George Martin
"Summer
of love"
MacMillan,
London 1994.
Übersetzung
von Frank Jankowski
3. Kapitel
'I don't really want
to stop the show...'
Wenn überhaupt
je zwei Menschen einander gebraucht haben, damals im Frühling 1962,
dann waren das Brian Epstein und ich. Er brauchte mich; und ich brauchte
ihn, aber wie - Junge Junge!
Brian und ich hatten immer sehr eng zusammengearbeitet. Wir hatten die
genauesten Vorstellungen davon, wann eine Platte erscheinen sollte, und
entwarfen gemeinsam detaillierte Terminpläne für die Studiosessions
der Beatles. Nach dem Riesenerfolg von Revolver, im August 1966, hatten
die Beatles wieder Studiotermine in Abbey Road, um ein neues Album zu
produzieren.
Wir hatten keine Ahnung, was wir eigentlich machen wollten; es war schlicht
und ergreifend eine Art Automatismus, der sich mittlerweile etabliert
hatte: Jedes Jahr vier Singles und zwei LPs - für heutige Verhältnisse
ein ganz beträchtliches Programm. Jedenfalls hatten die Beatles aus
heiterem Himmel beschlossen, mit dem Automatismus und damit auch mit sämtlichen
Regeln zu brechen. Die große Frage war nun, ob irgend etwas von
dieser gemütlichen alten Herstellungs- und Verkaufspraxis überleben
würde. Durften wir 1967 überhaupt noch mit einem neuen Album
rechnen?
Zu wissen, daß die Beatles ihr Goldfischglas satt hatten, und zu
wissen, daß der US-amerikanische Markt heftigen Schwankungen unterlag,
war für Brian alles andere als hilfreich, um die brenzlige Situation
in den Griff zu kriegen. Das einzige, was er sah, war, daß die Beatles
keine Lust mehr hatten, live aufzutreten. Sie wollten sich ins Studio
vergraben, womöglich für Monate. Vor Brian tat sich ein tiefes
schwarzes Loch auf. Dabei mußte man sich unbedingt um das 1966er
Weihnachtsgeschäft kümmern; wir brauchten dringend etwas Zugkräftiges
dafür. Aus diesem Grunde hatte er einen Anflug von Panik in seiner
Stimme, als er zu mir kam und sagte: "Wir müssen eine Single
rausbringen, und zwar fix. Was hast du anzubieten? Ich will das Beste,
was du hast." Er war dafür prädestiniert, verlorenen Boden
wettzumachen und die Beatles unter keinen Umständen aus dem goldenen
Schein des Rampenlichts drängen zu lassen.
Ich hatte tatsächlich etwas anzubieten, sogar ein paar echte Juwelen.
Wir hatten seinerzeit gerade drei brandneue Titel fertiggestellt: 'When
I'm Sixty-Four', 'Strawberry Fields Forever' sowie 'Penny Lane'. Und wir
arbeiteten an 'Good Morning, Good Morning' und 'A Day In The Life'. Wie
wäre es zum Beispiel damit?!
Da ich merkte, wie niedergeschlagen Brian war, bot ich ihm eine superstarke
Kombination an, einen Doppelhit, der unfehlar war, eine unschlagbare Zusammenstellung
zwei der besten Songs aller Zeiten: 'Strawberry Fields Forever' und 'Penny
Lane'. Diese beiden Songs würden eine phantastische doppel-A-seitige
Single abgeben, das versprach ich ihm - besser noch als unsere anderen
doppel-A-seitigen Triumphe, wie 'Day Tripper'/'We Can Work It Out' und
'Eleanor Rigby'/'Yellow Submarine'.
Dies war der größte Fehler meiner beruflichen Laufbahn. Jeden
Song einzeln herauszubringen und z.B. mit 'When I'm Sixty-Four' zu kombinieren,
wäre die bei weitem klügere Entscheidung gewesen, aber zu dieser
Zeit erkannte ich das leider nicht.
