"Hinauf
zu den Sternen"
Ein
Stück von
Leonid
Andrejew
aus
dem Russischen frei übertragen von
Frank
Jankowski
Stand:
1995
1. Akt
Eine Sternwarte in den
Bergen. Später Abend. Die Bühne stellt zwei Zimmer dar; das erste
eine Art großes Speisezimmer mit weißen, dicken Wänden;
an den Fenstern, hinter denen etwas Weißes herumwirbelt, sehr breite
Fensterbretter; ein riesiger Kamin, in dem Holzscheite brennen. Schlichte,
strenge Einrichtung, in der Polstermöbel und Vorhänge fehlen.
Einige Stiche: Portraits von Astronomen. Eine Treppe, die zur Bibliothek
und zum Arbeitszimmer Ternovskijs hinaufführt. Das hintere Zimmer ist
ein geräumiges Arbeitszimmer, das im Großen und Ganzen dem ersten
gleicht, nur ohne Kamin. Einige Tische. Fotos von Sternen und von der Mondoberfläche,
einige höchst einfache Geräte. Pollak, ein Assistent Ternovskijs,
sitzt an seiner Arbeit. Im vorderen Zimmer unterhalten sich Inna Alexandrovna
und Zhitov miteinander; Petja liest; Luntz geht auf und ab. Am Herd kocht
die deutsche Köchin einen Kaffee. Hinter den Fenstern das Pfeifen und
Heulen eines Gebirgs-Schneesturms. Im Kamin knackt das Holz. In regelmäßigen
Abständen läutet die Glocke, die den im Wald Verirrten zur Orientierung
dient.
INNA: Ständig dieses
Geläute - und dabei so sinnlos. Wenn wenigstens jemand käme. Seit
vier Tagen keine Nachricht! Man sitzt die ganze Zeit da und fragt sich,
ob da draußen noch Menschen leben.
PETJA: (sich vom Buch
losreißend) Wer soll denn kommen? Wer kommt denn schon hierher?
INNA: Vielleicht jemand
vom Tal...
PETJA: Die haben bestimmt
was Besseres zu tun, als hier in den Bergen rumzukraxeln.
ZHITOV: Ja, ein etwas
schwieriges Unterfangen. Es gibt ja nicht mal einen Weg... wie in einer
belagerten Stadt - man kommt nicht hierher und man kommt nicht von hier
weg.
INNA: Und wir haben kaum
noch etwas zu essen im Haus.
Zhitov: Dann müssen
wir eben ein bißchen kürzer treten.
INNA: Sie haben gut reden,
Vassilij Vassilitsch, Sie sind wie ein Bär und werden eine Woche lang
von Ihrem eigenen Fett satt, - aber was ich mit Sergej Nikolajitsch machen?
Zhitov: Legen Sie ihm
doch auch ein kleines Polster an - so wie wir Bären es machen. Luntz,
he Luntz, warum setzen Sie sich nicht hin?
Luntz antwortet nicht,
geht umher.
INNA: Was für eine
Gegend! Halt, still, da hat doch jemand geklopft. Seid doch mal ruhig! (horcht)
Nein, doch nicht. Ein Schneesturm! Sowas gibt es ja nicht mal bei uns in
Rußland!
Zhitov: Doch... in der
Steppe.
INNA: Möglich, in
der Steppe habe ich nie gelebt... Wie er gegen die Fenster schlägt!
PETJA: Du wartest umsonst,
Mama, - es kommt niemand.
INNA: Und wenn doch?..
(Pause) Muß ich jetzt immer wieder die alten Zeitungen lesen?.. Die
kenn' ich doch mittlerweile in- und auswendig. Iossif Abramytsch, haben
Sie nicht irgendeine Neuigkeit?
LUNTZ: (bleibt stehen)
Meine Güte, Sie können vielleicht Fragen stellen. Woher denn wohl?
Ist doch völlig unmöglich, denken Sie doch mal nach! Also so was!
INNA: Aber, aber - nun
seien Sie doch nicht gleich sauer! Das Herz blutet einem, wenn man bedenkt,
was da drüben alles passiert! Herr je!
ZHITOV: Sie prügeln
sich halt.
INNA: Prügeln! Sie
haben leicht reden, Vassilij Vassilitsch. Von Ihnen ist niemand dabei, aber
meine Kinder sind dort! Und man erfährt nicht das Geringste. Man steht
mitten im Wald! Aber im Wald fliegt wenigstens mal ein Vogel herum oder
ein Hase rennt vorbei. Und hier...
LUNTZ: (gehend) Vielleicht
ist die Schlacht schon gewonnen. Vielleicht haben sie da draußen längst
eine neue Welt errichtet - auf den Trümmern der alten.
