"Hinauf
zu den Sternen"
Ein
Stück von
Leonid
Andrejew
aus
dem Russischen frei übertragen von
Frank
Jankowski
Stand:
1995
verlegt
bei
Henschel
Schauspiel
gleich
zum 1. Akt?
Über
Leonid Andrejev und sein Stück
"Ein
Künstler von seltenem Talent und seltener Originalität"
Maxim
Gorkij
"Andrejev
stellt diese verfluchten Fragen aus seiner tiefsten Tiefe heraus - unablässig
und besinnungslos."
Alexander
Blok
"Jede
neue Erzählung dieses jungen talentierten Dichters ist ein literarisches
Ereignis. Sein Name steht neben dem Gorkijs."
V.
Desnickij
"Einen
ungeheuer starken und tiefen Eindruck hinterlassen."
V.
I. Nemirovitsch-Dantschenkos über "Hinauf zu den Sternen"
"Die
Szenerie übte einen Einfluß von enormer magnetischer Kraft
aus. Diese Aufführung gehört zu den stärksten Erlebnissen
im Theater."
Die
Zeitung "Russkie Vedomosti", 1906, über die Wiener Uraufführung
"Andrejev
lebte und arbeitete zur gleichen Zeit wie Lev Tolstoj, Tschechov, Gorkij
und Blok - und seine Stimme, sein schriftstellerisches "ich"
blieb keineswegs hinter diesem Gestirn großer Namen zurück."
B.
S. Burgov, Hrsg. und Kommentator seines dramatischen Werks
"Dieses
Stück [Kinder der Sonne] verdankt seine Entstehung dem Einfall der
beiden Freunde Gorki und Andrejev, je ein "astronomisches Schauspiel"
zu schreiben. Andrejev nannte sein symbolistisches Stück K zvjozdam
(Hinauf zu den Sternen): Er ließ darin einen Astronomen in der Wissenschaft
Zuflucht vor der Wirklichkeit suchen."
Kindlers
Literaturlexikon
1870 heiratete ein Kleinbürger
namens Nikolaj Ivanovitsch Andrejev, der es zum selbstständigen Landvermesser
und Schätzer gebracht hatte, die aus einem verarmten Kleinadelsgeschlecht
stammende Anastasija Patzkovskaja. Ein Jahr später gebahr das junge
Paar ihren ersten Sproß:
Leonid Andrejev
(1871 - 1919)
Bereits als Gymnasiast
war Leonid Andrejev, laut Tagebucheintragung, fest davon überzeugt,
dass
ich ein berühmter
Schriftsteller werde. Und mit meinen Werken werde ich sowohl die Moral auf
den Kopf stellen als auch, nachdem ich die menschlichen Beziehungen gefestigt
habe, die Liebe und die Religion zerrütten, und ich werde mein Leben
mit einer universalen Zerstörung beschließen.
Noch ehe eine Realisierung
dieser Prophezeihung auch nur in Sicht war, schrieb er über sein Leben
bereits in der vollendeten Vergangenheitsform:
Mein Leben war eine Einöde
und eine Spelunke, ich war einsam und hatte keinen Freund, außer mir
selbst. Es gab Tage, die waren hell und leer, wie ein fremdes Fest, und
es gab grauenhafte, finstere Nächte, in denen ich an das Leben und
an den Tod dachte und nicht wußte, was besser war - der Tod oder das
Leben. Die Welt war grenzenlos groß, und ich war allein - ein krankes,
schwermütiges Herz, ein abstumpfender Verstand und ein boshafter, schwacher
Wille [...]. Ich habe immer die Sonne geliebt, doch für die Einsamen
ist ihr Licht grausam - wie das Licht einer Laterne über dem Abgrund.
Je heller die Laterne, desto tiefer die Kluft. Vor der hellen Sonne war
meine Einsamkeit unerträglich. Sie hat mir keine Freude gespendet -
diese meine liebste und erbarmungslose Sonne [...]. Das Leben ist eine schreckliche
und unbegreifliche Sache.