Die wichtigsten Musik-Charts erschienen in drei Fachblättern: Melody
Maker, New Musical Express (NME) und Record Mirror. Diese Konkurrenz-Hitlisten
basierten auf den Absatzzahlen verschiedener Einzelhändler, wobei
jede Woche andere Plattenläden erfaßt wurden - mithin ein ziemlich
primitives System. Hätte ich nur eine Sekunde darüber nachgedacht,
hätte ich sofort erkannt, daß der eine große Song gegen
den anderen ankämpfen mußte; und genau das passierte auch:
Die Absatzberichte wiesen aus, daß unsere Doppel-A-Seite reißenden
Absatz fand. Aber die Sache hatte einen entscheidenden Haken: Die wächentlichen
Bestsellerlisten sagten aus, daß sich zwei Singles, nämlich
'Strawberry Fields Forever' und 'Penny Lane', gut verkauften. Das heißt,
sie wurden separat gezählt und so machte die eine Seite unserer Single
den Erfolg der anderen effektiv zunichte. Deshalb wurden wir von einer
sentimental-altmodischen Ballade mit dem Titel 'Release Me' abgehängt,
die ein Newcomer mit dem unglücklichen Namen Engelbert Humperdinck
sang. Zum ersten Mal seit 'Please Please Me', seit 1963 also, waren die
Beatles mit einer neuen Single nicht mehr auf Platz eins gelandet.
Damit brach eine lange Erfolgsserie ab. Wir hatten zwölf erste Plätze
in Folge erzielt. Das war für uns schon zur Selbstverständlichkeit
geworden - eine fast so sichere Angelegenheit wie das Amen in der Kirche.
Und mit der Unglückszahl Dreizehn war es prompt in die Hose gegangen.
Obwohl es zweifellos die beste Single war, die die Beatles jemals herausgebracht
hatten, versackte sie in den Charts auf Platz zwei, auch wenn dabei die
kombinierten Verkaufszahlen stetig anstiegen. Brians sinkende Moral vermochte
dieser kleine Trost jedoch beileibe nicht aufzurichten.
Brian und ich hatten uns mit Beginn unserer Zusammenarbeit fest vorgenommen,
den Käufern für ihr Geld einen reellen Gegenwert zu bieten.
Deshalb einigten wir uns damals darauf, einen Song, wenn er erst mal als
Hit-Single erschienen war, nach Möglichkeit nicht noch einmal als
zynischen Marketing-Trick auf einer LP unterzubringen. Dies hätte
nach unserer Auffassung bedeutet, die Leute für ein und dasselbe
Produkt gleich zweimal zur Kasse zu bitten. Heutzutage mutet das lächerlich
an, ich weiß; heute wird ein einzelner Hit mitunter so sehr ausgeschlachtet,
daß es ein ganzes Album tragen muß; aber seinerzeit dachten
wir eben anders. Das war im übrigen auch der Grund, warum 'Strawberry
Fields' und 'Penny Lane' nicht, wie ursprünglich geplant, für
Sgt. Pepper verwendet wurden.
Es war eigentlich
gar nicht typisch für Brian, wegen einer Weihnachtssingle gleich
so panisch zu reagieren. Bis zu diesem Herbst hatte er mit geradezu religöser
Inbrunst an die Beatles geglaubt. Und es war gerade seine Dampfwalzen-Überzeugung
gewesen, die mich so nachhaltig beeindruckt hatte, als wir uns an jenem
Februartag des Jahres 1962 erstmals begegneten, während die Zukunft
seiner Truppe an einem seidenen Faden hing.
Er war damals Manager eines Liverpooler Plattenladens, träumte von
seltsamen Dingen und hatte am Ende seiner Weisheit sein ganzes Vermägen
auf einen Außenseiter-Gaul gesetzt, der Beatles hieß. Ich
war Geschäftsführer von EMI's kleinstem Label namens Parlophone
- eine Comedy-Plattenfirma für seichte Unterhaltung und ein bißchen
Jazz. Er war ein blutiger Anfänger in dem Business; ich nahm seit
zwölf Jahren Platten auf. Beide waren wir ein wenig übermütig.
