Glaube nicht, fürchte dich nicht, bitte nicht...

 

Theaterstück-Gutachten

von Frank Jankowski

für das Maxim Gorki Theater



Autor: Igor Schpriz (Mitte 40; eigentl. Atomphysiker)

Titel: Glaube nicht, fürchte dich nicht, bitte nicht...
Untertitel: ein Stück in neun Bildern [und drei Monologen Asjas]

Dramatis personae:
1. Asja (Assol Alaschejewa Nikolajewna), 30J. Aufseherin eine Untersuchungshaftanstalt
2. Andrej (Andrej Knjasew Igorjewitsch), 40J. Untersuchungsgefangener

Ort: die Zelle einer Untersuchungshaftanstalt in einer Kleinstadt, deren realistisch-karge Einrichtung sich kaum verändert

Zeit: zwischen den neun Szenen liegt jeweils ein z.T. nicht explizit definierter Zeitraum von ein oder mehreren Tagen bzw. Wochen

Handlung: Dem Intellektuellen Andrej wird mit einsetzender Handlung von der Aufseherin, Asja, seine Zelle zugewiesen; dabei erfahren wir nichts über den Grund seines Daseins. AUSSCHNITT [Rohübersetzung]:

ASJA: Ziehen Sie sich aus.
ANDREJ: Ich bin wissenschaftlicher Mitarbeiter.
ASJA: Vor dem Gesetz sind alle gleich. Ziehen Sie sich aus. (Andrej legt seine Kleidung ab, während Asja sie mit erfahrenen Handgriffen durchsucht und alles auf einen Stuhl legt)
ANDREJ: Die Unterhose auch?
ASJA: Nicht nötig. Ziehen Sie die Socken aus. (untersucht die Unterhose an ihm) Sperren Sie den Mund auf. Hier, unter der Lampe. Weiter. Sagen Sie "Aa".
ANDREJ: Aa.
[...]
ASJA: Du kannst Dich wieder anziehen.
ANDREJ: Ich bitte Sie, mich nicht zu duzen. (zieht sich an)
ASJA: Meinetwegen. Ziehen Sie sich schneller an. (hält ihm einen Zettel hin) Machen Sie sich mit der Tagesordnung vertraut und mit den Zellenverhaltensregeln für Untersuchungshäftlinge. Lesen kännen Sie doch, Untersuchungshäftling? Ich häre keine Antwort, Untersuchungshäftling!
ANDREJ: Ja.
ASJA: Na bitte. Irgendwelche Fragen?
ANDREJ: Ja.
ASJA: Also?
ANDREJ: Würden Sie bitte aufhören, mich anzuschnauzen? Noch bin ich schließlich kein Häftling!
ASJA: (erstaunt) Anschnauzen?! Na Du bist ja 'ne Mimose, so was habe ich noch nie erlebt! Ich und anschnauzen! Auf die Idee muß man erstmal kommen! Sag mal, mein Herzchen, weißt Du eigentlich, wo Du hier bist?
ANDREJ: Ich bitte Sie, mich nicht zu duzen. Wir haben keine Brüderschaft getrunken!
[...]
ANDREJ: ... Ich verlange einen Anwalt!
ASJA: (schlägt ihn blitzschnell zu Boden) Dein Anwalt macht einen Ausflug. Sie sind alle zum Pilzesammeln gefahren. Sie haben so eine schöne russische Gewohnheit - im Herbst Pilze zu suchen. Irgendwelche weiteren Bestellungen? Massage, Pediküre? ...

Die zweite Szene spielt am nächsten Morgen. Andrej beteuert seine Unschuld, wird jedoch weiterhin von Asja unter Druck gesetzt, ohne daß wir etwas über die näheren Umstände erfahren. Asja bietet ihm Vergünstigungen zu einem hohen Preis an. AUSSCHNITT:

ASJA: ... Du willst arbeiten. Du willst gut essen. Willst Du das?
ANDREJ: Ja.
ASJA: Dann bezahl! Man muß für alles bezahlen - das ist so ein Naturgesetz.
ANDREJ: Das ist schlicht Erpressung.
ASJA: Knjasew, das tue ich zu Deinem Besten. Es werden andere Leute kommen - mit anderen Worten und anderen Preisen. [...] Also, entscheide Dich und sei ein Mann.
[...]
ANDREJ: Ich habe niemanden.
ASJA: Und Deine Frau? Das Weckerchen geht wohl erst um halb sechs los, was?
ANDREJ: Wir sind zwar noch nicht geschieden, aber ich habe nicht das moralische Recht, Geld von ihr anzunehmen.
ASJA: Aber irgendwen mußt Du doch haben - wenigstens eine einzige lebendige Seele?
ANDREJ: Ich habe einen Kater. Notieren Sie's.
ASJA: Das kann ich mir merken...

