Maxim Gor'kij

Vollständige Werksammlung der künstlerischen Werke in fünfundzwanzig Bänden. Band 7: Stücke, dramatische Skizzen. 1897-1906. Moskau 1970. Verlag "Nauka" (der Wissenschaft). Chefredakteur:

L. M. Leonov

 

Übersetzung der Anmerkungen

(vor allem zu:)

Kinder der Sonne

 

 

exklusiv für das Maxim-Gorki-Theater

von

Frank Jankowski

(1994)

 

 

Kinder der Sonne

Erstmals in der "Sammlung der Genossenschaft "Znanie" (Wissen) für das Jahr 1905" abgedruckt: fünftes Buch, St. Petersburg, 1905, und fast gleichzeitig als einzelnes Büchlein in Stuttgart, Verlag J.H.W. Dietz, mit dem Hinweis: "Abgedruckt nach dem handschriftlichen Manuskript" erschienen. Wie aus einem Telegramm I.P. Ladyzhnikovs an K.P. Pjatnitzkij vom 9.(22.) Nov. 1905 klar hervorgeht, erschien die Dietzsche Ausgabe am 25. Nov. und die des "Wissens" am 28. Nov. 1905 (neuer Kalender). (Archiv A.M. Gor'kijs, ITL-10-79-49)

 

Im Archiv A.M. Gor'kijs werden aufbewahrt:

 

1. Der handschriftliche Original-Entwurf (OE) des Stücks, geschrieben im Feb. 1905, in der Peter-und-Pauls-Festung; bestehend aus zwei Heften, durchnummeriert von der Gefängnisleitung; eines davon enthält auch eine Reinschrift vom Anfang des ersten Aktes (ChPG-10-3-1).

 

2. Ein maschinenschriftlicher Text mit von Gor'kij vorgenommen Korrekturen, die bis zum letzten Akt durchgeführt wurden; außerdem Korrekturen zweier weiterer Seiten, in denen eine grammatikalische Überprüfung des maschinenschriftl. Textes vorgenommen wurde, die mit dem uns nicht vorliegenden Original verglichen wurde - AMg (ChPG-10-3-2)

 

3. Ein maschinenschriftl. Text - als Kopie des zuvor aufgeführten - mit Korrekturen Gor'kijs auf den ersten 18 Blättern, die identisch sind mit den auf den ersten 18 Blättern des AMg vorgenommenen Korrekturen; außerdem Korrekturen zweier weiterer Seiten, in denen die gleiche Arbeit geleistet wurde wie in AMg; diese maschinenschriftl. Fassung (AMd) diente als Original für den [Druck]Satzes von Dietz - darin ist folgende Anmerkung enthalten: "Für I.P.", d.h. für I.P. Ladyzhnikov, und eine Anmerkung für die Typographie, die von V.D. Bontsch-Brujevitsch stammt (ChPG-10-3-3).

 

4. Ein maschinenschriftl. Text, der am 24. Aug. 1905 der Dramen-Zensur vorgelegt wurde - DZ (ChPG-10-3-7).

 

5. Eine gedruckte Fassung des Stückes aus Bd. 7 des "Wissens", St. Petersburg, 1906 (auf dem Umschlag), 1907 (auf dem Titel), die der Ausgabe K zugrunde lag; darin ist eine Anmerkung für die Typographie enthalten, jedoch wurde die alte Orthographie nicht berichtigt (ChPG-10-3-4).

 

Die textologische Analyse sämtlicher gedruckter und handschriftlicher Quellen läßt nachstehende Schlußfolgerungen zu:

 

1. Sowohl Wissen als auch K erhielten den Text, der vom Autor auf den ersten 18 (von 109) Blättern redigiert wurde - die übrigen wurden jedoch keineswegs mit dem uns vorliegenden Original verglichen, von dem die maschinenschriftlichen Fassungen AMg und AMd erstellt wurden.

 

2. Nach der Versendung des Stückes an Wissen und an Dietz, nahm Gor'kij weitere Korrekturen und Durchsichten an der AMg-Fassung vor, die er seinen Verlegern - Pjatnitzkij und Dietz - schickte, wobei es sich zunächst um eine Ergänzung, die wesentlichste zum zweiten Akt, handelte.