ZHITOV: Das glaube ich
nicht. Sah nicht so aus.
PETJA: Wieso nicht? Sie
haben doch gelesen, dass der Ministerrat zurückgetreten ist. Die ganze
Stadt ist verbarrikadiert, und das Proletariat hat schon das Rathaus eingenommen!
Fünf Tage - was da alles passieren kann!
ZHITOV: Ich weiß
nicht, vielleicht. Luntz, Sie sollten sich mal hinsetzen: Ich habe ausgerechnet,
dass Sie in den letzten vier Tagen mindestens zweihundert Kilometer zurückgelegt
haben.
LUNTZ: Lassen Sie mich
in Frieden. Ich störe Sie nicht, also stören Sie mich auch nicht.
So was Unkultiviertes: sich in fremde Angelegenheiten einzumischen. Ich
sage ja auch nicht zu Ihnen: Zhitov, lungern Sie nicht stundenlang hier
herum, Sie haben schon Ihr halbes Leben verpennt. Nein, das sage ich nicht!
Petja geht zu Luntz und
beredet leise irgendetwas mit ihm. Sie gehen nebeneinander her und wechseln
ab und zu ein Wort.
INNA: (leise zu Zhitov)
Eine Mimose, dieser Mensch! Na, wie sieht's aus, Vassilij Vassilitsch, wollen
wir uns auf den Schreck nicht ein Täßchen Kaffee genehmigen...
ZHITOV: Ein Täßchen
Tee wär' mir lieber.
INNA: Was Sie nicht sagen!
Ich würde auch lieber Tee trinken, mein Herzchen - aber woher nehmen?
Tee mit Himbeerkonfitüre - das wäre jetzt schon was.
ZHITOV: Ja, oder besser
noch mit Würfelzucker.
INNA: Hören Sie
bloß auf! Ich sage Ihnen was, Vassilij Vassilitsch: An alles hier
habe ich mich gewöhnt, aber auch an alles: An diese... Berge, an die
Einsamkeit... Aber dass es hier keine Birken gibt..! Wenn ich nur daran
denke: ich könnte auf der Stelle losheulen, zwei Stunden lang... Unser
Gutshaus war umgeben von einem Birkenwäldchen - ein so entzückender
kleiner Birkenwald! Wenn es geregnet hatte, dann duftete es immer so herrlich,
dass... dass... (wischt sich die Augen).
ZHITOV: Warum fahren
Sie nicht einfach mal wieder nach Rußland - für ein, zwei Monate?
INNA: Und wer soll sich
um meinen Mann kümmern? Er hat ja selbst schon so oft versucht, mich
dazu zu überreden - aber das geht doch nicht! Wenn er plötzlich
krank wird... schließlich sind wir keine dreißig mehr.
ZHITOV: Ich würde
schon die Stellung halten.
INNA: Nein, ausgeschlossen.
Ich muß halt auf die Birken verzichten. Eigentlich ist es ja auch
ganz schön hier. Jetzt kommt bald der Frühling...
ZHITOV: Und wenn man
ihn nach Sibirien schicken würde? Würden Sie das auch hinnehmen?
INNA: Warum denn nicht?
Auch in Sibirien leben Menschen, oder?
ZHITOV: Sie sind schon
eine tolle Frau, Inna Alexandrovna!
INNA: (zärtlich)
Und Du bist ein Schlingel - sagt man soetwas zu einer alten Frau? Apropos,
Vassilij Vassilitsch: sollten Sie sich nicht langsam mal eine Frau suchen?
Sie könnten sich hier niederlassen, so wie Sergej Nikolajitsch und
ich.
ZHITOV: Nein, das wäre
nichts für mich... dafür bin ich viel zu unternehmungslustig.
INNA: (lachend) Ja, den
Eindruck habe ich auch!
ZHITOV: Nein, im Ernst:
heute hier, morgen dort - das ist meine Devise. Ich werde auch demnächst
die Astronomie an den Nagel hängen. Schließlich will ich noch
nach Australien.
INNA: Um was zu tun?
ZHITOV: Nichts... Gucken,
wie die Leute da so leben.
INNA: Aber Vassilij Vassilitsch!
Wovon wollen Sie das denn bezahlen?
ZHITOV: Ich arbeite beim
Schienenbau, oder in einer Fabrik.
INNA: Als Astronom?!
ZHITOV: Ich bin da nicht
sehr wählerisch.
Pause. Das Pfeifen des
Schneesturms wird heftiger.
ZHITOV: Sagen Sie mal,
eins ist mir immer noch nicht so ganz klar: warum wurde Ihr Mann eigentlich
aus Rußland ausgewiesen?
