würde, ebenso wie Speers Plan, den vertuschten Beweis seiner Verbrechen gegen die Juden zu vernichten, indem er das Bundesarchiv hinters Licht führte und versuchte, die Geschichte nach seinem eigenen Gusto umzuschreiben. Ursprünglich hatte er seine Papiere dem örtlichen Landesarchiv in Münster, Nordrhein-Westfalen, versprochen und Speer mündlich gewarnt, daß man die Chronik 'mit Sicherheit nach meinem Tode wiederentdecken' FUßNOTE (2) werde. Am Ende jedoch vermachte er sie dem Bundesarchiv. Nachfolgende Ereignisse, die an entsprechender Stelle beschrieben werden, bestärkten den apologetischen Korrespondenzler in Coesfeld nur in seinem Entschluß, die Aufzeichnungen eines Tages unbedingt berichtigen zu lassen.

 

 

Frau Riesser war wegen des Bruchs völlig fassungslos und schrieb am 17. Juni 1971 einen persönlichen Brief an Speer, in dem sie sagt, sie habe dies schon lange kommen sehen. Während sie die Befürchtungen ihres Chefs ob der Schuldgeständnisse Speers teile, versicherte sie ihm ihre stets besten Wünsche: 'Sie können auf uns zählen, wenn Sie uns je wieder brauchen sollten.' (! ÜBERSETZT !) Sie unterzeichnete den Brief mit 'Ihre alte Brieffreundin (seit den letzten zwanzig Jahren involviert) - Marion.'

 

 

 

Speers Postsack war nunmehr gewaltig. Wie wir wissen, schickte er niemanden fort und acquirierte als Folge der Veröffentlichung seiner Memoiren sogar wichtige neue Kontakte, wie zum Beispiel Rabbi Geis. Einer von Hunderten, die ihm einfach auf blauen Dunst schrieben, war ein Teenager aus Norwegen, der sagte, er habe seine Erinnerungen (KURSIV) faszinierend gefunden. Der Junge war der älteste Sohn eines pensionierten Pastors der Staatlich-Lutheranischen Kirche in Norwegen, und der Brief endete mit einer Einladung Speers von seiten des Vaters, Oeysten Hovden. Speer solle nach Norden fahren und 1971 eine Weile Urlaub dort zu machen. Beeindruckt nahm Speer die Einladung an und machte sich bald für zwei Wochen auf den Weg; zuvor war er allerdings von der Osloer Regierung zur persona non grata (3x KURSIV) erklärt worden, die sich dann jedoch, wie die Zeitung Stiftstidende (KURSIV) berichtete, erweichen ließ. FUßNOTE (3) Herr Hovden war jedenfalls der Meinung, daß sein berühmten Gast 'eine sehr nette und interessante Persönlichkeit' sei. Aber für Speer bedeutete es dennoch eine Mahnung, daß er nicht 'Everybody's Darling'/'jedermanns Liebling' war, wie Fest ihn ironischerweise charakterisiert hatte; aber es sollte auch noch andere solcher Mahnungen geben.

 

 

Der größte Alarm, von dem Speer 1971 aufgeschreckt wurde, erfolgte am Ende des Jahres in Gestalt von Professor Goldhagens sensationeller Behauptung, Speer habe Himmlers Rede über das Genozid-Programm vor den Gauleitern in Posen, am 6. Oktober 1943, (wie bereits erläutert) gehört, dies aber verschwiegen. Auf der Suche nach einem Indiz, daß er nicht im Saal anwesend war, als Himmler das Unsagbare sagte, die Bedeutung der Endlösung auseinandersetzte, vergrub Speer sich daraufhin in den Koblenzer Archiven. Einen Gutteil der nächsten achtzehn Monate verwendete er darauf, seine Aussage zu stützen, daß er den Saal bereits verlassen hatte, als Himmler ihn anredete. (Der Gerechtigkeit halber sei darauf hingewiesen, daß es eine durchaus übliche rhetorische Finte ist, sich an eine abwesende Person zu wenden als ob sie zugegen wäre: Präsident Reagan tat dies im noch geteilten Berlin, in den späten 80er Jahren, als er den sowjetischen Führer aufforderte, 'Mr. Gorbachev, open the Wall!'). Die Tatsache, daß Himmler Speer in der zweiten Person ansprach, ist kein Beweis, daß Speer dort war. Dennoch versuchte er verzweifelt zu beweisen, daß er es nicht war. Speers nicht widerlegte Anwesenheit stellte eine dauernde Bedrohung seiner Glaubwürdigkeit hinsichtlich der Beteuerungen nach dem Krieg dar, daß er von der Endlösung, seit 1922 der verbogene/schiefe Mittelpfeiler der Nazi-Ideologie, seinerzeit nichts gewußt habe.

 

 

Es überrascht einen nicht, daß Speer außerstande war, mit eigener Kraft jene Gegenbehauptung unter Beweis zu stellen, derzufolge er nicht dort war, als Himmler an jenem Nachmittag sprach. Es ist dies eine unglückliche Situation für ihn, die logischerweise aber auch ebenso wenig als Beweis herhalten kann, daß er nicht anwesend war. Speer verfaßte 1972 eine ausführliche Gegendarstellung, wobei er natürlicher- und auch sinnvollerweise an das unhaltbare 'Zitat' anknüpfte, das Himmler in den Mund gelegt worden war - und zwar irrtümlicherweise von Goldhagen selbst, wenn auch nur als Fußnote - (und unterminierte dadurch dessen Wucht und Glaubwürdigkeit). Speer schleppte massenhaft Material an, das irgendetwas mit der Tatsache zu tun hatte, daß Speer Juden in der Rüstungsindustrie beschäftigte (deren Lebensbedingungen und sogar Leben dadurch gerettet wurden). Diese Fülle von Dokumenten und Zeugenaussagen vermittelte einen Eindruck davon, wie weit er bei seiner Suche nach einem Alibi gegangen war. Nachdem er beim Posener Protokoll innerhalb von Himmlers Schlüsselzitat arglistigerweise das Komma durch einen Punkt ersetzt hatte - 'Natürlich hat das mit Parteigenosse Speer gar nichts zu tun ... Sie können gar nichts dazu' (ZITIERT NACH FAX VON VAN DER VAT) - schlug Speer vor, daß sich Himmler an diesem Punkt (der Zeit und der Zeichensetzung) an Sauckel gewandte habe, der bestimmt anwesend war, jedenfalls eher als er selbst ... 'Aber selbst wenn angenommen wird, daß er mich gemeint haben sollte, bedeutet das keineswegs, daß ich anwesend war,' (DITO) protestierte Speer.

 

 

Dieser nicht zu enkräftende Verdacht, der ihm anhaftete, quälte ihn dermaßen, daß er seine Gegenbeweisführung fünf Jahre später fortsetzte und damit demonstrierte, daß er in immer größer werdenden Kreisen buddelte. Nun gab er bekannt, daß er in seinen Erinnerungen (KURSIV) die Abreisevorkehrungen im Anschluß an seine zwei Ansprachen zu den Gauleiterversammlungen in Posen am 6. Oktober 1943 und am 3. August 1944 verwechselt habe. Er habe in seinen Memoiren angegeben, daß er 1943 im Sonderzug der Gauleiter zurückgefahren (deshalb seine Klage über ihr ungebührliches Verhalten) und 1944 mit einem Auto abgefahren sei; tatsächlich aber sei es genau umgekehrt gewesen! Umso besser, er konnte jetzt beweisen, daß er im Frühjahr 1943 wieder abgefahren war.