Kurz nachdem im Foyer von Decca Records sein Feuer entflammt war, setzte
Brian alle nur erdenklichen Hebel in Bewegung, um die Karriere der Beatles
so schnell wie möglich anzuschieben. Decca hatte die Fab Four in
jenem Jahr ganz kategorisch abgelehnt und ihre Musik nach einer Audition
als äzweifellos uninteressantä abgeurteilt. Columbia, HMV, Pye
und auch jedes andere Unternehmen, bei dem er mit dem Demoband seiner
Schützlinge vorstellig geworden war, hatte ihn gar abblitzen lassen,
ohne auch nur die Möglichkeit einer Audition in Betracht zu ziehen
- einschließlich Woolworths Embassy. Die Türen zu Ruhm und
Erfolg aufzustoßen, erwies sich als ungemein mühselige Angelegenheit.
Und es hatte schon ganz den Anschein, als müsse er nun bald seine
Heimfahrt antreten, um wieder im Familienbetrieb zu arbeiten, als müsse
er seine 'Jungs' im Stich lassen, denen er so hochtrabende Versprechungen
gemacht hatte: von schwindelerregenden Erfolgen und vom großen Glück.
Am Widerhaken der drohenden Niederlage sich windend, unternahm Brian einen
letzten Versuch und fuhr zum HMV-Musikgeschäft in der Oxford Street.
Verbissen setzte er alles daran, eine günstige Acetat-Musterpressung
vom Demoband der Beatles zu erwirken - nur für den Fall, daß
sich vielleicht doch etwas ergeben sollte. Brian Epstein war in der Tat
so etwas wie ein musikalischer Mr. Micawber, nur, daß sich für
ihn tatsächlich etwas ergab: Ich 'ergab' mich.
Aber das war natürlich reiner Zufall. Der Tontechniker, der in dem
HMV-Geschäft die Kopien anfertigte, hörte sich den heiseren
Radau an, schnaubte einmal nachdenklich durch und befand es für ziemlich
gut. Wenn es auch etwas gänzlich Anderes war. Er hieß Jim Fox.
"Habt ihr das schon mal irgendwem gezeigt?" erkundigte er sich
bei Brian. "Ich meine, irgendeiner Plattenfirma?" "Jeder
nur erdenklichen," antwortete Brian, "und sie sagten alle dasselbe:
"No.""
"Habt ihr es auch schon bei einem Musikverlag probiert?" fragte
Fox. "Nein," antwortete Brian. "Ich gebe dir einen Rat"
sagte der hilfsbereite Tontechniker. "Wieso läßt du nicht
einfach eine Scheibe bei Syd Coleman? Er ist gerade hier, sitzt in seinem
Büro in der Chefetage. Vielleicht ist er ja interessiert." Damit
griff Jim ohne Umschweife zum Telefon und rief Syd an.
Wenige Minuten später wurde ein leicht irritierter Brian in das feudale
Büro des Geschäftsführers vom EMI-Musikverlag Ardmore &
Beechwood geleitet. Die beiden Männer tauschten Häflichkeitsfloskeln
aus.
"Mit wem haben Sie schon gesprochen, Mr. Epstein?" begann Syd.
"So ziemlich mit jedem," gestand Brian, redlich bemüht,
keine allzu vertrottelte Figur abzugeben.
"Und Sie haben vor, die Musik dieser Gruppe zu veräffentlichen,
sehe ich das richtig?"
"Nein," antwortete Brian. "Ich will, daß sie einen
Plattenvertrag kriegen."
"Haben Sie schon mit den Leuten von EMI gesprochen?" fragte
Syd.
"Ja."
"EMI hat Sie abgelehnt, Philips hat Sie abgelehnt und Pye ebenfalls?"
"Ja," sagte Brian, sich auf die Lippen beißend. "Wir
hatten eine Audition bei Decca, aber die haben uns dann auch abgelehnt."
"Schän," sagte Syd, "haben Sie es denn bei Parlophone
schon probiert?" Brian schaute ihm geradeheraus ins Gesicht. "Was
ist Parlophone?" erkundigte er sich.