INNA: Aber er wurde ja
gar nicht ausgewiesen, er ist von selbst gegangen. Er hatte Ärger mit
seinen Vorgesetzten. Man wollte ihn zwingen, irgendein verlogenes Papier
zu unterschreiben, aber er tat es nicht, sondern sagte dem Minister ganz
unverblümt seine Meinung. Na ja, so sind wir dann los, und hier hat
man ihm das Observatorium angeboten. Das war vor zwölf Jahren - seitdem
leben wir hier auf den Felsen.
ZHITOV: Das bedeutet,
er kann jederzeit zurück?
INNA: Aber wo denken
Sie hin? Sie wissen doch, dass es in Rußland keine Sternwarten gibt!
ZHITOV: Dafür Birken!
INNA: Scherzbold! Moment
mal, da hat doch jemand geklopft..!?
Das Heulen des Schneesturms.
ZHITOV: Das kommt Ihnen
nur so vor.
INNA: Trotzdem (zu Minna)
Minna, mein Täubchen, schauen Sie doch bitte mal nach, ob jemand gekommen
ist. Dieses Geläute raubt mir noch den letzten Nerv. Hör'n Sie!
Das Heulen des Schneesturms.
Das Läuten der Glocke.
ZHITOV: Diese Märzstürme
sind die schlimmsten überhaupt. Unten im Tal ist Frühling und
hier oben der tiefste Winter. Die Mandelblüte ist sicher längst
vorbei.
MINNA: Nein, es ist niemand
da.
INNA: Wenn ich wenigstens
wüßte, was mit Kolja ist. Ich mache mir solche Sorgen um ihn.
Er ist so impulsiv - immer mit dem Kopf durch die Wand: Gewehre?! was soll's!
Kanonen?!.. Herr Gott, ich darf gar nicht dran denken! Wenn man wenigstens
wüßte, was da vorgeht, aber so - als wäre man seit vier
Tagen bei lebendigem Leibe begraben.
ZHITOV: Ein bißchen
Geduld. Das Barometer steigt bereits.
INNA: Wenn er sich wenigstens
für seine eigene Sache schlagen würde! Aber es sind fremde Menschen
und es ist ein fremdes Land - was geht ihn das an?!
PETJA: (hitzig) Nikolaj
ist ein Held! Er kämpft für alle Unterdrückten - egal wer
sie sind. Für ihn sind alle Menschen gleich - was spielt es für
eine Rolle, wo sie leben?
LUNTZ: "Fremde Menschen",
"fremdes Land"! Wie kann man nur so daherreden, das verstehe ich
nicht! Diese Kategorien - genau deshalb werden Menschen versklavt! Im einen
Haus werden sogenannte "Fremde" ausgeplündert und gefoltert,
und im nächsten abgeschlachtet, und im übernächsten sagen
sie : Was geht mich das an? Fremde! Ausländer! Ich bin Jude, ich habe
kein eigenes Land - muß ich deshalb überall ein Fremder sein?
Nein, denn wir können uns überall anpassen und überall zuhause
fühlen, egal wo... (geht weiter auf und ab) Tja, so ist das nunmal!
PETJA: Ganz genau! Diese
Engstirnigkeit ist es nämlich, die die Welt in unzählige kleine
Territorien zerbröselt!
LUNTZ: (gehend) Richtig.
Wenn ich das schon immer höre: Fremde! Neger! Saujuden!
INNA: Wir armen kleinen
Juden! Dass Ihnen das nicht langsam peinlich wird! Habe ich vielleicht gesagt,
dass Kolja falsch handelt? Ich habe ihn ja selbst in seinem Vorhaben bestärkt:
Mach Dich endlich auf den Weg, mein Engel, bevor du hier noch trübsinnig
wirst! habe ich zu ihm gesagt. Herr Gott mochmal! Ich habe doch nicht gesagt,
dass mein Sohn schlecht ist - ich rede davon, dass mein Herz blutet. Ich
mache mir seit einer Woche fürchterliche Sorgen, ich habe solche Angst
um ihn... Sie können nachts ruhig schlafen - ich nicht; ich mache kein
Auge zu! Die ganze Zeit liege ich da und lausche diesem Glockengeläute
und dem Heulen des Sturms - es kommt mir ständig so vor, als ob da
draußen jemand weint weil jemand beerdigt wird... Ich werde meinen
Kolja niemals wiederzusehen!
Schneesturm. Glockengeläute.
PETJA: (zärtlich)
Aber Mamotschka, was redest Du denn da? Er ist doch nicht allein da draußen
- warum sollte denn ausgerechnet ihm was passieren? Beruhige dich!
ZHITOV: Na eben: Marusja,
Anna und Verchovtzev sind doch auch noch da - die werden schon auf ihn aufpassen.