Schon 1901 erschien auf
Gorkijs Drängen der erste Band seiner "Erzählungen",
der innerhalb kürzester Zeit mehrere Ausgaben erlebte und eine (nicht
nur) für die damalige Zeit ungewöhnlich hohe Auflage von 50.000
Stück erreichte.
Auf das Jahr 1905 ist
Andrejevs erstes vollendetes Stück datiert. "Hinauf zu den Sternen"
(K zvjozdam), wo er seine aufrichtige Überzeugung vom heldenhaften
Freiheitskampf des Volkes zum Ausdruck bringt: Die Revolution als "der
Wahnsinn und die Tapferkeit" des Menschen, "der auf den Tod scheißt".
Fakten, die Andrejevs
politische Aktivitäten in der Revolutionszeit bezeugen, gibt es allerdings
nur wenige: So stellte er im Februar 1905 beispielsweise seine Wohnung für
eine Sitzung des ZK der PSDRP zur Verfügung, was die zaristischen Exekutivorgane
auch sogleich zum Anlaß nahmen, den Schriftsteller zu verhaften und
in Gewahrsam zu nehmen. Zwei Wochen saß er im Gefängnis, wo er
erst gegen die Zahlung einer Kaution von zehntausend (!) Rubeln wieder freigelassen
wurde. Desweiteren sind die Herausgabe revolutionärer Veröffentlichungen
bekannt sowie die Teilnahme an Demonstrationen, Treffen, Kongressen, "regierungs-feindlichen
Abenden" usw.
Die Idee zu dem Stück
"Hinauf zu den Sternen" hatte Andrejev bereits 1903, nachdem er
das Buch "Astronomische Abende" gelesen hatte - ein damals nicht
nur in Rußland äußerst populäres Werk des deutschen
Astronomen Hermann Klein. Maxim Gorki hielt den Umstand dieser stofflichen
Inspiration inform einer netten, kleinen Notiz fest:
"Leonid war sofort
für Klein entflammt; und nun will er einen Menschen darstellen, der
inmitten ärmlich-fader Alltäglichkeit sein Leben dem Weltall widmet.
Dafür bekommt er dann auch im vierten Akt vom Teleskop eins über
den Schädel."
Begeistert von dieser
Idee, schlug Gorkij seinem Freund vor, das Stück (es sollte "Der
Astronom" heißen), gemeinsam zu schreiben, wozu es dann jedoch
nicht kam - Gorki verfaßte im Feb. 1905 bekanntermaßen "Die
Kinder der Sonne" und Andrejev "Hinauf zu den Sternen".
Gleich nach der Fertigstellung,
im Nov. 1905, stellte Andrejev sein Stück dem Moskauer Künstlertheater
zur Verfügung, wo er nach den Worten V. I. Nemirovitsch-Dantschenkos
"einen ungeheuer starken, tiefen und erfreulichen Eindruck" hinterließ.
Die Zensur machte der geplanten Inszenierung jedoch einen Strich durch die
Rechnung: "Dieses symbolistische Drama [...] dient der Idealisierung
der Revolution und deren Initiatoren." Eine Premiere konnte erst ein
Jahr später, also im Herbst 1906, stattfinden - allerdings in Wien,
wo Richard Valentin Regie führte und auch die Rolle des Treitsch spielte.
Von der großen Moskauer Zeitung "Russkie Vedomosti" (Russische
Nachrichten) wurden Stück und Inszenierung am 20. Okt. 1906 folgendermaßen
beurteilt:
"Die Szenerie übte
einen Einfluß von enormer magnetischer Kraft aus, sie infizierte jeden
mit ihrem Zorn, durch ihren Aufruf zur Rache und durch ihren Aufruf zur
Liebe. Mit was für einem Ächzen wurde das Theater nach Treitschs
Monolog erfüllt, den Valentin so glänzend vorgetragen hatte! Aus
den Ovationen, mit denen sein Publikum darauf reagierte, und aus den stürmischen
Bravo-Rufen, waren nicht die gewöhnlichen Beifallsbekundungen zu entnehmen,
sondern der vom Auditorium geleistete Schwur, dem Aufruf Treitschs zu folgen
und mit eigenen Händen selbst den Himmel abzustützen, wenn es
soweit kommen sollte, dass er uns auf den Kopf fällt und daran hindert,
vorwärts zu gehen. Diese Aufführung gehört zu den stärksten
Erlebnissen im Theater und wird lange in den Gedächtnissen derer bleiben,
die sie erlebt haben. "
Im Mai 1907 inszenierte
endlich ein Russe, und zwar kein Geringerer als Vsevolod Meierhold das Drama
- wenn auch in Finnland. Allerdings wurde es sofort auf Anordnung der Regierung
wieder abgesetzt, weil der übermäßige Andrang von Petersburger
Zuschauern angeblich nicht zu bewältigen gewesen wäre.