Schließlich gibt er ihr die Nummer eines Freundes und erhält dafür von Asja einen kostenlosen Rat: "Du darfst hier niemandem trauen, vor niemandem Angst haben und niemanden um irgendetwas bitten. Du imponierst mir, Knjasew, ich werde Deine Patenschaft übernehmen und das hat hier einen hohen Wert." In der nächsten Szene hat Andrej eine Schreibmaschine, Zigaretten und diverse andere Vergünstigungen. Die beiden kommen sich näher, als Asja sich wegen eines Schwächeanfalls bei ihm ausruht, wobei es zu einer Spiegelung der Dialoge kommt. AUSSCHNITT:

ANDREJ: ... Verzeihen Sie, aber warum sind Sie jetzt zu mir gekommen? Haben Sie denn wirklich keine einzige verwandte Seele?
ASJA: Verwandte ja, aber die haben keine Seele. Sie kennen unser Städtchen nicht. Es ist leichter, sich aufzuhängen. Ich lege mich jetzt hin, ist das in Ordnung? ...

Andrejs Bitte um Aufklärung und anwaltliche Unterstützung wird in der 4. Szene weiterhin ignoriert, wenn auch weniger barsch. Anstelle dessen unterbreitet Asja ihm ein Angebot von 'oben', daß er besser nicht ausschlägt: Er soll ein Schuldgeständnis wegen Schwarzbrennerei unterschreiben. Dafür erhalte er u.a. einen japanischen Jeep. Das Duzen ist nunmehr Ausdruck von Sympathie. AUSSCHNITT:

ASJA: Drei Jahre von der Konfiszierung bis zur ersten Amnestie.
ANDREJ: [...] Das glaube ich nicht! - wie der selige Stanislavskij zu sagen pflegte.
ASJA: Und das ist wer?
ANDREJ: Das war so ein kluger Mann.
ASJA: Knjasew, ich bin kein Volltrottel, ich habe alles von Stanislavskij gelesen, als ich mich noch fürs Theater interessierte. Sag diesen Leuten Dankeschän! Das sind ernste Menschen, sie sind intelligent und mächtig, es tut ihnnen lediglich leid um Dich!
ANDREJ: Diese Krokodilstränen gefallen mir, nein wirklich! Sie haben Geld und ich soll sitzen! Wofür?!
ASJA: [...] Du hattest nunmal Pech! [...]
ANDREJ: Pech - das ist ein starkes Argument. Irgendwie hatte ich die letzten 15 Jahre chronisches Pech. Einen japanischen Jeep, sagst Du - ein japanischer Polizist! Sie hatten Schiß!
ASJA: Die?! Die haben vor nichts Angst. Es geht einfach bloß schneller, wenn sie Dich kaufen, und es ist billiger, weiter nichts! ...

Das 5. Bild wird folgendermaßen eröffnet: "Andrej sitzt und arbeitet an seinem Tisch. Aus dem kleinen Kofferradio vor ihm ertönt verhaltene Musik. Leise knirscht das Türschloß, die Tür öffnet sich einen Spalt und ein für die Zuschauer Unsichtbarer betrachtet Andrej. Andrej bemerkt den Unbekannten und steht auf." Nachdem der Unsichtbare verschwunden ist, erfährt Andrej von Asja, daß es ein Killer war. Sie bleibt bei ihm, um ihn zu beschützen, und man feiert gemeinsam Andrejs 40. Geburtstag, in dessen Verlauf die bedrohliche Gestalt ein zweites Mal erscheint, aber durch Asjas (bewaffnete) Anwesenheit abgeschreckt wird. AUSSCHNITT:

ANDREJ: Er hätte meinen Selbstmord inszeniert?
ASJA: Clever unser Mogli.
ANDREJ: Ab 35 ist so ein Tag immer traurig. Das Leben geht dahin und du hast nichts vollbracht. Und dann sitzt du auch noch im Knast.
ASJA: In den Instruktionen gibt es sogar den Punkt, daß die Beobachtung von Gefangenen an ihren Geburtstagen verstärkt werden muß.
ANDREJ: Wieso?
ASJA: Erhöhte Suizidgefahr.
ANDREJ: Woran hätte er mich denn aufgehängt?
ASJA: Komm, lassen wir das. Wir haben den Geburtstagstisch so schän hingekriegt. Ein Geschenk für Dich habe ich nicht.
ANDREJ: Du hast mir das Leben geschenkt. (gießt Konjak ein)
ASJA: Die Wölfin gratuliert Mogli zum Geburtstag. (küßt Andrej)
ANDREJ: Danke.
ASJA: Aber hör endlich auf, Dich umzusehen. Solange ich hier bin, wird nichts passieren.
ANDREJ: Und morgen?
ASJA: Guter Rat kommt über Nacht. Iß, Wild darf man mit den Händen.
ANDREJ: Lach nicht, aber: Dies ist mein erster richtiger Geburtstag - in einer eigenen Wohnung, mit einer schönen Frau und einem kostbaren Geschenk.
[...]
Sie tanzen.
[...]
ANDREJ: Wenn ich Ihnen jetzt zu nahe trete, werden Sie dann schießen?
ASJA: Nur auf die Extremitäten. Und Deine zu treffen dürfte schwierig werden.
ANDREJ: Ich werde mich bemühen, stillzuhalten. (er nimmt ihren Revolver, betrachtet ihn und zielt auf Asja) Stehenbleiben oder ich schieße!
ASJA: Ich bleibe stehen.
ANDREJ: Ich schieße. (küßt sie)
ASJA: Du küßt aber gut.
ANDREJ: Kann man schlecht küssen? ...

Asja und Andrej verbringen die Nacht zusammen und verlieben sich. In der 6. Szene ist Sylvester. Diesmal verführt Asja Andrej - und zwar auf dieselbe Weise wie er sie zuvor verführte. Und - wie es in Rußland Brauch ist - tauscht man Geschenke aus. Andrej bekommt einen Computer, worüber der erste Streit entbrennt, weil Andrej dieses Geschenk für einen weiteren Versuch hielt, ihn zur Unterschrift zu zwingen. Doch die Wogen glätten sich rasch, als Asja ihrem Geliebten eröffnet, daß sie schwanger ist.
Im folgenden Bild kommt Asja wodkatrinkend und völlig derangiert 'nach Hause', sagt aber nicht, was passiert ist. Andrej reagiert mit Vorwürfen. AUSSCHNITT:

ANDREJ: Das ist kein Argument. Es ist auch mein Kind und ich möchte, daß es gesund zur Welt kommt!
ASJA: Ich möchte das nicht weniger als Du.
ANDREJ: Wieso betrinkst Du Dich dann, verdammt nochmal?!
ASJA: Willst Du die Wahrheit hören?
ANDREJ: Ja, will ich!
ASJA: Die ganze?
ANDREJ: Ja, die ganze!
ASJA: Hoffentlich bereust Du das nicht. Es ist kein General gekommen. Es war ein Mann, der auf den Turm gebracht wurde. So ein stiller Typ, ähnlich wie Du, mit höherer Bildung. Ein Tiermediziner!
ANDREJ: Wieso auf den Turm?
ASJA: Zur Erschießung.
ANDREJ: Und wieso hierher?
ASJA: Hier ist nichts los. Hier hört keiner was.
ANDREJ: Und was ist mit ihm?
ASJA: Na ja, er wurde erschossen.
ANDREJ: Und Du wurdest zur Wache abkommandiert?
ASJA: Nein.
ANDREJ: Zu was denn sonst?
ASJA: Zur Erschießung. Das ist mein Job. ...