"Ein Kerl namens George Martin," antwortete Syd. "Er produziert
Comedy-Platten. Er hatte schon mit den unterschiedlichsten Stilrichtungen
Erfolg."
'Großer Gott,' dachte Brian, 'jetzt hab' ich's endlich geschafft.'
Syd rief mich schnurstracks an: "George, ich weiß nicht, ob
es dich interessiert, aber ich habe hier einen jungen Burschen mit einem
Demo-Tape von einer Gruppe, die er managt. Sie haben noch keinen Plattenvertrag,
und ich habe mich gefragt, ob du ihn dir mal ansehen und hören willst,
was er anzubieten hat?"
"Aber gerne," sagte ich. "Ich habe für jeden ein offenes
Ohr. Sag ihm, er soll mal bei mir vorbeischauen."
"O.K., werd' ich machen. Sein Name ist übrigens Brian Epstein."
Als ich sagte, daß ich für jeden ein offenes Ohr hätte,
so entsprach das absolut der Wahrheit. Comedy-Platten gingen durchaus
gut. Mit ihnen hatte sich Parlophone sogar bereits einen Namen gemacht.
Aber ich war händeringend auf der Suche nach einer Gelegenheit, ins
Popmusik-Geschäft einzusteigen.
EMI hatte damals vier Tochterfirmen, die draußen in Abbey Road arbeiteten:
HMV, Columbia, Parlophone und Regal Zonophone. Columbia hatte den CBS-Katalog:
Frank Sinatra, Doris Day, Guy Mitchell... HMV vertrat sämtliche USA-Importe
von RCA Victor: Elvis Presley, Harry Belafonte usw. Mit diesen beiden
Firmen wurde das große Geld gemacht. Dagegen waren Regal Zonophone
und mein Betrieb kleine Fische. Die Produzenten von HMV und Columbia hatten
Brian, wie wir wissen, bereits die Tür gewiesen. Er war also mit
den Abbey Road Studios bestens vertraut, wenn auch nur als Außenstehender.
Nichtsdestotrotz war Brian ganz versessen darauf, mich zur verabredeten
Stunde dort zu treffen. Kurz zuvor war ich in Oscar Preuss' altes Büro
aufgestiegen, wo heute die Empfangsdame sitzt. Es war Oscar, der mir meinen
ersten guten Job in der Plattenbranche verschafft hatte, indem er mich
1950 abwarb und zu seinem Assistenten machte. Ich hatte damals eine kleine
Stelle als Sachbearbeiter in der BBC-Musikbibliothek in der Great Portland
Street gehabt.
Oscar hatte sich pensionieren lassen, und so übernahm ich nicht nur
sein Büro, sondern auch seine schäne und junge Sekretärin,
Judy Lockhart Smith. Das erste, was sie tat, als ich sie in meiner neuen
Funktion als Boss begrüßte, war das Angebot, zu kündigen
- ein Angebot, das ich erschrocken ablehnte, da sie immerhin diejenige
Person war, die in Abbey Road alles zusammenhielt. Es war auch in anderer
Beziehung wichtig, daß sie blieb - zehn Jahre später heirateten
wir.
Als ich Brian an jenem Tag erstmals begegnete, war ich von der Liebenswürdigkeit
und Engagiertheit des jungen Mannes - mit Leib und Seele ein wahrhaftiger
Entrepreneur - ganz hingerissen. Er verstand es, sich auszudrücken
und machte in seinem astrachanischen Mantel mit Samtrevers eine ausgesprochen
smarte Figur. Er legte sein kostbares Kleinod in Gestalt einer frischgeprägten
Demoscheibe auf den Plattenteller und wir lauschten gemeinsam der Musik.
Die Aufnahmequalität war entsetzlich. Und nicht bloß das. Die
Beatles, wie sie sich nannten, spulten da eine Reihe von Balladen ab,
die selbst aus damaliger Sicht bereits antiquiert anmuteten: Schnulzen,
wie 'Over The Rainbow' und 'Besame Mucho', aufgelockert durch merkwürdige
Blues-Klassiker, wie z.B. Fats Wallers 'Your Feet's Too Big'.