Und außerdem: Sie wissen doch, wie beliebt er ist - er hat ja ein
Gefolge wie ein Feldherr - so einen läßt man doch nicht einfach...
im Stich!
INNA: Ich weiß,
ich weiß, aber was soll ich machen?! Und kommt mir bloß nicht
mit Marusja. Anna ist ja einigermaßen vernünftig, aber Marusja...
die ist doch die erste, die losstürmt, wenn jemand zum Angriff bläst.
Ich kenne sie lange genug.
PETJA: Na und?! Würde
es Dir besser gefallen, wenn sie sich verstecken würde?
INNA: Fängst Du
schon wieder damit an..? Prügelt Euch doch, soviel Ihr wollt - ich
sage nichts mehr. Aber dann versucht auch gefälligst nicht, mir alles
mögliche einzureden - ich bin schließlich erwachsen! Als ich
in Eurem Alter war, mußte ich mich mit Wölfen herumschlagen,
so sieht's aus!
ZHITOV: Mit Wölfen,
Sie?! Das klingt ja richtig abenteuerlich! Erzählen Sie doch mal.
INNA: Ach, da gibt's
nicht viel zu erzählen. Im Winter mußte ich nachts mal allein
durch den Wald reiten - da wurde ich plötzlich von einem Rudel Wölfe
angefallen. Ich konnte sie zwar mit ein paar Schüssen in die Flucht
schlagen, aber sie haben mir einen Schreck eingejagt, den ich niemals vergessen
werde.
ZHITOV: Sie können
schießen?
INNA: Und einiges mehr.
Ich war mit meinem Mann auf einer Expedition in Turkestan. Anderthalbtausend
Kilometer saßen wir im Sattel... Das war eine Tortur! Einmal wären
wir beinahe ertrunken und zweimal fast verbrannt... (leise) Aber ich versichere
Ihnen, Vassilij Vassilitsch, es gibt nichts Schlimmeres, als wenn den eigenen
Kindern etwas zustößt. Ich weiß, wovon ich rede, ich habe
zwei Kinder verloren... das eine war noch ein Säugling, und Serjozha
war gerade sieben Jahre alt, aber das wissen Sie ja... Beinahe wäre
sogar meine kleine Anna mal gestorben... Und jetzt soll ich meinen geliebten
Kolja...
Pollak: (tritt ein) Verehrte
Inna Alexandrovna, Sie haben nicht zufällig ein Täßchen
Kaffee da, oder?
INNA: Kaffee? Doch, ganz
zufällig habe ich welchen da! Minna! (geht ab)
ZHITOV: Na Kollege, wie
geht's?
POLLAK: Gut. Und Sie
haben nichts zu tun?
ZHITOV: Das Wetter...
Was soll man machen?! Und dann die Ereignisse...
POLLAK: Also nicht die
russische Trägheit?
ZHITOV: Vielleicht auch
das, wer weiß?
POLLAK: Das ist nicht
gut, lieber Kollege. (zu Luntz) Luntz, haben Sie die Spektralanalyse fertig,
die der Herr Professor Ihnen aufgetragen hatte?
LUNTZ: (scharf) Nein.
POLLAK: Das ist sehr
bedauerlich.
LUNTZ: Bedauerlich oder
nicht, das geht Sie nichts an. Sie sind ebenso Assistent wie ich, und Sie
haben nicht das Recht, mir Rügen zu erteilen. Tja.
POLLAK: (wendet sich
achselzuckend ab) Zhitov, bestellen Sie ihr, dass sie mir den Kaffee nach
hinten bringen möchte.
ZHITOV: Wird erledigt.
Aber sagen Sie: woran arbeitet denn der Professor momentan? Ich habe nämlich
in letzter Zeit ein bißchen den Überblick verloren.
POLLAK: Oh, der legt
ein enormes Pensum vor! Ich arbeite selbst ziemlich viel, aber Sergej Nikolajitschs
Ausdauer und Genauigkeit erstaunen mich doch immer wieder. Eine Reibung,
diese enervierende Reibung, kommt bei ihm genauso wenig vor, wie bei unseren
Geräten. Und dabei arbeitet er mit der Exaktheit eines Uhrwerks. Ich
bin davon überzeugt, dass man in seinen Berechnungen der letzten dreißig
Jahre nicht einen Fehler findet.
LUNTZ: (der aufmerksam
zugehört hat) Das ist aber nicht bloß Fleiß, sondern vor
allem Genie.
POLLAK: Völlig richtig,
denn Zahlen und Ziffern sind für ihn lebendige Wesen, die sich bewegen
können - wie kleine Soldaten, die ihm blind gehorchen.