 

 

Zufälligerweise habe er wegen einer anderen Sache mit seinem alten Freund Walter Rohland von der Ruhr Stahlindustrie telefoniert (in den letzten Jahren des Krieges Leiter des Ruhrstabes, zuständig für den Panzerbau, und später mustergültiger Subskribent des Schulgeldfonds, der erste Mensch nach Wolters, dem Speer als freier Mann einen Besuch abstattete). Es habe sich ergeben, daß Speer die lästige Posen-Kontroverse erwähnte, als

 

'Dr. Rohland mir spontan erklärte, daß er sich genau an unsere Fahrt in das Hauptquartier Hitlers und an ein abendliches Gespräch mit Hitler erinnere. Ein Irrtum sei ausgeschlossen, da er nur dieses eine Mal (am 6. Oktober 1943) (ECKIG) in Posen anwesend war, und ihm zudem die Autofahrt mit mir unvergeßlich geblieben sei.' (ZITIERT NACH FAX VON VAN DER VAT)

 

Als ob diese eingebungsvolle Rückbesinnung noch nicht ausreichend gewesen wäre, erklärte Dr. Rohland sich bereit und dazu in der Lage, die Lilie seiner Erinnerung noch zu vergolden (VON SHAKESPEARE: ETWAS SCHÖNES SCHÖNER MACHEN): Im Rahmen der Vorbereitung seiner eigenen Memoiren habe er zufälligerweise schon am 6. Juli 1973 eine eidesstattliche Versicherung zu dieser Angelegenheit abgegeben! Vier Jahre bevor Speer seinen Gegenbeweis Nummer II antrat, hatte Rohland geschworen:

 

'Dies (eine Abrechnung der Posen-Fahrt) (ECKIG) schrieb ich vor einem Jahr (also 1972) (ECKIG) nieder, ohne vorher mit Speer hierüber irgendeine Verbindung aufgenommen zu haben.' (ZITIERT NACH SERENY, S.458)

 

 

Kein Zweifel, Dr. Rohland hatte diesen Schwur - so willkommen er für Speer ist, so unnachvollziehbar ist sein Nutzen für Rohland - wohl nur für den Fall geleistet, daß er sich irgendwann einmal als zweckdienlich erweisen könnte...

 

 

Noch nicht zufrieden mit dieser rettenden Hand eines alten Freundes, wartete Speer mit einer zusätzlichen eidesstattlichen Erklärung auf. Sie war auf den 22. Oktober 1975 datiert und stammte von Herrn Harry Siegmund, einem pensionierten Beamten, der als persönlicher Referent des Posener Gauleiters für die Organisation der Konferenz von 1943 verantwortlich war. Dieser Siegmund erinnerte sich, wie er und ein Verbindungsoffizier des Wehrkreiskommandos - ein Überbleibsel des Posemuckelschen Königshauses, der sich des Titels 'Prinz Reuss XXXVII' erfreute - Himmlers widerwärtige Rede mit Speers nüchterner, geschäftsmäßiger Ansprache zur Rüstungssituation verglichen hatten. Prinz Reuss habe in diesem Zusammenhang erwähnt, daß Speer bei der Rede Himmlers nicht zugegen gewesen sei. Obendrein zu diesem Hörensagen-Wissen, schwor Siegmund auch noch, daß er, als er am darauffolgenden Tag mit Himmler zusammengewesen sei, selbst bemerkt habe, wie dick dessen Brillengläser waren. 'Es ist daher zu bezweifeln, daß Himmler während seiner Rede im Einzelnen bemerken konnte, wer anwesend war.' (ZITIERT NACH Sereny). Außerdem sei die Beleuchtung im Saal schlecht gewesen!

 

 

Speer fügte hinzu, daß Generalfeldmarschall Milch, ein anderer alter Freund, dem revisionistischen Historiker John Toland, einem Amerikaner, erklärt habe, daß er (Speer) bei der berüchtigten Rede nicht dabei gewesen sei. Quod erat demonstrandum. Der mildeste Befund, auf den Speer wegen seiner verspäteten Verkettung von Erinnerungen ein Anrecht besitzt, ist der fragwürdige juristische Freispruch 'wegen Mangels an Beweisen'. FUßNOTE (4)

 

 

 

Zur selben Zeit, als er den Vorwurf erstmals zu entkräften versuchte, war Speer längst damit beschäftigt, seine Memoiren fortzusetzen - und zwar in Form einer wesentlichen Umstrukturierung seiner Spandauer Tagebücher, die 1975 unter dem gleichnamigen Titel als Buch veröffentlicht wurden. An diesem Projekt arbeitete dieselbe Troika - Speer, beraten von Fest und Siedler - , die auch die Memoiren herausgebracht hatte. Das Rohmaterial bestand aus drei Schachteln mit ehedem aus Spandau herausgeschmuggelten Papieren. Herr Fest erzählte mir, daß es ein großer Berg Arbeit gewesen sei, all die Aufzeichnungen zu ordnen und auszuwählen, von denen keineswegs alle präzise datiert werden konnten.

 

'Er konnte sich oftmals nicht erinnern, wann er einen nachträglichen Gedanken zu einem Ereignis gehabt hatte. Aber er hatte durchaus das Gefühl, daß das Buch eine gute Widerspiegelung der Entwicklung seines Denkens in Spandau sei.' (! ÜBERSETZT !)

 

Diese sorgfältige Flickschusterei und die eklektische Natur der Aufzeichnungen machen das Buch als historisches und auch als chronologisches Dokument wertlos. Doch es stellte eine einzigartige, wenn auch kaleidoskopische, Reminiszenz eines Gefangenen dar, der lange Jahre in Melancholie gelebt hatte. Und es erzählte davon, wie er damit fertig wurde, ohne den Verstand zu verlieren - darin lag der eigentliche literarische Wert des Buches. Als geistliche Autobiographie oder ergänzende Reflexion der großen Ereignisse, in die Speer verwickelt war, ist es mehr oder weniger überflüssig und banal. Er benötigte fast die gesamten drei Jahre seit Beginn 1972, um dieses zweite Buch fertigzustellen. Die meiste Zeit davon brachte er mit Recherchieren und Schreiben zu.

 

 

Alte Busenfreunde, wie zum Beispiel Annemarie Kempf und Theo Hupfauer, versuchten in den frühen Siebzigern, in München und anderswo Wiedersehensveranstaltungen für Speers Mitarbeiter aus Kriegszeiten auf die Beine zu stellen, und ein paar solcher Veranstaltungen fanden sogar statt. Aber die Idee vermochte sich nicht durchzusetzen, denn die meisten Leute aus Speers altem Stab hatten, während Speer im Gefängnis vor sich hin faulen mußte, ein sehr beschäftigtes Leben geführt. Sie waren alle noch am Arbeiten oder gerade erst in den Ruhestand getreten, wohingegen der Ehrengast ausschließlich zurückblicken konnte. Die andere Möglichkeit, die Speer hatte, war, sich für seinen neuen Status als Bestseller-Autor zu begeistern - aber auch dies war Vergangenheit. Der Gedanke, den Abend in Gesellschaft eines introspektiven, egozentrischen und nostalgischen Ex-Chefs zu verbringen, der vollkommen den Bezug zur Gegenwart eingebüßt hatte, verlor schon bald seinen Reiz. Und noch ehe sich die Idee richtig durchsetzen konnte, schrumpften die zirka fünfzig Teilnehmer, die sich anfangs eingefunden hatten, auf zwanzig zusammen. Speer war sehr einsam in den letzten fünfzehn Jahren seines Lebens. Dies ist ein anderer wichtiger Grund, warum er sich über Briefe und Besuche aus aller Welt freute. Und indem er durch Interviews und Briefeschreiben seinen Platz in der Geschichte massierte, massierte er gleichzeitig sein isoliertes Ego, das nicht im Stande war, seine Familie zu erreichen (wie mir mehr als ein Familienmitglied bestätigte).