Wie die Mehrheit der britischen Plattenindustriellen war auch Brian seinerzeit
fest davon überzeugt, daß schmachtvoll gesungene Schnulzen
den sichersten und wohl auch einzigen Weg zum Erfolg ebnen. Deshalb hatte
er die Beatles beschworen, mit solcher Art von Musik ihr Demoband zu gestalten.
Schließlich, so argumentierte er, seien die Charts voll davon, also
mußte es auch genau das sein, was die Leute hören wollten.
Ich hatte sofort den Eindruck, daß sich die Musik, die die Beatles
machten, ihr ganzer Stil, überhaupt nicht mit diesem Material vereinbaren
ließ, und ich fing an, ein bißchen unruhig zu werden.
Eine Minute Geduld!.. Zwischen all diesem schmachtenden Gewimmer hatte
die Band ein paar eigene Songs aufgenommen. Sie hießen 'Please Please
Me' und 'Love Me Do'.
Als das Band abgelaufen war, schaltete ich die Anlage aus und blickte
ihn an. "Es ist nicht genial", sagte er. "Also, ich weiß
wirklich nicht, ob..." Während ich mit mir selbst rang, schickte
Brian sich an, die Beatles in den Himmel zu loben und wie heiße
Würstchen anzupreisen. "Eines Tages", erklärte er
mir mit einem fanatischen Funkeln in den Augen, "werden sie größer
sein als Elvis Presley".
Während er seine panegyrischen Theorien deklamierte, dachte ich angestrengt
nach. Ich brauchte etwas ganz Neues, so etwas wie meinen eigenen Cliff
Richard. Ich war immer sehr neidisch auf Norrie Paramor gewesen, einen
meiner Kollegen in Abbey Road. Für ihn war alles so einfach. Er produzierte
Cliff für die Columbia, und das auch noch sehr gut. Unterdessen mußte
ich mir mit Bernard Cribbins, Charlie Drake und Rolf Harris den Arsch
aufreißen, indem ich versuchte, Songs aufzutreiben die zu ihnen
paßten, die komisch waren und sich gut verkaufen ließen. Das
war harte Arbeit, und die Ergebnisse erschienen irgendwo unter 'Ferner
liefen', während man mit Cliff Richard bloß ein halbwegs passables
Lied aufzunehmen brauchte, und schon landete man einen Hit. Ob sich die
Beatles für mich als Goldene Gans entpuppen würden? Ich bezweifelte
das. Dennoch zeichneten sie sich durch etwas Besonderes aus, das ich nicht
näher definieren konnte, etwas Interessantes - und last but not least
war es auch etwas ganz Neues.
"Folgendes!" sagte ich zu Brian. "Die einzige Möglichkeit,
eine Entscheidung zu fällen, ist die, sie persönlich kennenzulernen.
Kommen Sie mit ihnen runter nach London. Ich nehme sie dann mit ins Studio
und höre sie mir an."
Aufgrund der Erfahrung, die sie gesammelt hatten, hielten sie es für
ratsam, erst im Anschluß an ihre Hamburg-Tour zur Audition nach
London zu fahren - das war am 6. Juni 1962. Ohne zu wissen, welche Art
von Aufnahme-Sound sie von mir erwarteten, lud ich sie ins Studio ein.
"Kommen Sie und sehen Sie sich an, was wir zu bieten haben",
sagte ich, "Und sagen Sie mir ruhig, wenn Sie irgend etwas stärt."
George Harrisons großkotzige Bemerkung, "Also zunächst
einmal stärt mich Ihre Krawatte", ist eine Beatles-Anekdote,
die mittlerweile einen irrsinnig langen Bart hat. Was auch passierte,
eines stand fest: So bald würde ich diese Typen nicht vergessen.
Sie spulten ihr Programm ungefähr genauso herunter, wie ich es auf
dem Acetat-Muster gehört hatte - grobschlächtig und nicht eben
ausgegoren. Sie hatten etwas Besonderes an sich, das man schon bei der
ersten Begegnung spürte, allerdings hatte das nichts mit ihrer Musik
zu tun. Sie besaßen das gewisse Etwas - ein magisches Charisma.