 

3. AMg enthält die meisten Korrekturen des Autors, die eine Reihe von zuvor unbemerkten Fehlern des Textes beheben; wie es scheint, lag dem Autor beim wiederholten Lesen des Stückes genau dieses Exemplar vor, in das er die Verbesserungen einbrachte.

 

4. Die DZ-Fassung wurde Mitte August erstellt, nachdem die Exemplare an Wissen und Dietz abgeschickt worden waren; er behielt einen Teil der Korrekturen für sich, die in AMg, nicht jedoch in AMd und Wissen enthalten waren.

 

Der Druck richtet sich nach dem Text AMg mit folgenden Verbesserungen:

 

S. 384, Zeile 11: "Doktor... was ist los mit Ihnen?" anstatt "Was ist los mit Ihnen?" (gemäß AMd, DZ, Dietz, Wissen).

 

S. 388, Zeile 28: "Roman geht zu ihm hin" anstatt "Egor geht zu ihm hin" (sinngemäß).

 

Bei der Aufnahme des Stückes in Bd.7 des Wissens kam der Untertitel "Szenen" zustande, der in sämtlichen späteren Ausgaben beibehalten wurde. Jedoch existiert dieser Untertitel in keiner uns vorliegenden Quelle, also in den maschinenschriftl. Fassungen und Erstdrucken. In OE der "Kinder der Sonne" gab es den Untertitel "Tragikomödie", der hinter dem durchgestrichenen Wort "Komödie" stand. Da Bd.7 des Wissens Ende 1906 erschien, als Gor'kij gar nicht in Rußland war, kann man annehmen, daß der Untertitel von Pjatnitzkij eingefügt wurde - in Analogie zu den im selben Band abgedruckten "Sommergästen".

 

Die Idee zu "Kinder der Sonne" entstand im Jahre 1903. Am 09. Okt. 1903 erwähnt Leonid Andrejev in einem Brief an Pjatnitzkij "das Drama, das zu schreiben Gor'kij und ich (fest) entschlossen sind" (Lit Nasl, Bd. 72, S. 506). In einem Brief Gor'kijs an Pjatnitzkij vom 26. Okt. 1903 finden sich ausführlichere Hinweise zur Idee des Stücks: "Mit Andrejev zusammen werde ich auch das Stück "Der Astronom" schreiben. Leonid war sofort für Klein entflammt; und nun will er einen Menschen darstellen, der inmitten ärmlich-fader Alltäglichkeit sein Leben dem Weltall widmet. Dafür bekommt er dann auch im vierten Akt vom Teleskop eins über den Schädel. " (Archiv G5, S. 143). Gor'kij erwähnt mehrmals das in russischer Sprache erschienene Buch des deutschen Astronomen und Meteorologen Herman Klein (1844-1914), "Astronomische Abende", das die folgenden Zeilen enthält: "Als Rafael seine Sixtinische Madonna malte, als Newton über die Gesetze der Schwerkraft sinnierte, als Spinoza seine "Ethik" schrieb oder Goethe seinen "Faust", - wirkte in ihnen allen die Sonne. Wir alle, die Genies und die einfachen Sterblichen, die Starken und die Schwachen, die Könige und die Bettler, wir alle sind Kinder der Sonne" (Hermann Klein. Astronomische Abende. St. Petersburg, 1900, S.181). Diese Worte mußten ihren Widerhall in Gor'kijs Herz finden, der in dem Artikel ""Cyrano de Bergerac" (die Heldenkomödie von Edmond Rostand)" (1900) entzückt geschrieben hatte:

Wir alle leben unter der Mittagssonne
Und sind mit der Sonne im Blut geboren...(3)

 

"Wissen Sie, das ist verdammt gut - mit der Sonne im Blut geboren zu sein! Wenn wir Menschen, deren Blut vom pessimistischen Bodensatz verdorben wurde, deren Seele von den ekelhaften Ausdünstungen jenes Sumpfes vergiftet wurde, in dem wir versauern, - wenn in unserem Blut wenigstens ein Funken der Sonne wäre!" (G-30, Bd. 23, S. 311)