 

 

Am 25. Juli 1973 hatte Hermann Speer es sich in den Kopf gesetzt, die Antisemitismus-Verleugnungen des jüngeren Bruders Albert in einem Brief mit Spott zu bedenken/überschütten. Hermann hatte sein elterliches Grundstücks-Erbe längst auf den Kopf gehauen und Albert schon vor Erscheinen seines Buches mehrmals angepumpt. Er bemühte sich, einen Auftrag für ein eigenes Buch über seinen Bruder an Land zu ziehen. Gleichzeitig befand er sich aber wegen eines Mannheimer Familienbesitzes mit Albert im Streit. In der Hoffnung auf Unterstützung bei der Realisierung dieses Buches über 'Meinen kleinen Bruder Albert' FUßNOTE (5) nahm Hermann nachweislich Kontakt mit Werner Maser auf, jenem deutschen Historiker, der die Erinnerungen (KURSIV) so überaus kritisch beurteilt hatte (und 1977 die Behauptung aufstellen sollte, Speer hätte eine geheime Absprache mit dem Nürnberger Chefankläger, Justice Jackson, getroffen). Hermann bezichtigte seinen Bruder, 'mit diesem dummen Antisemitismus' weiterzumachen. Er behauptete, Albert habe Himmler 1983 die Idee unterbreitet, man solle die Insassen des, nördlich von Berlin gelegenen, Konzentrationslagers Oranienburg zwingen, Backsteine für den Umbau der Hauptstadt herzustellen. Desweiteren beschuldigte Hermann ihn, damals gehöhnt zu haben, 'Schließlich haben die Juden unter den Pharaonen auch schon Steine gehauen.' FUßNOTE (6) Der Spiegel (KURSIV), der 1975 über diesen Bruderzwist von 1973 berichtete, postulierte hinsichtlich des beabsichtigten Buchprojekts eine Zusammenarbeit zwischen Maser, Hermann Speer und Rudolf Wolters. Dazu kam es jedoch nicht, da die Anwälte von Ullstein, dem Verlag Albert Speers, eingeschritten waren. In den Unterlagen Wolters' finden sich keinerlei Spuren von irgendeiner Korrespondenz zwischen ihm und Hermann Speer; dagegen gibt es eine Anzahl von Ausschnitten und anderweitigen Hinweisen auf den plagenden und geplagten, nichtsnutzigen Bruder.

 

 

Mitte des Jahres 1973 wurde Albert Speer bei seiner Ankunft am Londoner Flughafen Heathrow, eingesperrt; er wollte dem BBC-Fernsehen ein Interview zu einer Sendung über Bombentechnik im Zweiten Weltkrieg geben und hatte seinen Sitzplatz unter dem Pseudonym Reeps gebucht - ein spaßiges und transparentes Andenken an die phantasielosen Codenamen der illegalen Spandauer Korrespondenz. Die britischen Einwanderungsbehörden, berüchtigt für ihren Mangel am nationalen Sinn für Humor, beurteilten die Angelegenheit sehr pessimistisch und buchteten Mr. Reeps acht Stunden lang ein, ehe sie ihm dann doch für zwei Tage Einlaß gewährten. Die Beschähmung der BBC wurde verdoppelt, als Sir Arthur 'Bomber' Harris, der Veteran eines Kampfbomber-Kommandos der Royal Air Force, wütend die Flucht ergriff und eine Teilnahme an jeglicher Fernsehsendung mit Albert Speer ablehnte. FUßNOTE (7). Die Unfähigkeit des ehemaligen Reichsministers, irgendeiner Anfrage abschlägig zu begegnen, wurde im selben Monat gleich noch einmal illustriert, als Speer bestürzenderweise dem Wunsch einer amerikanischen Film- und Fernsehgesellschaft entsprach, nach Nürnberg zurückzukehren und sich noch einmal auf die Anklagebank zu setzen. Für ein dickes Honorar sollte er Werbung für einen völlig fiktiven Thriller mit dem Titel The Tribunal (2x KURSIV) machen, der davon handelte, wie Kriegsverbrecher während der Nürnberger Prozesse befreit werden. FUßNOTE (8)

 

 

1975, kurz vor Speers siebzigsten Geburtstag am 19. März, entschied Rudolf Wolters, der einen Großteil des vergangenen Jahres krank gewesen war, ein Friedensangebot zu unterbreiten. Es bestand aus einem westfälischen Knochenschinken und einem langen Stück Toilettenpapier mit einem scheußlichen Knüttelvers darauf, den Marion Riesser getippt hatte (durch den Tremor war es für Wolters gänzlich sinnlos geworden, seine unleserliche Handschrift für solch einen Zweck einzusetzen). Speers Reaktion war freundlich. Er schickte ihm ebenfalls ein unechtes Kassiber und sagte, daß Wolters' Geste sein 'bestes Geburtstagsgeschenk' gewesen sei; trotzdem überließ er seinem alten Freund die Entscheidung, ob er die auf diese Weise neu aufgenommene Verbindung aufrechterhalten wolle: 'Du (KURSIV) gibst diesmal das Tempo an!' (Speers Hervorhebung). Ein Wink von Wolters und er würde angelaufen kommen, schrieb Speer am 3. April. Aber das war exakt das, was Wolters gerade eben getan hatte; zweifellos kopfschüttelnd über die Inkompetenz seines ehemaligen Meisters in menschlichen Beziehungen, schrieb er am 27. Mai abermals einen Brief und schlug freundschaftlich einen jährlichen Austausch von Geburtstagsgeschenken in Form westfälischen Schinkens und Heidelberger Honigs vor. Das ganze Jahr hindurch wurden unsichere Briefe hin und her geschickt. Doch als Wolters ihm eine wohlüberlegte, fünfseitig getippte, Kritik zu seinen Tagebüchern zuschickte, war dies für Speer am Schluß Grund genug, eine siebenseitige Apologie seines neuen Buches zurückzuschicken. Dieses Schreiben läßt keinen Zweifel daran, daß es sich um eine Fortsetzung seiner sechs Jahre früher erfolgten Verteidigung seiner Memoiren handelt. Da sich die Argumente der beiden im Wesentlichen genauso entwickelten wie die von 1969, müssen sie hier nicht wiederholt werden. Und so überrascht es einen auch nicht, daß keiner beiden von seinem Standpunkt abrückte. FUßNOTE (9)

 

 

Doch Wolters hatte es im Januar 1975 abgelehnt, sich an der geplanten Organisation eines besonderen Festakts zu Speers siebzigstem Geburtstag, die dessen ehemalige Mitarbeiter vorgeschlagen hatten, zu beteiligen. Wolters war nicht bereit, ihm zu begegnen - und sollte es nie mehr sein. Seine Mißbilligung von Speers Rechtfertigungs-Tat (er betrachtete es als eine Tat, und das mit Grund, wie sich herausstellen wird) führte dazu, daß er am 27. Juni 1975 an David Irving schrieb, um ihm zur Erscheinung seines Buches über Hitlers Generäle zu gratulieren. Darin zweifelte er die allgemein anerkannte Gesamtmenge von sechs Millionen im Rahmen der Endlösung ermordeten Juden an. Wolters war der Ansicht, daß diese Zahl eine Null zu viel aufweise. Irving schrieb am 10. Juli zurück und begrüßte Wolters als den Autor jener Chronik, die er für sein 1966 erschienens Buch über die V-Waffen zitiert hatte. Die Tiefe von Wolters Verbitterung wird durch einen Brief vom 11. August an Arno Breker, den Bildhauer und Architekten, veranschaulicht, der zahlreiche Aufträge von Speer erhalten hatte, als dieser noch Architekt und Generalbauinspekteur war. Wolters fand, es sei ein Glück, daß Speer nur die Sünden Deutschlands auf seine Schultern geladen habe und nicht gleich die der ganzen Welt, 'sonst hätte er Jesus die ganze Show gestohlen'. Die Verkaufszahlen der Spandauer Tagebücher (2x KURSIV) seien dafür aber auch etwas geringfügiger als die der Bibel. Auf Anraten Siedlers, seines Verlegers, hatte Speer 60.000 Exemplare signiert. Wolters bemerkte dazu schadenfroh, sein örtlicher Buchverkäufer habe ihm gesagt, daß die Bücher dadurch ihren Wert verlören. Auszüge aus seiner riesigen Korrespondenz zeigen, wie sehr ihn die Sache mit Speer quälte; eine Tatsache, die dazu beitrug, daß er zum ergiebigsten Zeugen und zur ergiebigsten Quelle avancierte, was Speers allgemeinem Charakter, wie auch das spezielle Thema seiner Aufrichtigkeit als Büßer anbelangt. FUßNOTE (10) Wolters' Sichtweise geriet später auf eine subjektive Bahn; nichtsdestotrotz kann man auch diese Ansichten als ausgegoren bezeichnen, da sie auf der Grundlage sorgfältig zusammengetragener wiewohl behüteter Indizien/Anhaltspunkte entstanden waren.