Sie strahlten Überschwenglichkeit aus. Wenn sie miteinander spielten
oder sich unterhielten, versprühten sie rings um sich herum lauter
Funken. Die Schnoddrigkeit dieser vier blutjungen Männer versprühte
einen ungeheuren Charme, sowohl einzeln als auch gemeinsam. Niemand vermochte
ihrer Wärme, ihrem Esprit und ihrer ausgekochten Schlagfertigkeit
zu widerstehen.
Ihre Erfahrungen mit der vernarbten Unterwelt von Hamburgs Nachtleben
hatten sie gelehrt, wie man mit Publikum umgehen mußte und wie man
es bei der Stange hielt. Sie hatten eine starke Bühnenpräsenz.
Wenn das bierselig saufende Durchschnittspublikum von der Reeperbahn nicht
mit dem einverstanden war, was ihm auf der Bühne geboten wurde, dann
durfte man sich darauf verlassen, daß irgendwann Stühle flogen.
Die vier Jungs, mit denen ich es hier zu tun hatte, hatten gelernt, sich
durchzusetzen, und zwar auf die harte Tour.
Langsam begriff ich, weshalb Mr. Epstein so euphorisch war. Ich für
meinen Teil hatte nicht vor, mit meinem Stuhl zu werfen. Aber ich mußte
mich von meinem Platz erheben, und sei es auch nur, um Applaus zu spenden.
Es mußte doch für diese Star-Qualität einen Markt geben
- aber wo?
Die ganze Zeit, während sie spielten, dachte ich 'Wer von ihnen sieht
am besten aus? Wer von ihnen hat die beste Stimme?' Ich hielt Ausschau
nach einem neuen Buddy Holly and the Crickets, nach einem neuen Cliff
Richard and the Shadows. Ich sah die vier nicht als Gruppe, sondern als
Paul McCartney and the Beatles beziehungsweise als John Lennon and the
Beatles. Einer von diesen beiden mußte es sein, soviel stand fest.
Pete Best sah zwar außergewöhnlich gut aus und er hatte etwas
Launisches, James-Dean-Artiges, aber er kam am wenigsten aus sich heraus,
und was seine Schlagzeuger-Qualitäten betraf... Ich war mir nicht
sicher.
Wenn auch ein jeder von ihnen auf seine individuelle Weise glänzte,
so waren doch John und Paul die eigentlichen Stars.
Dann spielten sie 'Love Me Do'. Obwohl Lennon und McCartney es gemeinsam
geschrieben hatten, bat ich Paul, die Leadstimme zu singen, denn ich wollte,
daß Johns Harmonika mit in den Gesang einfließt, und er konnte
ja nicht gleichzeitig singen und spielen. Also trällerte Paul drauflos,
während John ihn mit dieser sonderbar einzigartigen, nasalen Harmonie
unterstützte, die zum Markenzeichen ihres frühen Stils avancieren
sollte. Und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Es
war eine Gruppe, die da spielte. Man mußte sie als Gruppe nehmen
und als Gruppe herausbringen. Diese charakteristische Harmonie, dieser
einmalige Soundverschnitt - das ließ sich vermarkten. Und das war
auch dieses besondere 'Etwas', das ich unterbewußt auf der Demoplatte
bemerkt hatte. Mir fiel keine andere Band oder Stilrichtung innerhalb
der Popmusik ein, die hiermit zu vergleichen gewesen wäre, auch keine
von den zahlreichen US-Importen, die ich mir angehört hatte. Es mochten
Elemente von den Everly Brothers und den alten Blues-Helden darin vorkommen,
von Elvis Presley und Chuck Berry, aber grundsätzlich war es etwas
Neues, etwas Englisches, etwas Liverpool-Spezifisches - etwas Beatles-Spezifisches.
Die 64.000-Dollar-Frage war, ob die Leute es kaufen würden.