Zum größten
Teil sinngemäß übersetzt nach B. S. Burgov: Kommentarii;
in: Leonid Andreev: Sobranie Sotschinenij: Verlag "Sovetskij pisatel'".
1991.
Ein weiteres Wort
vorweg
Andrejev entwickelt sein
bizarr-analytisches Drama vor dem Hintergrund der sogenannten Ersten Russischen
Revolution*. Es spielt in einem entlegenen (ausländischen) Observatorium
in den Bergen. Während draußen das Heulen des Schneesturms an
das politische Unwetter gemahnt, verdichtet sich die sowohl emotionale als
auch ideologische Verstrickung der Figuren zu einem so spannungsgeladenen
Konfliktpotential, dass der entstehende Knoten mit herkömmlichen dramatischen
Mitteln schon bald nicht mehr lösbar scheint...
Im Mittelpunkt der Geschichte
steht das Schicksal Nikolaj Ternovskijs, der bezeichnenderweise selbst gar
keine 'Rolle spielt'. Im Mittelpunkt des dramatischen Geschehens steht deshalb
auch nur dessen Rückkehr von einer revolutionären Mission, auf
die alle Figuren - vergeblich - warten. Nikolaj ist der Lieblingssohn des
Professors Ternovskij - der Inbegriff des guten und starken Menschen, der
vollkommen selbstlos für die Freiheit des unterdrückten Volkes
eintritt. Dieser höchst idealisierte Märtyrer wird bei einer antizaristischen
Protestaktion gefangen genommen und schließlich bis zum Wahnsinn gefoltert.
Auf der einen Seite des
Personenkreises - mit der größten Bühnenpräsenz und
dem zugleich kleinsten Aktionspotential ausgestattet: Inna Alexandrovna
Ternovskaja, die Ehefrau des Astronomie-Professors, die mit aller Kraft
versucht, ihre Familie zusammenzuhalten. Einst stark und mutig, schwankt
sie nun zwischen Hoffnung und Resignation, ist aber bereits zu alt und durch
das Schicksal ihres Sohnes Nikolaj emotional zu festgefahren, als dass sie
die Dramenhandlung zum Guten wenden könnte. Zu ihrer Familie gehören
außerdem Anna (25 J.), ihre mit Verchovtzev verheiratete Tochter,
sowie Petja (18), ihr vernachlässigter jüngster Sohn.
Auf der anderen Seite:
Sergej Nikolajevitsch Ternovskij, ein Wissenschaftler par exellence, der
sich in seine astronomisch-philosophische Welt zurückgezogen hat; ein
abgehobener Intellektueller, ein Träumer, der erst aufwacht, als es
zu spät ist. Zu seinem Team gehören drei grundverschiedene Charaktere:
die wissenschaftlichen Assistenten Pollak (32), ein politisch unkritischer,
strebsamer Spießer; Luntz (28), ein überempfindlicher, hitzig-selbstmitleidiger
Jude; und Zhitov, ein bärenhafter Gemütsmensch, der sich aufs
Sehen und Beobachten beschränkt.
Dazwischen stehen die
angeheirateten Familienmitglieder Valentin Verchovtzev (30), Annas Ehemann,
eine Art zynischer Räsoneur, gleichsam das personifizierte "comic
relief" der Tragödie und Marusja (20), die Verlobte Nikolajs,
ein idealistisches Energiebündel. Schließlich der Arbeiterrevolutionär
Treitsch (30), ein genialischer Propagandist sowie der junge, unauffällige
aber fein geschnitzte Schmidt.