 

 

Unterdessen wurde Speer einmal mehr daran erinnert, daß er nicht 'Everybody's Darling'/'jedermanns Liebling' war; nämlich als der 'Bund demokratischer Wissenschaftler' einen (nicht sehr demokratischen) Protest gegen das Vorhaben der Heidelberger Universität organisierte, ihn zur Teilnahme an einem interdisziplinären Symposium über die Nazi-Zeit einzuladen. Nach einer kommunistischen Demonstration gegen seine Teilnahme, kehrte Speer bereits zu Beginn der Veranstaltungen, Anfang April, wieder nach Hause zurück und blieb dort.

 

 

Die Tagebücher (KURSIV) erwiesen sich zwar in den Bestsellerlisten nicht als solche Renner wie die Erinnerungen (KURSIV), aber sie überboten noch immer fast jedes andere Buch eines deutschen Autors, das seit dem Ende des Krieges geschrieben worden war. Im August berichtete Der Spiegel (2x KURSIV), Herausgeber der wichtigsten Bestsellerlister des Landes, daß 180.000 Exemplare von einer 350.000er Hardcover-Auflage verkauft worden seien; Die Welt (2x KURSIV) hatte 600.000 Mark für die rechte eines Serienabdrucks bezahlt und der New Yorker Verlag Macmillan 350.000 Dollar für die englischsprachige Lizenz.

 

 

Trotz seines Erfolges und seines Ruhms als Autor nach zwei solchen Bestsellern, hielt Speer an seiner Politik fest, niemals einem geschichtsinteressierten Kundschafter die Tür zu weisen. 1976 war Ernst A. Ostro an ihn herangetreten, ein in Genua lebender Historiker und ursprünglich ein deutscher Jude, dessen Eltern vorausschauend und glücklich genug gewesen waren, 1933 aus Deutschland zu emigrieren. Herr Ostro erhielt sein Interview und wurde für weitergehende Informationen an Wolters verwiesen; er besuchte Coesfeld 1977 zweimal, aber Wolters schickte seinen Gast bald wieder fort, da dieser lediglich an Anekdoten interessiert war. Ostro gab die Idee auf, eine Biographie zu veröffentlichen, und Wolters hörte nie wieder etwas von ihm. Nichtsdestotrotz hatte er zwischen den zwei Besuchen, am 7. April 1977 einen Brief über Speers Charakter an Ostro geschrieben. Darin erzählte er, wie Albert Speer mit seinem 'Charme' erst Tessenow, ihren gemeinsamen Berliner Professor, und dann Hitler eingewickelt habe - und letztlich jeden, der mit ihm näher bekannt geworden sei. Sein eigentliches Ziel seien jedoch Geld und Geltung (KURSIV) gewesen (siehe oben; eine Wendung, die ihm offensichtlich gefiel, da, seit er sie 1975 ersonnen hatte, sie in verschiedenen seiner Briefe Verwendung fand). Doch Speer liebe auch hinterlistige Streiche und besitze die Fähigkeit, sehr verletzende Bermerkungen fallen zu lassen sowie diejenigen subtil zu piesacken, die ihm in die Quere kamen. Sein Charakter, so Wolters, habe sich nicht bloß durch die zwanzig Jahre Gefängnis verändert, sondern auch durch die verquere Haltung, die er in Nürnberg bezeugt habe, wo er sich seinen Mitangeklagten gegenüber unloyal verhalten habe.

 

 

Sein zur Profession gewordenen Wunsch, den gewöhnlichen Deutschen vor der Verdammnis zu retten, habe genau das Gegenteil bewirkt. Dadurch, daß er den Feind entlastete und Hitler belastete, habe er dem deutschen Volk, das ihn unterstützte (wie die Tatsache erkennen lasse, daß es keinen echten Widerstand gegen ihn gab), die ganze Schuld zugeschoben. Speer 'übernimmt generell die Verantwortung für die Ermordung der Juden, von der er nichts gewußt hat' und erwähnt mit keinem Wort die Massen von feindlichen Soldaten und Zivilisten, die von den Waffen getötet wurden, die er selbst gebaut hat. Speer habe erklärt, er wäre Hitlers Freund gewesen, wenn Hitler welche gehabt hätte; das gleiche treffe auf Wolters in bezug auf Speer zu. Als Pragmatist sei Speer 'nur zu denen freundlich gewesen, die ihm nützlich waren'. FUßNOTE (11) Die Verbitterung Wolters war offenbar recht anständig gediehen.

 

 

Ähnlich verhielt es sich auch mit Speers fortwährender Läuterung, wenn er unbeirrt seine Mitschuld an den Naziverbrechen eingestand. Im April 1977 erreichte ihn vom Vorsitzenden des Board of Deputies (3x KURSIV) (Ausschuß der Vertreter) der südafrikanischen Juden eine ungewöhnliche Bitte um Hilfe. Der Ausschuß hatte eine Aktion gegen extreme Rassisten des Landes initiiert, die sich nicht mit der Verfolgung von Millionen 'Nichtweißer' unter der Apartheid begnügten, sondern auch ein Pamphlet mit dem Titel 'Did six million die?' verbreitet hatten, mit dem sie den nazistischen Genozid anfochten. Der Ausschuß wäre Speer dankbar, wenn er freundlicherweise bestätigen würde, daß es einen Plan gegeben habe, das europäische Judentum auszurotten, daß er davon gehört habe, und daß dieser Plan auch durchgeführt wurde (und woher er dies wußte). Speer reagierte mit einer dreiseitigen eidesstattlichen Erklärung, die dazu beitrug, den erwünschten Effekt, also eine gerichtliche Verfügung gegen die beleidigende/verletzende Publikation, zu erzielen. Darin versicherte er:

 

 

'Ich halte es ... heute noch für richtig, die Verantwortung und damit die Schuld für alles auf mich zu nehmen, was nach meinem Eintritt in die Hitler-Regierung am 8. Februar 1942 an Verbrechen, in generellem Sinne, begangen wurde. Nicht die einzelnen Fehler belasten mich, so groß sie auch sein mögen, sondern mein Handeln in der Führung ... Meine Hauptschuld sehe ich immer noch in der Billigung der Judenverfolgung und der Morde an Millionen von ihnen.' (ZITIERT NACH SERENY, S. 817) FUßNOTE (12)

 

 

Dies ist eine destillierte Version dessen, was er 1971 zum anhaltenden Zorn Wolters erstmals dem Playboy (KURSIV) gegenüber zugegeben hatte: Daß er zuallermindest die Verfolgung der Juden toleriert, wenn nicht sogar gutgeheißen habe - eine semantisch und logisch unmögliche Haltung für jemanden, der nichts weiß. Speer wußte (KURSIV). Und zusätzlich zu seinem Eingeständnis, daß er die generelle Schuld der Nazis mitzutragen habe, ließ er sich auch wenigstens dreimal in den letzten zehn Jahren seines Leben dazu breitschlagen, zuzugeben, daß er damals von ihren Verbrechen gewußt hatte. Daß er die ganze (KURSIV) Wahrheit gesagt hat, ist allerdings nicht schriftlich belegt; denn diese Wahrheit müßte seine persönliche Rolle bei der Judenverfolgung, daß er 75.000 von ihnen aus ihrer Berliner Heimat vertrieb, mit einbeziehen.

