George Martin
"Summer
of love"
MacMillan,
London 1994.
Übersetzung
von Frank Jankowski
4. Kapitel:
6. Dezember 1966:
"Yours sincerely, wasting away..."
Nachdem wir durch
die Single 'Strawberry Fields Forever'/'Penny Lane' zwei wunderbare Stücke
eingebüßt hatten, wurde 'When I'm Sixty-Four' nun das erste
Lied, das exklusiv für unser neues Album bestimmt war. Dies war allem
Anschein nach eine von den schrulligen Variet-Nummern, die Paul
sich von Zeit zu Zeit gerne mal ausdachte und unbedingt aufnehmen wollte.
Sehr lange schon, viel länger, als wir uns überhaupt kannten,
hatte dieser Song in seinem Kopf herumgespukt. Aber es hatte damit noch
eine andere Bewandtnis: Wenn ihre Verstärker bei einem Auftritt im
Cavern Club ausgefallen waren, was häufiger passierte, überbrückten
die Beatles die Reparaturdauer, indem sie dieses und andere Lieder trällerten
und nur mit Akustikgitarren begleiteten.
Ich bin mir sicher, daß Paul beim Schreiben dieser Songs an seinen
Vater dachte. Pauls Vater hatte nach dem Krieg in einer Tanzkapelle gespielt.
Und es ist bestimmt kein Zufall, daß Jim McCartney im Juli 1966
vierundsechzig Jahre alt war. Jim liebte Variet-Nummern und kitschige
Popsongs, also die Art von Musik, die Paul normalerweise nie toleriert
hätte. Insofern darf man 'When I'm Sixty-Four' nicht für bare
Münze nehmen, sondern für eine Art nostalgische und bis zu einem
geringen Grad vielleicht sogar satirische Hommage an seinen Vater.
In mancher Beziehung handelt es sich dabei um ein Echo der Stücke,
die Jim gespielt hat, als Paul noch sehr klein war. Es ist fast eine Des
O'Connor Nummer. Und es hat ja auch beileibe nicht viel von einem Beatles-Song,
schließlich waren die anderen Beatles kaum daran beteiligt.
Paul entschärfte den Schmalzfaktor, indem er vorschlug, Klarinetten
einzusetzen und den Song nach klassischem Muster' aufzunehmen. Als
Hauptbegleitung fungierten demnach zwei Klarinetten sowie eine Baßklarinette,
die ich für sie instrumentalisierte. Die formale klassische Machart
verlieh dem Song eine zusätzliche Bissigkeit, durch die er in die
Nähe einer Satire gerückt wurde. Ebenso könnte man einen
Cartoon von, sagen wir mal, Gerald Scarfe mit einem prunkvollen Rahmen
versehen und in der Nationalgallerie aushängen. Ohne diese offensichtliche
Ironie hätte der Song falsch interpretiert werden können. Die
äußere Form läßt einen stutzen und bewußter
über den Inhalt nachdenken.
Wir begannen am 6. Dezember 1966 mit den Aufnahmen, wobei Paul die Leadstimme
sang und sich selbst an der Baßgitarre begleitete, während
Ringo die Snaredrums mit Schlegeln spielte. Das zusammen ergab dann Spur
1. (Heutzutage würde es einem nicht einmal im Traum einfallen, den
Gesang auf dieselbe Spur zu legen wie das Schlagzeug, da man sie hinterher
nicht mehr trennen kann. Durch das vielspurige Multi-Track-Verfahren nimmt
man heute jedes Element einzeln auf, und jeder kann solange herumstümpern,
wie er will.)
Spur 2 wurde mit einer Klaviereinlage von Paul bespielt, und auf Spur
3 legten wir abermals Ringos Snaredrums, so daß ich auf den ursprünglichen
Schlagzeug-Take mit dem Gesang verzichten konnte. Das war alles, was wir
an diesem Tag zustande brachten. Zwei Tage später wurde die Basisspur
zu 'When I'm Sixty-Four' dann mit einer 'reinen' Gesangsaufnahme von Paul
bespielt.