LUNTZ: Wie immer führen
Sie alles auf die Disziplin zurück. Sie mit Ihrer preussischen Poesie!
POLLAK: Ohne Disziplin
kein Erfolg, lieber Luntz.
ZHITOV: Richtig!
LUNTZ: Ich habe eine
bessere Meinung über ihn als Sie. Ich denke, dass er die Ewigkeit sieht,
so, wie wir diese Wände hier sehen. Tja!
POLLAK: Das kann ich
nicht beurteilen. Haben Sie eigentlich Nachricht, ob diese Revolution endlich
beendet ist?
PETJA: Also nach den
letzten Zeitungsberichten...
POLLAK: Ach, sagt mir
einfach, wenn alles vorbei ist. Ich kann mich jetzt nicht mit Details aufhalten.
INNA: (tritt ein) Niemand
da - nur diese Einöde.
POLLAK: Dann möchte
ich Sie bitten, verehrte Inna Alexandrovna, mir den Kaffee nach hinten zu
bringen.
INNA: Schon gut, gehen
Sie nur arbeiten. Arbeit ist jetzt geradezu ein Geschenk des Himmels.
Pollak geht ins zweite
Zimmer ab
PETJA: Komischer Typ,
dieser Pollak.
INNA: Ja, aber wenigstens
arbeitet er und rennt nicht ständig im Zimmer herum...
ZHITOV: Vor allem ist
er enorm begabt. In fünf Jahren wird er sich einen großen Namen
gemacht haben - das Zeug dazu hat er jedenfalls.
PETJA: Und ich denke,
dass es Situationen gibt, wo es geradezu unanständig ist, an seine
Karriere zu denken!
INNA: Petja, Petja!
PETJA: Ich kann nicht!
Wieso laßt Ihr mich nicht weg? Ich werde noch verrückt hier,
in diesem Provinzkaff!
INNA: Petetschka, mein
Schatz, Du bist ja noch nicht mal achtzehn.
PETJA: Nikolaj hat mit
neunzehn schon im Gefängnis gesessen!
INNA: Und was ist daran
so erstrebenswert?
PETJA: Er hat etwas geleistet!
INNA: Ach du lieber Gott.
Na schön, rede mit Deinem Vater... Wenn er es Dir erlaubt, bitte.
PETJA: Er sagt: Zieh
ins Feld.
ZHITOV: Wo liegt dann
das Problem?
PETJA: Weiß nicht,
ich kann nicht. Es ist ein so bedeutender Kampf, aber ich... Ich kann nicht,
ich kann einfach nicht! (geht ab)
LUNTZ: Petja ist schon
wieder sehr nervös. Sie sollten sich ein bißchen mehr um ihn
kümmern! (geht ihm nach)
INNA: Herr Gott nochmal,
was soll ich denn machen?
ZHITOV: Nichts, der beruhigt
sich schon wieder.
INNA: Er ist so empfindlich
- wie ein kleines Mädchen... Und dann dieser Luntz: Erst aufwiegeln
und dann gute Ratschläge erteilen!
ZHITOV: Luntz! Den braucht
man ja nur mal schräg anzugucken, schon wird er hysterisch.
INNA: Das kann man wohl
sagen. Gott sei Dank können Sie wenigstens Ruhe bewahren - sonst könnte
man sich hier ja gleich begraben lassen.
ZHITOV: Tja, so bin ich...
Ich bleibe immer gefaßt... Manchmal würde ich mich gerne einfach
gehenlassen - aber es funktioniert nicht.
INNA: Seien Sie froh!
ZHITOV: Ich weiß
nicht. Für andere ist das natürlich sehr bequem, aber für
mich... Manchmal beneide ich sogar Menschen wie Luntz.
INNA: Wußten Sie,
dass Luntz vor vier Jahren, als er hier noch studierte, seine Eltern verloren
hat? Sie wurden ermordet, während des Judenpogroms...
ZHITOV: Ja, ich hab'
davon gehört.
INNA: Er ist nie darüber
hinweggekommen. So ein unglücklicher junger Mann... Manchmal brauch'
ich ihn bloß anzusehen und ich könnte sofort weinen. - Hat es
nicht schon wieder geklopft?
ZHITOV: Nein.
INNA: Na, dann werd'
ich mir nochmal die Zeitungen vornehmen. Ich muß mich irgendwie ablenken.
Sie sollten auch ein bißchen lesen, Vassilij Vassilitsch.
ZHITOV: Keine Lust. Ich
setze mich lieber ein bißchen an den Kamin.
Inna Alexandrovna setzt
sich ihre Brille auf und blättert die Zeitungen durch; Zhitov setzt
sich vor den Kamin und betrachtet das Feuer. Pollak arbeitet. Der Schneesturm.
Das Glockengeläute.