Abermals kommt es zum Konflikt, der auch diesmal bereinigt werden kann, bis Asja im folgenden 8. Bild ihren Geliebten vergeblich darauf drängt, endlich die Unterschrift zu leisten, damit beide in Ruhe leben können. Schließlich soll Andrej in der letzten Szene entlassen werden. Asja fleht ihn an, nicht wegzugehen. AUSSCHNITT:

ANDREJ: Red keinen Blödsinn. Ich bin soweit. Laß uns gehen!
ASJA: (zieht den Revolver und spannt den Hahn) Wenn Du jetzt gehst, werde ich mich und Wanjetschka täten. Du kommst nicht zurück. Ich weiß, Du wirst niemals zurückkommen. Ich weiß es.
ANDREJ: Asja, mach keine Dummheiten. Gib den Revolver her. (geht langsam auf Asja zu) Was habe ich Dir gesagt - gib mir den Revolver. Ich liebe Dich.
ASJA: Komm nicht näher. Bleib stehen. Rühr mich nicht an.
ANDREJ: Ich liebe Dich und ich komme zu Dir zurück.
ASJA: Bleib hier, mein Liebster, ich bitte Dich. (Andrej wendet sich ab, um zu gehen) Stehenbleiben oder ich schieße.
ANDREJ: (bleibt stehen und dreht sich zu ihr um, lächelnd) Ich bleibe stehen.
ASJA: Ich schieße. (Asja schießt. Andrej blickt sie erstaunt an und sinkt langsam zu Boden) ...

Dem dialogischen Textkorpus sind drei, insgesamt etwa zweieinhalb Seiten umfassende, Monologe Asjas beigefügt, die nach Gutdünken des jeweiligen Dramaturgen bzw. Regisseurs in das Stück integriert werden sollen und Aufschluß über Asjas Leben, ihre Motive, Hoffnungen und Gedanken geben. AUSSCHNITT:

"Monolog 2: Ich schäme mich vor den Menschen... Ich habe mich schon immer vor ihnen geschämt. Als ich an die Tafel mußte, das war noch in der Schule, ich war eine gute Schülerin, besonders in Literatur. Die Lehrerin mochte mich. Wenn ich nach vorne mußte, schnürte sich mir die Kehle zu, ich konnte nicht sprechen, wenn irgend jemandes Augen mich ansahen. Es fällt mir auch jetzt schwer, zu sprechen, wenn Sie mich ansehen...
Sie hatte Verständnis dafür, sie war eine gute Lehrerin. Dann erlaubte sie mir, die Fragen vorne zu beantworten, indem ich mich umdrehte, mit dem Gesicht zur Tafel, so. (dreht sich mit dem Rücken zum Publikum) "Sprich halt ein bißchen lauter" sagte sie. Alle lachten, aber dann gewöhnten sie sich daran. Und auch ich gewöhnte mich daran, mit dem Rücken zu sehen, lachen Sie nicht. Zweimal hat es mir das Leben gerettet. Einmal war es ein Auto, und das zweite Mal war es ein Mann. Sie wollten mich täten, aus Dummheit. Aber es ist ihnen nicht gelungen. Deshalb fürchte ich nichts und niemanden. Ich fürchte mich nur vor einer Begegnung mit meiner Lehrerin... [...]"


Einschätzung: Ein angenehm unrussisches und gleichzeitig bestrickend russisches Theaterstück für zwei Personen.
Die Geschichte wird unumständlich und spannend 'erzählt'. Die Dramaturgie des Stücks ist klar, flink und doch kompakt (um den Begriff "dicht" zu vermeiden) komponiert. Komische und heitere Elemente würzen die gesellschaftskritischen, philosophisch tieferen Schichten des Dramas, das vor allem eins ist: modern. Es handelt sich hier um einen neuen und doch unprätentiösen Stoff, dessen dramatische Umsetzung einen hohen Unterhaltungswert bietet, ohne dabei in irgendeiner Weise aufdringlich, also 'filmisch' oder 'überkandidelt' zu sein. Einen besonderen Reiz stellen die Monologe dar, die dramaturgisch bzw. motivisch eng mit Inhalt und Stil der Dialoge verknüpft sind.
Der Autor verbindet in geradezu virtuoser Weise verschiedene Motive miteinander, verheddert sich aber keineswegs in Nebensächlichkeiten, sondern folgt einer einzigen, schön geschwungenen Linie. Er mag Kafka und Beckett gelesen haben, versucht aber nicht, deren Stile zu imitieren. Trotzdem sind die Stilmittel, die man als ‚absurd' oder ‚symbolistisch' bezeichnen könnte, nicht zu übersehen.

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