Bis zum 21. Dezember arbeiteten wir nicht weiter an dem Song. Ich mischte
die vier Spuren, die wir während der ersten Tage erstellt hatten,
schon einmal auf einem frischen Vierspur-Band ab. Dann belegten wir Spur
2 mit den drei Klarinetten, gespielt von den besten Klarinettisten, die
man damals engagieren konnte: Robert Burns, Henry MacKenzie und Frank
Reidy. Außerdem wurde Spur 3 mit Ringo an den Glocken bespielt,
zusammen mit Gesangsharmonien von Paul, George und John. Alles, was George
und John bis hierher zu dem Lied beigetragen hatten, waren diese Begleitstimmen
gewesen.
Spur 4 belegten wir mit einer weiteren Aufnahme von Pauls Gesang. Wir
hatten ihn eigentlich in C-Dur aufgezeichnet; als jedoch abgemischt wurde,
wollte Paul jünger klingen. Wollte er noch einmal Teenager sein?
Also streckten wir seinen Gesang auf dis, indem wir das Band beschleunigten.
Seine Stimme klang nun dünner und höher: nicht ganz so schwächlich
wie eine Blockflöte, aber nahe daran. Die Aufnahme war fertig!
Das Arrangement dieses Liedes ist bestechend simpel und bestärkt
meinen konstanten Glauben an die Schlichtheit der Orchestrierung. Dadurch,
daß wir uns auf lediglich drei Instrumente beschränkten (zwei
Klarinetten und eine Baßklarinette), liefen wir nicht Gefahr, über
die Stränge zu schlagen. Jede einzelne Note muß einem sinnvollen
Zweck dienen. "Sei dir genauestens im klaren darüber, was du
eigentlich aussagen willst", war auch eine Devise, die Pauls Herangehensweise
an Arrangements zum Ausdruck brachte. Paul hatte immer ganz präzise
Vorstellungen davon, wie ein Song zu klingen hatte.
Ich empfahl Paul mehrmals, sein natürliches Talent zum Schreiben
von Arrangements auszubauen, und irgendwann nahm er dann Unterricht in
Musiktheorie. Offenbar war ihm das Erlernen und Befolgen jener Gesetzmäßigkeiten
schwerer gefallen als erwartet. Auch befürchtete er, daß ihm
diese musikwissenschaftliche Zwangsjacke schaden könnte, indem sie
seinen freien Inspirationsfluß hemmte, und das allein war ihm Grund
genug, aufzuhören.
Eine der letzten und auch exotischsten Zutaten zu 'When I'm Sixty-Four'
waren die Klänge des Glockenspiels. In den Abbey Road Studios lag
stets eine große Auswahl von Percussion-Instrumenten herum, und
Ringo konnte nicht umhin, eines nach dem anderen auszuprobieren.
Die meisten Menschen
sehen 'When I'm Sixty-Four' als einen Blädelsong an, als jenes ironische
Kabarett-Pasticcio, als das er auch gedacht war. Auch die anderen Beatles
nahmen ihn nicht sonderlich ernst. Der Beatles-Historiker Mark Lewisohn
bringt das Wesen des Liedes - sofern dies überhaupt möglich
ist - akkurat auf den Punkt, wenn er es als äPaul's vaudeville-style
charmerä, äPauls reizendes Variet-GeSchöpfä
beschreibt. Meiner eigenen Ansicht nach hat es allerdings etwas mehr zu
bieten. Es ist auch eine Gruselgeschichte - Pauls persönliche Vision
von der Hälle. Zu dieser Zeit waren die Beatles außerstande,
sich vorzustellen, daß sie älter werden könnten. Paul
erzählte mir einst, er könne nicht so richtig glauben, daß
ihm so etwas zustoßen könne. Viele von uns haben diese Einstellung
zum Alter, solange sie jung sind. Die bloße Vorstellung, auch nur
vierzig Jahre alt zu sein, ist unfaßbar für sie, viel zu schrecklich,
um länger darüber nachzudenken. In den Sechzigern war es eine
Sünde, alt zu sein und gleichzeitig noch zu leben. 1962 sagte Paul
einmal: "Wenn ich erst mal das Alter von vierzig Jahren erreicht
habe, werde ich Lieder wie 'Love Me Do!' nicht mehr singen." John
äußerte dagegen ein paar Jahre später den pikanten Wunsch:
"Wenn ich vierundsechzig bin, sind Yoko und ich hoffentlich ein nettes
altes Pärchen, das irgendwo in Irland an der Küste oder so lebt
und in seinen Sammelalben des Wahnwitzes schmökert." Johns Wunsch
ist traurigerweise nicht in Erfüllung gegangen. Paul ist heute über
fünfzig und gibt nach wie vor trotzig Konzerte auf der ganzen Welt,
wobei er einem irrsinnig dankbaren Massenpublikum sehr gelungene Versionen
seiner großen Beatles-Songs spendet. Und er wird vermutlich auch
noch eine ganze Weile so weitermachen.