 

 

Als Gitta Sereny während ihrer Marathon-Befragung im Februar 1978 mit Nachdruck auf eine klare Stellungnahme drängte, ob er nun zu der Zeit, da der Holocaust stattfand, davon gewußt habe, kramte er aus seinen Akten die südafrikanische eidesstattliche Versicherung heraus und zeigte sie ihr - dies ist seine Art, mitzuteilen, was er wußte und wann. (Sie konnte damals beziehungsweise vor Speers Tod noch nichts von seiner persönlichen Rolle gewußt haben, da sie erst durch die unbereinigte aber damals noch ungeöffnete Chronik für 1941 bis 1942 nachgewiesen/dokumentiert wurde.) Speer hatte Sereny im Jahr zuvor angerufen, um sie sowie ihren alten Freund, Lewis Chester, (der auch mein Freund ist), dafür zu loben, daß sie der Menschheit gemeinsam einen großen Dienst erwiesen hätten. Die beiden hatten nämlich Irvings Hypothese, daß Hitler vor Himmlers Posen-Rede am 6. Oktober 1943 vom Holocaust nichts gewußt habe, detailliert widerlegt. Sereny bat um eine Zusammenkunft und auf diese Weise begann die lange Reise, die 1995 zu ihrem Buch führte. Gemäß ihrer ursprünglichen Interview-Fassung in Der Zeit (2x KURSIV) fand, bevor er ihr jenes Dokument zu lesen gab, folgender Dialog statt:

 

 

Speer: Ich kann sagen , daß ich es ahnte

 

Sereny: Daß Sie was ahnten?

 

Speer: Daß etwas entsetzliches mit den Juden passierte...

 

Sereny: Aber wenn Sie es "ahnten" - dann müssen Sie etwas gehört haben. Man nicht ins Leere ahnen, ohne etwas zu wissen. Sie wußten es. (ZITIERT NACH FAX VON VAN DER VAT)

 

 

Machen wir Nägel mit Köpfen. Speer hatte genauso viel zugegeben, wie zunächst mit seinem Billigungs-Geständnis 1971 im Playboy (KURSIV) und dann wieder mit seiner eidesstattlichen Versicherung, die er 1977 nach Johannesburg schickte. Zum dritten Mal, so explizit, wie er es überhaupt jemals tun sollte, gestand er nun Frau Sereny gerichtet, der er 1978 außerdem konzedierte, daß ein solch vorbehaltloses Schuldbekenntnis in den Augen der Öffentlichkeit und der Geschichte sein Ansehen verändern werde: 'Aber es wäre eine Erleichterung'. Jedenfalls sagte er ihr nicht ein einziges Mal etwas über die Vertreibung der Berliner Juden... Aber immerhin erklärte er dem Zeit Magazin (2x KURSIV), was er mit der Verwendung des Wortes 'Billigung' in jener eidesstattlichen Versicherung gemeint habe. In der relevanten dritten Folge der Sereny-Serie in jener Zeitungsbeilage ist folgendes dokumentiert:

 

 

'In einer handschriftlichen Mitteilung an das Zeit-Magazin (2x KURSIV) erläutert Speer das Wort "Billigung": "Billigung durch Wegsehen, nicht durch Kenntnis eines Befehls oder der Durchführung. Das erstere ist so schwerwiegend wie das zweite."' (ZITIERT NACH SERENY, S. 817) FUßNOTE (13)

 

 

 

Viel erfreulicher fand Speer die Tatsache, daß 1978 ein reich illustrierter Bildband über seine Architektur erschien, der von Georg G. Meerwein herausgegeben und bei Propyläen von Siedler verlegt wurde. Speer verfaßte dazu eine knappe Einleitung (auf den 9. Mai datiert), die zu dem nüchternen Schluß gelangt:

 

'Dieser Band hier, eine Handvoll Fotos, Skizzen, Modelle, ist alles, was geblieben ist von einem Bauverlangen, das seinesgleichen nicht in der neueren Geschichte kennt.' (ZITIERT NACH FAX VON VAN DER VAT)

 

Wolters, der Ende 1978 in den Ruhestand getreten war, schickte Speer zur Erscheinung des Buches am 2. Januar 1979 einen Gratulationsbrief; Speer bedankte sich am 28ten kurz aber herzlich dafür. Es war dies das letzte Aufglimmen ihrer Freundschaft. Ein ähnlicher Band mit der gleichen Aufmachung, aber englischem und französischem Paralleltext, wurde von Leon Krier herausgegeben und 1985 in Brüssel verlegt.

 

 

1979 brachte Adelbert Reif einen Band mit dem Titel Albert Speer - Technologie und Macht (5x KURSIV) heraus. Reif hatte als Herausgeber und Verleger in den vergangenen Jahren eine Materialsammlung über Albert Speer publiziert, darunter seine Nürnberger Verteidigung, allgemeine Artikel über ihn sowie die wichtigsten Rezensionen zu seinen Erinnerungen (KURSIV) und Spandauer Tagebüchern (2x KURSIV). Dieses ungewöhnliche neue Produkt ist im Prinzip ein Frage-und-Antwort-'Interview' von der Länge eines Buches, in welchem Speer sich auf dieselbe Weise über die im Titel angerissenen Themen ausläßt, wie er es bereits in seinen eigenen Büchern getan hatte. Das Bändchen beinhaltet auch die südafrikanische eidesstattliche Erklärung, einschließlich der erläuternden Fußnote zum Begriff 'Billigung', fügt jedoch dem Speer corpus (KURSIV) nur wenig hinzu. Speer selbst forschte zu dieser Zeit schon wieder in den Archiven.

 

 

Albert Speer hatte ursprünglich geplant, ein drittes Buch zu schreiben, diesmal über deutsche Munition im zweiten Weltkrieg, war dann in Koblenz jedoch über einige Himmler-Papiere gestolpert. Deshalb, so erklärt er im Vorwort, habe er als Thema dieses gesamten dritten und letzten Opus (anstelle eines einzelnen Kapitels) die Rolle der SS im Dritten Reich gewählt. Es sollte 1981 in Deutschland und England unter dem Titel Der Sklavenstaat (2x KURSIV) und in Amerika als Infiltration (KURSIV) erscheinen. Dieses Buch läßt den Vergleich mit den ersten beiden nicht zu; post Festum fiel seine Prosa wieder in den alten Stil zurück - pedantisch, unbeholfen, mühsam.

 

 

Indem er die SS als ein Staat innerhalb der Partei, innerhalb des Staates beschreibt, zeigte Speer, daß Himmlers 'brutale und amateurhafte' Methoden auf Grund purer Ignoranz gescheitert sind. Der Wirtschaftsfachmann der SS, Obergruppenführer Oswald Pohl, sei genauso beschränkt und untauglich gewesen wie der frühe/anfängliche SS-Plan, Waffen im Lager Buchenwald (und später in verschiedenen anderen Lagern) herzustellen. Das Zusammenwirken von Hitlers Genozid-Absichten mit der Ineffizienz der SS ließen beides scheitern - sowohl Himmlers wirtschaftliche Ambitionen als auch die kriegerischen Bestrebungen gegen Rußland. Himmler habe seine Chance bekommen und sie verspielt, indem er Zwangsarbeiter eingesetzt und sie als Teil der Endlösung zu Tode habe arbeiten lassen. (Man schließt daraus, daß die Brutalität der SS gegen die Zwangsarbeiter auf der Arroganz der absoluten Macht basierte, auf der Anmaßung, daß es da, wo es etwas zu holen gibt, immer auch noch mehr gibt, und auf der Indifferenz gegenüber solchen Faktoren wie Geschicklichkeit/Fähigkeit zur Herstellung von Waffen, eine Fähigkeit, die in der begrenzten zur Verfügung stehenden Zeit unerläßlich war.) Speer zeichnet ein ebenso detailliertes wie allgemeines Bild davon, wie Himmler, Pohl, Kammler und deren Busenfreunde anfingen, ökonomische Ansprüche innerhalb des Reichs und im Osten zu erheben. Dabei nutzten sie in beiden Fällen die eigenen Resourcen aus und drangen in die Zuständigkeitsbereiche anderer Abteilungen ein, einschließlich in denjenigen von Speer selbst (wobei Saur ihnen massive Hilfestellung leistete). Im siebzehnten Kapitel wird beschrieben, wie Speer in seiner Radioansprache, die er zwar geschrieben aber niemals gehalten hatte, verlangte, daß man den vorrückenden Alliierten sämtliche in den Lagern befindliche Juden und politischen Häftlinge ausliefern solle, um späteren Ärger zu vermeiden. Dann geht er mit Teil IV zum Schicksal der Juden über.