Tatsächlich liegt
der Geschichte ein alter Stoff zugrunde: die Beziehung der Wissenschaft
zur politischen Gesellschaft. Zwischen den vier Akten vergehen jeweils mehrere
Wochen.
Das Besondere an dem
Drama "Hinauf zu den Sternen" ist schwer zu definieren... Zum
einen erinnert das handlungsarme, ja -gelähmte Rumoren der quasi eingeschlossenen
Figuren an Tschechovs psychologische Stücke. Zum anderen dringt es
auf der gesellschaftspolitischen Sphäre bis in die zeitlos philosophische
Tiefe von Tarkovskijs filmischen Endzeitvisionen vor. Nichts ist konstruiert,
und doch bleibt auch nichts dem Zufall überlassen. Und über dem
Ganzen schwebt eine so feine Ironie, dass sie vielen Dramaturgen bei der
ersten Lektüre verborgen bleiben mußte. Allein dadurch gewinnt
Andrejevs Stück (das meines Wissens mindestens seit einem halben Jahrhundert
auf keinem deutschsprachigen Spielplan mehr gestanden hat) bereits jene
überraschende Aktualität und Lebendigkeit, die mit Hilfe einiger
leicht zu verantwortender Streichungen (vor allem im 3. und 4. Akt) eine
Wiederaufnahme rechtfertigt.
Personenliste
Sergej Nikolajevitsch
Ternovskij, russischer Gelehrter, der im Ausland lebt. Direktor eines Observatoriums.
Berühmtes Mitglied zahlreicher Akademien und wissenschaftlicher Gesellschaften.
56 Jahre alt, sieht jedoch jünger aus. Fließende, ruhige und
sehr exakte Bewegungen; ebenso beherrschte und genaue Gestik - nichts überflüssiges.
Höflich, aufmerksam, doch all das strahlt Kälte aus.
Inna Alexandrovna Ternovskaja,
dessen Ehefrau, fast genauso alt.
Nikolaj, 27 Jahre alt
- deren Sohn.
Anna, 25 Jahre alt. Schön
und mager, unvorteilhaft gekleidet - deren Tochter.
Petja, 18 Jahre alt.
Blaß, fein, zart; schwarzes, krauses Haar; weißer Umlegekragen
- deren jüngster Sohn.
Valentin Alexejevitsch
Verchovtzev, Annas Ehemann. Um die 30 Jahre alt. Rothaarig. Von sich selbst
überzeugt, gebieterisch, spöttisch. Mitunter grob. Ingenieur.
Marusja, Nikolajs Verlobte,
20 Jahre alt. Schön.
Ternovskijs Assistenten:
Pollak, leptosom, mit
großem, kahlem Schädel, korrekt. 32 Jahre alt. Mechanisch. Raucht
Zigarren.
Iossif Abramovitsch Luntz,
Jude, 28 Jahre alt. Die Gewohnheit, mit exakten Instrumenten umzugehen,
verleiht seinen Bewegungen Zurückhaltung und Genauigkeit; bei Erregung
beherrscht er sich jedoch nicht, sondern gestikuliert mit der Leidenschaft
eines südländischen Semiten.
Vassilij Vassiljevitsch
Zhitov, unbestimmtes Alter. Mächtige Erscheinung, stark behaart, bärenhaft.
Sitzt ständig. Von eigenartiger Schönheit.
Treitsch, Arbeiter, 30
Jahre alt. Schwarzhaarig, mager, außerordentlich schön, stark
geschwungene Augenbrauen; weitblickend. Schlicht, ernst, wortkarg.
Schmidt, Jung. Klein;
flüchtige aber regelmäßige Gesichtszüge; sorgfältig
gekleidet; spricht mit dünner Stimme. Unauffällige Erscheinung.
Minna und Franz, Bedienstete.
Alte Frau.
zum
1. Akt
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