Betrachtet man den Text des Liedes genauer, wird man feststellen, daß
zwischen jenen ulkigen Zeilen etwas ganz anderes geschrieben steht: "Banalität,
Langeweile, Nichtigkeit, Minderwertigkeit, Gewohnheit. Ist das Alter nicht
entsetzlich?" Das ist Paul, wie er leibt und lebt, mit seinem satirischen
Stahlhelm auf dem Kopf - ein bißchen so, wie in Richard Attenboroughs
Filmsatire Oh What a Lovely War. Die zugrundeliegende trostlose Vision
erscheint uns in Gestalt eines sehr freundlichen, aufregenden und bezaubernden
Fabelwesens.
Um einen Gedanken von Wordsworth zu stehlen: Jung zu sein in dieser eigensinnigen
Morgendämmerung war gewiß die reine Wonne. Die meisten jungen
Leute betrachteten ein glückliches Dasein und eine gesicherte Existenz
als etwas Selbstverständliches. Der Wirtschaftsaufschwung und die
Vollbeschäftigung, derer wir uns in den Sechzigern erfreuten, trugen
das ihre dazu bei.
Wenn man sich Gedanken
machen muß, wie man zu seiner nächsten Mahlzeit kommt, ist
man schwerlich daran interessiert, mit alternativen Lebensstilen herumzuexperimentieren.
Anno 1967 war die jüngere Generation finanziell jedoch so abgesichert,
daß sie das Leben ein bißchen auskosten konnte. Sie hatte
die Freiheit, mit ihrem Leben allerlei Experimente anzustellen; und das
tat sie auch!
Alt zu sein, war dagegen sehr verpöhnt. Was bedeutete es eigentlich,
alt zu sein? In erster Linie doch wohl, eine der besten Zeiten der Weltgeschichte
zu vermissen - nämlich seine Jugendzeit! Auch ich gehörte zu
denen, die dieses unwiederbringliche Traumschiff schmerzlich vermißten.
Von den Beatles wurde ich schon für uralt gehalten, obwohl ich 1967
gerade mal einundvierzig Jahre zählte.
Pauls Lied löste starke Kindheitserinnerungen in mir aus. Ich weiß
noch genau, was für verrückte Ideen ich im Kopf hatte, als ich
ungefähr fünf war. In der Pubertät vertrat ich die Überzeugung,
daß das Erwachsenwerden als solches ein märchenhafter Roman
sei, und ging damit sogar noch einen Schritt weiter als Paul. Ich begriff
nicht, daß aus Kindern ganz automatisch Erwachsene wurden. Die besondere
Lebensweise meiner Großeltern hatte nicht das geringste mit jener
Freude am Dasein zu tun, wie ich es mir vorgestellt hatte.
Ich erinnere mich an meine Großmutter als eine gigantische Pyramide
menschlichen Fleisches - ohne daß ich jemals etwas davon zu Gesicht
bekommen hätte, da sie in ein immer gleiches voluminöses Zelt
drapiert war, das sich von ihrem Hals bis zum Fußboden erstreckte.