Es gab nur einen einzigen Weg, das herauszufinden. Ich mußte sie
unter Vertrag nehmen, und ich tat es. Die Knausrigkeit dieses ersten Beatles-Vertrages
wurde zur Legende, doch sie unterschrieben ihn. (Legendäre Knausrigkeit
war Bestandteil der Unternehmenspolitik, und ich sollte zu spüren
bekommen, daß sie nicht bloß auf Künstler angewendet
wurde. Trotz einer Platte, die sich siebenunddreißig Wochen auf
Platz eins hielt, hat mir EMI nicht ein einziges Mal einen Bonus gezahlt.
1965 versuchte ich, einen neuen Vertrag auszuhandeln. Ich hatte herausgefunden,
daß Parlophone EMI einen Profit von 2.200.000 Pfund Sterling eingebracht
hatte. Und ich sah davon keinen Penny - nicht einmal unter den neuen Bedingungen,
die sie mir anboten. Also nahm ich im August desselben Jahres meinen Abschied,
gründete AIR, Associated Independent Recording, und verpachtete mich
selbst an EMI zurück, um die Beatles sowie ein paar andere Musiker
zu produzieren - und zur Abwechselung auch mal ein bißchen Geld
zu verdienen.)
Scharfsinnige Beatles-Fans
werden bemerkt haben, daß ich die offizielle Geschichte dieser Gruppe
reformiert habe. Mein Vertrag mit den Beatles wurde nämlich bereits
am 4. Juni 1962 besiegelt - der Originalvertrag existiert noch und ist
mit diesem Datum versehen. Ich hätte mit Brian Epstein niemals und
unter keinen Umständen einen Vertrag für eine Band abgeschlossen,
die ich zuvor nicht gesehen oder live gehört hätte. Nach wie
vor wird in den meisten Darstellungen behauptet, daß die erste Beatles-Audition
- und somit unsere erste Zusammenkunft - nicht vor dem 6. Juni stattfand.
Dies wäre jedoch zwei Tage nach dem Tag gewesen, da wir den Dreijahresvertrag
abschlossen!
Ich glaube, so kann es unmöglich gewesen sein. Soweit ich mich entsinne,
fand am 3. März 1962 eine Aufnahme-Audition in Studio 3 (dem oberen
Studio) auf dem Abbey-Road-Gelände von EMI statt. Das bestätigt
auch meine Frau, Judy Lockhart Smith. Wenn dem so ist (und es ergibt aus
meiner Sicht so viel mehr Sinn), dann muß die erste Begegnung zwischen
Brian und mir nicht am 9. Mai, sondern drei Monate früher stattgefunden
haben. Das, was ich auf dieser ersten, zwischenzeitlich vergessenen, Audition
gehört hatte, genügte mir durchaus, um Brian einen Plattenvertrag
anzubieten. Deshalb verschickte er auch am 9. Mai sein Telegramm, in welchem
er den Beatles mitteilt, daß ihm ädie EMI-Plattenfirma Parlaphone
[sic],ä einen Vertrag angeboten hat. Das war kein Anfall von Größenwahnsinn,
der aus unserem (angeblich am 9. Mai stattgefundenen) Vorgespräch
resultierte - es war eine schlichte Tatsache. Ich ließ von unserer
juristischen Abteilung am 18. Mai einen ordentlichen 'Künstlervertrag'
aufsetzen, der am 4. Juni rechtskräftig unterzeichnet wurde. Unterdessen
schrieb Brian am 27. März an Bert Kaempfert, der die Beatles bis
zum 30. Juni unter Vertrag hatte, er mäge sie aus dem Vertrag entlassen.
In diesem Zusammenhang scheint es mir angebracht, einen Ausschnitt aus
diesem Brief zu zitieren: äAus gegebenen Anlaß ist es der Plattenfirma,
mit der wir in Vertragsverhandlungen eingetreten sind (eigene Hervorhebung)
nicht möglich, die Aufnahmen mit der Gruppe zu beginnen, bis sie
aus Deutschland zurückgekehrt ist, und zieht es in jedem Fall vor,
abzuwarten, bis der Vertrag mit Ihnen selbst aufgekündigt wurde.ä
Das ist meine Version der Ereignisse, also muß es die richtige sein!
zum
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Kapitel
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