INNA: Möchte wissen,
was mein Sergej macht. Ich habe ihn schon seit zwei Tagen nicht mehr zu
Gesicht bekommen. Aber er hat ausdrücklich gesagt, dass er nicht gestört
werden will.
ZHITOV: So so...
Pause.
INNA: (liest) Schrecklich!
Unglaublich! Was ist denn ein "Maxim-MG", Vassilij Vassilitsch?
ZHITOV: Irgendein spezielles
Maschinengewehr.
Pause. Minna bringt Pollak
eine Tasse Kaffee.
INNA: Ich sollte mir
auch mal so ein Maxim-MG nehmen und damit...
ZHITOV: Hm, das könnten
Sie wahrscheinlich nicht mal allein hochheben.
Pause.
INNA: Dieses Heulen!
Wie soll man da lesen? Ach, es ist schade, dass Sie nach Australien gehen.
Wollen Sie nicht doch lieber hierbleiben?
ZHITOV: Unmöglich.
Ich bin nun mal kein Stubenhocker. Am liebsten würde ich die ganze
Welt bereisen, nur um zu sehen, wie sie so beschaffen ist. Von Australien
werde ich dann nach Indien fahren. Ich will unbedingt mal wilde Tiger sehen.
INNA: Aber wozu?
ZHITOV: Ich weiß
nicht. Ich schaue einfach gerne herum. Bei uns im Dorf war so ein Hügel.
Da saß ich, als ich noch klein war, ganze Tage lang herum und beobachtete
alles. Ich habe auch Astronomie nur studiert, um zu beobachten. Mit Mathematik
hatte ich nämlich gar nichts am Hut. Ist doch egal, ob eine Entfernung
zwanzig Millionen Meilen beträgt oder dreißig. Aber im übrigen
ich bin auch kein großer Redner.
INNA: Na, dann will ich
Sie nicht länger nötigen. Beobachten Sie nur weiter das Feuer.
Pause. Schneesturm. Glockengeläute.
ZHITOV: (ohne sich umzudrehen)
Werden Sie Ihren Mann auch nach Kanada begleiten, wenn er zur Sonnenfinsternis
fährt?
INNA: Nach Kanada? Selbstverständlich.
Ich kann ihn doch nicht allein fahren lassen.
ZHITOV: Na ja, das ist
eine lange Reise - kann verdammt hart werden.
INNA: Ach, sowas macht
mir nichts aus. Hier, diese Ungewißheit macht mir was aus!
Pause. Schneesturm. Glockengeläute.
Vassilij Vassilitsch!
ZHITOV: Ja?
INNA: Haben Sie das gehört?
ZHITOV: Nein, was denn?
INNA: Ach nichts, ich
dachte nur...
Pause. Schneesturm. Glockengeläute.
Vassilij Vassilitsch,
hören Sie das denn nicht?
ZHITOV: Was denn?
INNA: Da hat doch jemand
geschossen!
ZHITOV: Wer sollte hier
schießen? Wahrscheinlich eine akustische Halluzination.
INNA: Aber ich habe es
ganz deutlich gehört...
Pause. Schneesturm. Ein
entfernter Schuß.
ZHITOV: Tatsächlich!
Da schießt wirklich jemand!
INNA: (rennt hinaus)
Minna! Minna! Franz!
Zhitov erhebt sich langsam.
Ein zweiter Schuß, etwas deutlicher. Petja und Luntz kommen hereingelaufen.
PETJA: Was war denn das?
LUNTZ: Keine Ahnung.
Seh'n wir mal nach! (beide ab)
Zhitov horcht am Fenster.
Pollak dreht sich um, sieht das leere Zimmer und arbeitet weiter. Irgendwo
schlägt eine Tür; ein Hund bellt.
INNA: (tritt ein) Ich
habe ihnen den Hund mitgegeben. Wahrscheinlich hat sich jemand verirrt.
ZHITOV: Und die Glocke?
INNA: Vielleicht zu leise
für diesen Sturm... Haben Sie die Schüsse gehört? Ganz deutlich!
POLLAK: Falls ich mich
irgendwie nützlich machen kann?!
INNA: Im Moment nicht.
Ich muß Essen kochen.
Wieder schlägt eine
Tür. Stimmengewirr. Von den anderen begleitet, treten Anna und Treitsch
ein sowie Verchovtzev, der getragen wird. Alle sind dick angezogen und mit
Schnee bedeckt.
INNA: (auf der Türschwelle)
Anna?!
ANNA: (während sie
sich auszieht) Mama, schnell etwas Heißes, wir sind halb erfroren
- vor allem der arme Valentin. Schnell! (läßt sich halb ohnmächtig
in einen Stuhl sinken)
INNA: (geht schnell zu
dem Hereingetragenen) Valentin! Was ist denn passiert?