 

 

Hier, im achtzehnten Kapitel, ist Speer bestrebt, andere für die Deportation der Juden aus Berlin verantwortlich zu machen, während er seine eigene Hauptbeteiligung, die er, wie wir gesehen haben, niemals zugegeben hat, weiterhin unter den Tisch kehrt. Nachdem Speer 1942 die Munition übernommen hatte, habe das Berliner Rüstungsinspektorat versucht, so schreibt er, den Abtransport der in der Waffenindustrie arbeitenden Juden zu verhindern, da diese ein erhebliches Potential an Facharbeitskräften darstellten. Doch im September 1942 habe Hitler dem Generalbevollmächtigten für Arbeitseinsatz, Sauckel, den Befehl erteilt, all diese jüdischen Arbeiter nach Osten (also in die Zwangsarbeits- und Vernichtungslager) deportieren zu lassen, sei es aus Berlin (wo die meisten von ihnen waren) oder sonst woher.

 

 

In Wahrheit hatten diese 'Umsiedlungen' bereits im Oktober 1941 begonnen; bis zum 25. Januar 1942 waren 8.000 jüdische Mitbürger hinausgetrieben worden. Eine Verknappung an Fachleuten führte zu einer Unterbrechung, trotzdem wurden die verbliebenen Juden für die Annehmlichkeit späterer Einsätze abgestellt. Im Herbst seien noch 75.000 Juden in Berlin gewesen, von denen 20.000 in der Rüstung und 10.000 im Maschinenbau eingesetzt wurden (wie die Chronik beweist, hatte Speer bereits eine große Anzahl aus ihren Wohnungen vertreiben lassen; viele mußten deshalb zusammen mit anderen Juden in engen Notunterkünften leben) - Speer schreibt dies ohne jeglichen Hinweis darauf, wie seine eigene GBI-Abteilung mit dem Einsatz von Bomben jüdische Häuserblöcke 'säuberte', zunächst, um neuen Bauprojekten platz zu machen und dann, was dringlicher war, um verwundete Soldaten und heimatlos gewordene Arier unterzubringen.

 

 

Goebbels, örtlicher Gauleiter wie auch Propagandaminister und unübertroffener Antisemit, bemängelte im Mai 1942, daß noch 40.000 Juden in Berlin seien (17.000 in der Rüstungsproduktion) - mithin ein Drittel von all denjenigen, die sich noch in Deutschland aufhielten, wo 1933 rund 570.000 Juden gelebt hatten. Im September, schreibt Speer, habe Sauckel versprochen, die in Berlin verbliebenen jüdischen Arbeitskräfte durch polnische zu ersetzen, die allerdings in jedem Falle erst einmal angelernt werden müßten. Dieser Prozeß war mit der nächsten Etappe ethnischer Säuberungen in Berlin und in den Waffenfabriken noch lange nicht abgeschlossen: 11.000 weitere Juden wurden im Februar 1943 'evakuiert'. 4.000 seien hingegen durchs Netz geschlüpft, merkt Speer an, und fügt hinzu, daß eine nicht identifizierte sowie ihm unbekannte Person seines Ministeriums in der Lage gewesen sei, einige Juden mit Pässen zu versorgen, so daß diese der Verfolgung entgehen konnten. Speer beanspruchte diesen Verdienst nicht für sich, denn er sagte, daß er selbst keinen solchen Auftrag erteilt habe. Seine Darlegung der Ereignisse deckt sich mit den Dokumenten in Koblenz.

 

 

Hitler, Sauckel und vor allem Goebbels (ersichtlich aus seinen eigenen Tagebüchern) waren die Hauptbeteiligten bei der Verfolgung der Berliner Juden, und ein jeder von ihnen hatte mehr zu verantworten als Speer und Dietrich Clahes, sein Hauptvollstrecker/Chefbeauftragter für die Juden-Vertreibung, zusammen. Doch Speers Darstellung ist trügerisch: Er lügt, indem er seine eigene Beteiligung verschweigt - sein innerstes Geheimnis, dessen letzte Verteidigungslinie jenes widerwillige, häppchenweise Eingeständnis war, er habe bei den größten Nazi-Verbrechen ein Auge zugedrückt - diese letzte entwaffnende Konzession diente lediglich dem Zweck, seine wahre Schuld zu verschleiern.

 

 

Speer spendete jüdischen Wohlfahrtsorganisationen weiterhin große Mengen jener Tantiemen, die er noch aus den ersten beiden Büchern erhielt, während er bereits für sein drittes recherchierte. Im Sommer 1979 scheffelte er durch einen sensationellen Verkauf von Skizzen, die Hitler während ihrer langen architektonischen Verbindung gezeichnet hatte, eine beträchtliche Menge Geld in seine eigene Kasse. FUßNOTE (14) Der pfiffige ehemalige Hofarchitekt, so stellte sich heraus, hatte die vom Führer aus seinem vielbenutzten Skizzenblock herausgerissenen Zeichnungen, aufgehoben, am Ende des Krieges einem nicht identifizierten Freund zur Aufbewahrung anvertraut und - als Hitler lange genug tot war, um seine Erinnerungsstücke vermarkten zu können - sie zur Versteigerung auf einer Auktion wieder aus der Vesenkung geholt. Der Wert dieser uninspirierten Zeichnungen lag ausschließlich in deren Urheberschaft. Dies bedeutete, daß der entsprechende Markt von Nazi-Sentimentalisten und neofaschistischen 'Militaria'-Sammlern dominiert wurde. Die Skizzen gingen auf 1934 zurück; Speer hatte 1937 begonnen, sie systematisch zu sammeln, denn er wurde damals gerade zum Generalbauinspektor berufen. Die Aufgabe der Aufbewahrung delegierte er an Otto Apel, den damaligen Chef seines Architekturbüros (und mit Sicherheit ein aussichtsreicher Kandidat für den 'nicht identifizierten Freund'; Apel starb 1966, noch ehe er Speer hatte helfen können, nach der Freilassung wieder als Architekt Fuß zu fassen). Um die Echtheit der Werke zu beglaubigen, wurden im Verkaufskatalog jeweils Datum, Gegenstand und Entstehungsort der einzelnen Positionen aufgeführt, und woimmer möglich, stellte Speer bei jeder Skizze einen Bezug zu seinen Erinnerungen (KURSIV) her.

 

 

Der Handel florierte und die Zeichnungen brachten pro Stück zwischen 3.000 und 5.000 Mark ein. Um den Markt nicht zu untergraben, stellte Speer den Verkauf für einen Zeitraum von drei Monaten ein - er hatte zu seinem Ärger erfahren, daß einige der Zeichnungen bereits in den Vereinigten Staaten wiederverkauft worden waren, und zwar für dieselben Beträge in Dollar, die sie hier in Mark eingebracht hatten. Nazistische Souvenir-Jäger mit großen Portemonnaies gingen in den Vereinigten Staaten, wie immer, geschäftstüchtiger und freier mit ihrem Geld um als anderswo (es gibt auch in England unglaublich viele solcher Leute, aber diese tendieren eher zum fiskalen und intellektuellen Reichtum). Als er gegenüber der Hamburger Zeitschrift Stern (KURSIV) die Verkäufe bestätigte, und man sich dort vernehmlich wunderte, warum er die Kollektion nicht dem Bundesarchiv angeboten habe, sagte Speer, er habe ein oder zwei davon an Freunde abgetreten; die anderen Verkäufe seien hingegen nicht erwähnenswert; noch wurden sie jüdischen Organisationen übereignet, die ohnehin nach wie vor Tantiemenanteile von ihm erhielten. Es war bereits eine unverbesserliche Geschmacklosigkeit, für eine amerikanische Mini-Fernsehserie auf der Nürnberger Angeklagtenbank zu posieren. Diesmal schlug er aus dem Gekritzel desjenigen Mannes Kapital, der ihn berühmt gemacht hatte und dem er auch schon sehr profitabel die Hauptlast jener Verbrechen zugeschrieben hatte, hinsichtlich derer er zuerst seine Verantwortung, dann seine Schuld und schließlich seine Billigung proklamierte (doch selbstverständlich niemals seine Teilnahme).