Sie muß gut und gerne 150 Kilo gewogen haben. Ich sah niemals ihre
Füße und fragte mich als kleiner Junge des äfteren, ob
sie überhaupt welche besaß. Vielleicht hatte sie statt dessen
Möbelrollen, wie einer von den Daleks in Doctor Who! Ihr Bruder,
mein Großonkel Fitz, war von ähnlicher Imposanz: Stets im Dreiteiler
auftretend, war sein umfangreicher Bauch mit einer Uhr nebst Kette aus
leuchtendem Gold dekoriert. Er rauchte ununterbrochen Zigarren, und durch
den feinen Havanna-Geruch, den er hinter sich herzog, wußte man
immer, wenn er in der Nähe war.
Großmama war stattlicher als ihr Mann, doch Großpapa machte
diesen Mangel an Masse mit seinem enormen Walroß-Schnurrbart wieder
wett. Bei den Mahlzeiten starrte ich ihn fasziniert an; es war mir unmöglich,
meine Augen von seinen herunterhängenden bebenden Zotteln abzuwenden,
wenn er seine Suppe manövrierte und sich majestätisch das Gemüse
einverleibte. Der Gedanke, daß ich eines Tages eine Metamorphose
durchlaufen und mich selbst in eines dieser dreimal so alten, hächst
kuriosen Wesen verwandeln sollte, war offenkundig absurd. Beide, wie sie
da waren, gehörten sie einem fremden Planeten an, und als Kind wußte
ich, daß ich niemals so werden konnte wie sie.
Aber ich wurde eines Besseren belehrt. Jetzt gehen die Jahre dahin und
versuchen mich einzuholen. 1991 schickten mir Paul und Linda McCartney
zu meinem Geburtstag eine hervorragende Flasche Rotwein, einen 83er Chateau
Margaux. Auf einem beiliegenden Kärtchen hieß es schlicht:
"Birthday greetings, bottle of wine". Eine ausgesprochen nette
Idee, aber sie kam ein Jahr zu spät: Ich war doch schon viel älter!
Vierundsechzig war ich im Jahr zuvor geworden, 1990.
Das ist das Komische an der Zeit; sie bleibt stets dieselbe nichtige Angelegenheit,
von wo aus man sie auch betrachtet. Ich glaube wirklich, daß ich
innerlich noch derselbe Mensch bin, wie jener Fünfjährige mit
seinen naiven Vorstellungen von den Erwachsenen. Ich wäre am Ende,
wenn ich einen Fulltime-Rentner wie meine Großeltern abgeben sollte.
Tatsächlich habe ich während der letzten sechs Monate versucht,
mich zur Ruhe zu setzen: Ich habe eine Londoner Kirche zu einem gewaltigen,
kunstgerechten Tonstudio umgebaut; eine dreimonatige Welt-Tournee durch
Japan, Schweden und Brasilien gemacht; habe Tommy on Broadway mit Roger
Daltrey produziert sowie ein Album mit George-Gershwin-Songs aufgenommen,
an denen Sänger wie Elton John, Lisa Stansfield and Elvis Costello
beteiligt waren... Ach ja, und dieses Buch geschrieben. Ich werde nicht
'in Anmut altern': Ich verzichte!
Als ich 'When I'm Sixty-Four' zum ersten Mal hörte, gluckste ich
innerlich vor Freude über den raffinierten Text. Er ist so wahr.
Er reflektierte meine eigenen Erfahrungen mit dem Familienleben, dieser
wohlbehüteten Behaglichkeit, so gut. Heute, in einer Welt stetig
zunehmender Hochtechnologisierung, denke ich anders - nämlich, daß
Normalität sehr wichtig ist.
Damals öffnete einem der Song den Blick für die Kehrseite der
Sgt. Pepper-Medaille: Er war nicht psychedelisch, mystisch oder transzendental,
und wies auch keine von den anderen Charakteristika auf, die den restlichen
Liedern dieses Albums zu eigen sind. Er war eine liebevolle Satire, die
das Alter aus der Sicht eines jungen Mannes betrachtet.
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