TREITSCH: Er ist verwundet.
VERCHOVTZEV: (schwach)
Halb so schlimm... Schwiegermütterchen, kein Grund zur Panik... - nur
die zwei Beine hier...
INNA: Und wer ist das?
TREITSCH: Ein Freund.
INNA: (schaut sich entsetzt
um) Und Kolja?
Pause. Petja stürzt
weinend auf seine Mutter zu.
PETJA: Mamotschka, keine
Angst - es ist nichts passiert... hab' keine Angst!
INNA: (schiebt ihn vorsichtig
beiseite) Wo ist Kolja?
ANNA: (die zu sich gekommen
ist und sich um den Verwundeten kümmert) Ach Mama! Er ist im Gefängnis,
aber es geht ihm gut.
LUNTZ: Was soll denn
das heißen? Ich verstehe kein Wort...
INNA: Im Gefängnis?!
Wieso im Gefängnis?
ANNA: Mein Gott! Was
ist daran nicht zu verstehen? Wir sind auf der Flucht!
POLLAK: Die Revolution
ist also vorbei?
LUNTZ: Trotzdem, ich
verstehe kein Wort. Im Ernst..?
TREITSCH: Ja, wir sind
geschlagen.
Pause.
ANNA: (während sie
sich hektisch um Verchovtzev kümmert) Mama, hast Du nichts da, was
ihn ein bißchen aufwärmt?! Heißes Wasser, Kognak... Außerdem
brauchen wir Watte.
INNA: Ja natürlich,
sofort. Minna! (geht ab) Im Gefängnis..!
ZHITOV: Vielleicht sollte
man auch Sergej Nikolajitsch Bescheid sagen.
INNA: (im Abgehen) Ja,
ich lasse ihn rufen.
POLLAK: Erzählen
Sie doch bitte, was passiert ist, Herr...
TREITSCH: Treitsch.
VERCHOVTZEV: (schwach)
Ohne ihn... wär' ich jämmerlich krepiert. Anna, entspann Dich..!
Ich fühle mich schon wieder kerngesund!
ANNA: Es grenzt an ein
Wunder, dass wir es überhaupt bis hierher geschafft haben! Entsetzlich!
Seit acht Uhr morgens sind wir unterwegs. Den ganzen Tag in den Bergen.
Und an der Grenze hätten sie uns dann beinahe noch geschnappt.
LUNTZ: Unglaublich!
PETJA: Valja, was ist
passiert? Hast Du Schmerzen?
VERCHOVTZEV: Nein, nur
diese verfluchten Kopfschmerzen... Meine Beine haben ein bißchen was
abgekriegt... Bombensplitter... und meine Ohren sind abgefroren... Verdammter
Mist!
PETJA: Sie haben Bomben
gegen Euch eingesetzt?
VERCHOVTZEV: Ja... die
Bourgeoisie hat keine... Ausgaben gescheut... wirklich... nicht gerade geizig.
ANNA: Valentin, Du darfst
nicht soviel sprechen! - Mein Gott, es war die Hölle, die reinste Hölle!
Hunderte von Bomben, als ob es regnet... Sie rissen alles in Stücke
- alles und jeden: Tausende, Zehntausende von Toten... Auf dem Rathausplatz
hatten sie einen Berg von Leichen aufgetürmt - alle völlig verstümmelt
- die reinste Hölle!
INNA: (tritt näher)
Und Kolja? Ich muß wissen, was mit Kolja ist!
ANNA: Um ehrlich zu sein:
wir wissen es nicht.
INNA: Was? Du hast doch
eben noch gesagt...
PETJA: Und was ist mit
Marusja? Ihr verheimlicht uns doch irgendwas...
ANNA: Das hat seinen
guten Grund.
TREITSCH: Frau Ternovskaja,
beruhigen Sie sich. Ich bin mir sicher, dass Nikolaj lebt. Wir waren bis
zum Schluß zusammen auf den Barrikaden. Nikolaj wurde leider verwundet
- er stand direkt neben mir...
INNA: Mein Gott! Ist
es was Ernstes? Ist er..? Nun sagen Sie's doch..!
TREITSCH: Nein, ich glaube
nicht, dass es was Ernstes war.
FRANZ: (tritt ein) Herr
Professor ausrichten läßt, dass er gleich hierkommt.
ANNA: (ironisch) Aber
sicher - es eilt ja nicht!
INNA: Ja und?! Was weiter..?!
TREITSCH: Ich glaube,
er wurde von einer Kugel oder einem Granatsplitter in die Schulter getroffen.