 

 

 

Um sein langes, Ende 1979 geführtes, Interview mit Albert Speer zu ergänzen, stattete Matthias Schmidt, Doktorand des Friedrich-Meineke-Instituts für Geschichtsforschung in Westberlin, dem zunehmend gebrechlicher werdenden Dr. Rudolf Wolters im Frühling 1980 in Coesfeld einen Besuch ab; Speers hatte es sich jetzt scheinbar zur Gewohnheit gemacht, bei solchen Untersuchungen auf seinen alten Komplizen zu verweisen. Wolters, offenkundig beeindruckt von der Fähigkeit und Herangehensweise des jungen Mannes, ließ sich das Versprechen geben, daß der Besucher nichts ohne seine ausdrückliche Zustimmung veröffentlichen werde, und gewährte ihm dann einen Einblick in sein persönliches Archiv. Damit wurde Schmidt der erste bekannte Mensch, der die ungeöffnete Chronik nach deren Verfasser, Überträger und Protagonist - Wolters, Riesser und Speer - sehen sollte. Ihm entging auch die durch Speer initiierte Konspiration nicht, mit der die Bereinigung der Chronik vertuscht werden sollte - jene 'Reinigung', die Wolters 1964 spontan vorgenommen hatte, fünf Jahre bevor Speer das geöffnete Exemplar voreilig nach Koblenz schickte, obwohl er von Irvings Entdeckung eines ungekürzten Jahrgangs wußte.

 

 

Nachdem ihm die Bedeutung dessen, was er hatte sehen dürfen, bewußt geworden war, bemühte sich Schmidt gleich darauf um ein Folge-Interview mit Speer. Im Verlaufe dieses Gesprächs leugnete Speer ausdrücklich, etwas von der Existenz einer Chronik, die von anstößigen Stellen gesäubert wurde, zu wissen oder das Bundesarchiv getäuscht zu haben. FUßNOTE (15)

 

 

 

Bald nach Schmidts zweiter Speer-Befragung, im April 1980, war Rudolf Wolters, Opfer chronischen Bluthochdrucks, erstaunt, einen auf den 14. April datierten Brief von Professor Dr. Martin Löffler, einem Stuttgarter Rechtsanwalt, zu bekommen. Löffler bat ihn darin, zu bestätigen, daß das Copyright/die Urheberrechte für alle in Wolters' Besitz befindlichen Schriften von seinem Klienten, Albert Speer, ausschließliches Eigentum des besagten Klienten seien - sowohl Originale als auch Duplikate. Löffler war unter Flächsner ein Juniormitglied des Speerschen Verteidigungsteams in Nürnberg gewesen. Er wies darauf hin, daß der Brief, den Speer am 10. August 1946 von seiner Zelle aus an Wolters geschrieben habe, unter völlig anderen als den nun herrschenden Umständen geschrieben worden sei. Durch Speers Verfügung vom 6. März 1963 sei dieses Schreiben auf jeden Fall aufgehoben, da an seiner Stelle Hilde Speer zum literarischen Agenten und/oder Bevollmächtigten eingesetzt worden sei. Wie der Leser sich denken kann, gehörte der Angesprochene nicht zu der Sorte von Menschen, die einen solchen Briefen zerreißen und in den Müll werfen - seine Stärke, sei es als neuestes Ärgernis für Speer, sei es als historische Quelle, leg in seiner Angewohnheit, alles aufzubewahren - dennoch beschloß er, den Brief zu ignorieren.

 

 

Die lebensbedrohliche Wut die in Wolters aufstieg, als er Löfflers zweiten Brief vom 2. Mai öffnete, war unbeschreiblich; der Anwalt beschwerte sich darüber, daß Wolters den ersten Brief nicht erwidert habe - und gab ihm sieben Tage für eine Antwort, wobei er Gerichts- und Anwaltskosten zu tragen hätte. Der alte Mann hielt es für an der Zeit, seinen eigenen hervorragenden Anwalt, Dr. Rudolf Lauscher aus Düsseldorf, anzurufen, der am 6. Mai eine hinhaltende Antwort (HOLDING REPLY - FACHTERMINUS ??) schickte, in der er um Einsicht in Speers Vollmacht zu Hildes Gunsten bat.

 

 

Dies sei irrelevant, erwiderte Löffler am 23. Mai großspurig; es gehe um die grundlegenden Rechte seines Mandanten an dem, was dieser geschrieben habe. Mit einer kaum zu glaubenden Arroganz und Unsensibilität erhob Löffler in schwer verständlichem Juristen-Kauderwelsch nun also Anspruch auf all das, was Wolters über die Jahre hinweg für Speer getan hatte, denn der Brief aus Nürnberg stelle schließlich nichts weiter dar, als einen 'unentgeltlichen Freundesauftrag'. So viel zu fünfzehn und mehr Jahren unablässiger und weitgehend krimineller Tätigkeit: Als Bewacher von Speers geheimen Schriften, als Vaterersatz und Familienberater, Allzweckfreund, unermüdlicher Werbekampagnen-Aktivist, Laufbursche und Schulgeldfondsgründer. Es gehört nicht viel dazu, sich die tatterige doch geistig fitte apoplektische Rage des alten Mannes auszumalen. Ob er freundlicherweise bis spätestens zum 10. Juni auflisten wolle, war abschließend im Brief zu lesen, was er an Material besitze und es Speer dann zurückerstatten?

 

 

Lauschers Reaktion vom 6. Juni ließ echte Verärgerung im Namen seines Mandanten erkennen. Solange Speer etwas verlange, worauf er gar kein Anrecht besitze, sei der Versuch, Ultimaten zu stellen, ebenso unehrenhaft wie die Forderung der Kostenerstattung, schrieb Wolters' Anwalt. Endlich, am 11. Juli, setzte Lauscher Löffler davon in Kenntnis, daß Wolters Speer alles ausgehändigt habe, was diesem zustand, als er im Anschluß an seine Freilassung im Oktober 1966 nach Coesfeld gekommen sei. Lediglich ein paar wenige Dinge, wie zum Beispiel Briefe Speers an seinen Klienten, verblieben in Wolters' Besitz. FUßNOTE (16)

 

 

Wolters war der festen Überzeugung, daß er als Verfasser der Chronik (jener unerwähnt gebliebene Zankapfel dieser unerfreulichen Korrespondenz, mit der die tote Freundschaft endgültig begraben wurde) das uneingeschränkte Recht besitze, sie zu behalten, egal wer sie in Auftrag gegeben hätte. Er blieb dabei bis kurz bevor er am 7. Januar 1983 starb - mit dem Wort 'Albert' auf seinen Lippen, wie es heißt. Im Bundesarchiv waren schon gegen Ende 1982 erste Stücke seines Nachlasses eingetroffen. Wolters war sich ganz klar bewußt, daß ihm nur noch wenig Zeit blieb, und war, wie er Speer gewarnt hatte, fest entschlossen, die historische Aufzeichnung in ihrer korrekten Form zu bewahren. Die juristische Schlacht, die zwischen ihnen entbrannt war, führte zu keinem anderen Ergebnis als zu Speers eigenem, sechzehn Monate früheren Tod. Dr. Schmidt vertrat die Ansicht, Speer habe versucht, zu verhindern, daß seine erfolgreiche Dissertation zu jenem Buch wird, das es 1982 schließlich doch wurde: Alber Speer - Das Ende eines Mythos (6x KURSIV). FUßNOTE (17) Es hätte eine größere Verbreiterung verdient als dies der Fall war (und vermutlich hätte es das auch, wenn es nicht nach (KURSIV) sondern besser vor (KURSIV) dem plötzlichen Tod des Protagonisten erschienen wäre). Der letzte Schuß in dem von dem Anwalt nicht erklärten Krieg wegen der ungeöffneten Chronik nahm die Gestalt einer Anzeige im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel (5x KURSIV), im September 1980 an, die die Überschrift 'Aufhebung der Vollmacht' trug und von Dr. Löffler unterzeichnet war:

 

 

'Während seiner Haftzeit vom Mai 1945 bis Oktober 1966 in Nürnberg und Spandau, stellte mein Klient, Albert Speer, dritten gegenüber vorsichtshalber eine Vollmacht aus über den Zugang oder die Benutzung des Copyright an seinen privaten und offiziellen Schriften.

 

Obwohl diese Vollmacht in jedem Fall für eine begrenzte Zeit galt, hat mein Klient Grund zur Annahme, daß diese Vollmacht erloschen ist, und daß sein Copyright hier und im Ausland in vollem Umfang und ausschließlich von ihm persönlich ausgeübt wird.' (! ÜBERSETTZT ! - NACH MÖGL. ORIGINAL NACHGUCKEN !)

 

 

Auch Schmidt hatte juristischen Rat eingeholt und war sich ganz sicher, daß der Veröffentlichung seines Buches nichts hätte im Wege stehen können, falls Speer länger gelebt und das angekurbelt hätte, was mit Sicherheit ein faszinierender und sensationeller Fall geworden wäre. Es hätte unvermeidlich zu einem Desaster für seine Reputation als historische Quelle und Autor (und professioneller Büßer) geführt, wenn jener Doppelbetrug aufgeflogen wäre, daß die Chronik bereinigt und ihre Existenz verheimlicht wurde - und er wäre ganz bestimmt aufgeflogen. Die Gefahr, als Judenverfolger, als Lügner, Hochstapler und Heuchler entlarvt zu werden, hätte realiter zu einer außergerichtlichen Einigung geführt; aber die Zeitbombe, die Wolters' Original-Chronik sowie jener verflixte Briefwechsel über die Beschummelung des Archivs darstellte, wäre spätestens 1983 explodiert, als man das Material dann in Koblenz prüfte. Wir können daraus nur schließen, daß Speer, der sich glücklich schätzen durfte, jener Verabredung, die Sauckel mit dem Henker hatte, entflohen zu sein, sich beinahe genauso glücklich schätzen durfte, daß er in dem Moment starb, als er es tat - entging er doch damit den vielfachen Bedrohungen seines Rufs; Bedrohungen, die der resolute Recherchierer Schmidt, der abspenstig gewordene Chronist Wolters sowie die verschiedenen Anwälte verkörperten - wobei die Juristen nach einer altehrwürdigen Tradition ihres Berufsstandes schon drauf und dran gewesen waren, die Angelegenheit gehörig aufzubauschen.

 

 

 

Man könnte auch sagen, daß Albert Speer mit der Tatsache des Sterbens an sich nicht weniger Glück hatte als mit dessen Timing, sofern man letzteres als fünfunddreißigjährigen Aufschub seiner Exekution betrachtet, oder - Gnade vor Recht ergehen lassend - als einen barmherzigen Schritt vor den Gerichtsvollziehern der Geschichte voraus, die schon an der Tür geklopft hatten, um seinen guten Ruf mitzunehmen.

 

 

Zur Jahreswende 1979/80 erhielt Speer einen Brief von einer Leserin aus England, die gerade erst auf die Spandauer Tagebücher (2x KURSIV) gestoßen war und dies für das beste Buch befand, das sie je gelesen hatte. Dieses bemerkenswerte literarische Urteil rührte zumindest teilweise daher, daß es sich bei dem neuen Briefkontakt und Fan um eine Deutsche handelte, die in England lebte, mit einen Engländer verheiratet und Mutter zweier kleiner Kinder war; sie fand, daß das Buch für sie persönlich, als Deutsche im Exil, gewissermaßen kathartisch wirke.

 

 

Speer fühlte sich natürlich geschmeichelt und in seiner Antwort lud er sie ein, sich bei ihm zu melden, wenn sie das nächste Mal in Deutschland sei. Gesagt, getan. Mirabile dictu (2x KURSIV): Im Alter von fünfundsiebzig Jahren entbrannte Albert Speer zum ersten Mal in seinem Leben plötzlich in leidenschaftlicher Liebe für diese große, schlanke, blonde Frau, die halb so alt war wie er selbst - und sie erwiderte diese Liebe. Obgleich Speer immer noch an seinem Manuskript zum Sklavenstaat (KURSIV) arbeitete (Sereny machte die Liaison für dessen armselige Qualität verantwortlich, während Wolf Jobst Siedler das Buch grundsätzlich ablehnte und meinte, daß selbst der beste Lektor keine Chance hätte, es lesbar zu gestalten), verloren sie keine Zeit, die Affaire auszuleben und sich in einem Ferienhaus in Südfrankreich zu treffen. Speer versuchte nicht, die große Leidenschaft vor seiner geduldigen Frau zu verheimlichen. Weder häusliche/private/familiäre Verlegenheiten noch Probleme mit dem letzten Buch, ja noch nicht einmal die unheilverkündende Episode einer dritten Lungenembolie im November 1980, schreckten Speer ab, die verspätete Entdeckung seiner sexuellen Passion im Alter von fünfundsiebzig Jahren voll auszukosten.

 

 

Insofern war es nur natürlich, daß er ein weiteres Stelldichein arrangierte, als er am 31. August 1981 geschäftlich nach England fuhr - in seinem Leben nach dem Krieg erst der zweite Englandaufenthalt. Dem Besuch lag wieder derselbe Anlaß zu Grunde, eine Fernsehsendung, und der Gastgeber war abermals die BBC. Es gab diesmal keine 'Mr. Reeps'-Peinlichkeiten, und Speer hatte sich vorsichtshalber bestätigen lassen, daß er im etwas indifferenten Britannien der frühen achtziger Jahre auch wirklich eine persona grata (2x KURSIV) sei. Obwohl auch dieser zweite flüchtige Besuch im Zeichen eines Arrests stehen sollte, so handelte es sich doch diesmal um eine völlig andere Bedeutung dieses Wortes. Er sollte in einem Dokumentarfilm über die Nazi-Kunst mitwirken. Und Norman Stone, ein Professor für Neuere Geschichte in Oxford, Medienstar und Fachmann für das Dritte Reich, sollte ihn für das BBC-Fernsehen interviewen. Nach einem festlichen und späten Arbeitsessen mit dem Professor, der übrigens die Meinung verrtat, daß sein Gesprächspartner angesichts seines Alters in erstaunlich guter Verfassung sei, begab sich Speer für diese eine Nacht seines Besuches in das Park Court Hotel in Bayswater. Diese schicke, im Innenstadtbereich West-Londonds, unmittelbar nördlich von Kensington Gardens gelegene, Gegend ist von der BBC-Fernsehanstalt aus, die im Zentrum von Wood Lane liegt, vielleicht anderthalb Kilometer westlich davon, sehr bequem zu erreichen; dieses Mal wurde die Rechnung allerdings von der BBC übernommen. Die erste Hälfte des 1. Septembers, eines Dienstags, verbrachte Albert Speer in den Fernseh-Studios.

 

 

Dann kehrte er in das Hotel zurück, um sich auf dem Zimmer mit seiner Geliebten zu treffen. Kurz vor 17 Uhr rief diese in extremer Aufregung die Rezeption an und bat um Hilfe. Speer hatte, unmittelbar bevor er sich auf den Weg nach Heathrow hatte machen wollen, einen Schlaganfall erlitten und lag nun im Koma. Ein Krankenwagen fuhr ihn ins St. Mary Hospital nahe Paddington, wo die größten Anstrengungen des Notfall-Teams nicht mehr verhindern konnten, daß gegen 21 Uhr ein, wie die englischen Ärzte sagten, 'Cardiac arrest', ein Herzstillstand, eintrat. Albert Speer starb an einer zerebralen Hämorrhagia (= Gehirnblutung - Anm. d. Übers.) ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. FUßNOTE (18)

 

 

 

Am 2. September flog Dr. Irmhild Speer, Physikerin und Ehefrau von Ernst, dem jüngsten Kind des Verstorbenen, nach London, um den Toten in der Pathologie/Leichenhalle des St. Mary Krankenhauses formell zu identifizieren. Sie kümmerte sich um die Rückführung des Leichnams per Flugzeug und Auto nach Heidelberg, wo am 4. September das Leichenbegängnis stattfand. FUßNOTE (19)

 

Epilog