Erst ging es ihm noch gut, aber dann verlor er das Bewußtsein. Ich
schleppte ihn in eine kleine Seitenstraße, aber plötzlich tauchen
Dragoner auf, gegen die ich allein keine Chance hatte - außerdem wollte
ich ihn nicht der Gefahr aussetzen, erschossen zu werden... Also ließ
ich ihn dort liegen und ging zu den Genossen zurück. Jetzt ist er wahrscheinlich
im Gefängnis.
INNA: (weinend) Koljuschka,
mein armer Koljuschka! Ich hab's ja geahnt! Womit habe ich das verdient?
Und Sie glauben wirklich, dass es nichts Ernstes ist?
TREITSCH: Nein, bestimmt
nicht.
PETJA: Und Marusja? Wieso
sagen Sie nichts über Marusja? Ist sie tot?
ANNA: Aber nein! Valja,
möchtest Du ein bißchen Wasser mit Kognak?
TREITSCH: Ich habe sie
nur noch einmal kurz gesehen. Sie ist da geblieben, um dem Genossen Nikolaj
zu helfen.
INNA: Ach Marusja, mein
Engel! Ich hab's ja gewußt! So ein tapferes Mädchen! Wie war
nochmal Ihr Name - Treitsch... Möchten Sie einen Schluck Kognak? Sie
sind ja völlig am Ende. Trinken Sie nur, mein Lieber. Ich würde
Ihnen am liebsten einen Kuß geben, aber... ich bin ja keine... Genossin.
TREITSCH: Ich würde
es als eine besondere Ehre erachten.
Sie küssen sich.
INNA: Ach, Maruska, mein
Engel! Was für eine Heldin - und Sie auch, Herr Treitsch... Minna!
(geht ab)
LUNTZ: (mit einem Ausdruck
von Wahnsinn) Also alles umsonst?
POLLAK: Scheinbar ja.
LUNTZ: Das heißt
also: all das Blut, all die Opfer, die Leichenberge, dieser ganze beispiellose
Kampf - alles umsonst! Diese... diese... verfluchten Schweine! Wieso bin
ich nur hiergeblieben? Wieso liege ich nicht dort, bei meinen Brüdern?
VERCHOVTZEV: Was wollen
Sie denn?.. Glauben Sie... dass die Bourgeoisie ihre... Herrschaft so mir
nichts, dir nichts... an uns abtritt?.. Der Bourgeois... ist schließlich...
kein Trottel!.. Sie werden schon noch... Gelegenheit haben, sich zu Ihren...
Brüdern zu legen!
TREITSCH: Allerdings,
der Kampf ist noch nicht zuende.
POLLAK: Und Sie sind
ein Werktätiger, Herr Treitsch?
TREITSCH: Ja, ich bin
Arbeiter. Übrigens habe ich Frau Ternovskaja nicht alles gesagt, da
ich sie nicht - möglicherweise grundlos - verängstigen wollte...
aber es könnte sein, dass Nikolaj erschossen wurde.
PETJA: Erschossen?!
TREITSCH: Ja, es heißt,
dass sie alle Gefangenen standrechtlich erschießen - auch die Verwundeten.
PETJA: (fährt zusammen
und hält sich die Hände vors Gesicht) Das können sie doch
nicht tun!
LUNTZ: Tiere! Sie haben
schon immer menschliches Blut gesoffen! Sie sind so voll davon, dass es
ihnen langsam aus den Ohren rauskommen müßte!
VERCHOVTZEV: Ja... die
vegetarische Küche... haben sie noch nie besonders... zu schätzen
gewußt.
LUNTZ: Wie können
Sie sich darüber auch noch lustig machen?!
ANNA: Du sollst nicht
reden, Valja.
VERCHOVTZEV: Das sind
die Kopfschmerzen... da mach' ich gerne mal 'n kleines... Späßchen.
Aber ich werde jetzt... meine Klappe halten. Vielleicht sollte ich mich
jetzt auch mal... ein bißchen auf's Ohr hauen, Anna... Hätte
nur gerne nochmal... unserem Sternenzähler... Guten Tag gesagt.
Inna Alexandrovna tritt
ein.
ZHITOV: Da kommt er ja.
Oben auf der Treppe erscheint
Ternovskij.
TERNOVSKIJ: (noch während
er herunter kommt) Ja was denn? Wo ist Nikolaj?
INNA: Sergej, erschrick
jetzt nicht: Er ist verwundet und sitzt im Gefängnis.
TERNOVSKIJ: (bleibt stehen,
von oben) Schlägt man sich dort immer noch gegenseitig die Köpfe
ein? Gibt es denn dort immer noch Gefängnisse?
VERCHOVTZEV: (zynisch)
Gleich fällt er... aus allen Wolken.
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2. Akt
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