 

Gor'kij gab die Absicht, gemeinsam mit Andrejev an dem Stück zu arbeiten, jedoch bald darauf auf und schrieb ihm zwischen dem 20. und 24. April 1904 einen Brief, in dem er ihm seine Absichten mitteilte: "Und wenn Du mir das Thema des "Astronomen" abtrittst, schreibe ich ein drittes. <...> Das läßt sich sehr gut herausbilden: Ein Astronom, ein Lehrer und ein Tierarzt. Die Frau des Astronomen, die Schwester des Lehrers und die Mutter des Arztes. Ein Schmied, der den Astronomen töten soll, geistig zurückgeblieben, fröhlich; ein skeptischer Maler, ein Kaufmann, der sich Ordnung und Harmonie wünscht und - ein Auflauf von Menschen. Trittst Du es mir ab?" (Lit Nasl, Bd.72, S.210). In dem Antwortbrief von Anfang Mai 1904 drängte Andrejev indes weiterhin auf eine Zusammenarbeit: "Über den Astronom habe ich selbst schon viel zu lange nachgedacht, deshalb werde ich Dir keinen Fetzen davon abtreten. Laß es uns gemeinsam schreiben. Verstehst Du: Diese Trottel bringen den Astronom im Moment einer Sonnenfinsternis um, weil sie glauben, daß er die Sonne ausgelöscht hat - und plötzlich kommt die Sonne wieder zum Vorschein! Und man stellt sich die Frage: Seid ihr wahnsinnig, ihr Hundesöhne? Was habt ihr getan? Dann der Vorhang und Rufe: Die Autoren, die Autoren!" (ebenda, S.213) "Na gut, schreib Du den Astronom", erwiderte Gor'kij am 20. Mai 1904, "ich werde ihn ebenfalls schreiben. Drucken und aufführen werde ich ihn nicht, aber ich werde ihn schreiben und Dir dann vorlesen" (ebenda, S.214).

 

Nach diesen anfänglichen Plänen Gor'kijs hat sich dann vieles verändert, und der Astronom verwandelte sich in einen Chemiker. Viel später, in den Jahren 1924/25 behauptete Gor'kij: "Das Stück "Kinder der Sonne" ist nach den Worten eines bekannten russischen Wissenschaftlers entstanden, nämlich des Chemikers Petr Lebedev: "Der Schlüssel zum Geheimnis des Lebens ist die Chemie"" (Archiv A.M.G., LSG-8-19-1).

 

Die Arbeit an dem Stück verzögerte sich aufgrund anderer Werkpläne. erst am 9. Jan. 1905, bedingt durch die auf dieses Datum folgenden Ereignisse, die Gor'kij gehörig erschütterten, sah er sich veranlaßt, die früheren Pläne zu realisieren. Und obwohl sich die Handlung des Stücks im Jahr 1892 ereignet (die Cholera-Unruhen in den Bergen Nizhnij-Povolzh's, trugen sich im Juni 1892 zu), ist die konzeptionelle Problematik von "Kinder der Sonne" eng mit genau diesen Ereignissen von 1905 verknüpft.

 

Am 9. Januar wanderte Gor'kij den ganzen Tag durch die Strassen St. Petersburgs und wurde zum "Augenzeugen des Massakers", das die zaristische Regierung verübt hatte, indem sie eine unbewaffnete Menge von Arbeitern wegrasierte. Noch am selben Tag schrieb Gor'kij an E.P. Peschkovaja: "So hat nun also die Russische Revolution begonnen <...> Ermordete aber keine Aufständler; die neue Farbe, deren sich die Geschichte jetzt bedienen wird, kann nur noch aus Blut bestehen <...> Der zukünftige Historiker dieser jetzt einsetzenden Revolution wird seine Arbeit wahrscheinlich mit einem solchen Satz beginnen: "Der 1. Tag der Russischen Revolution war der Tag, da die russische Intelligenzija ihren moralischen Bankrott erklärte", - dies ist mein Eindruck von ihrem Verhalten und von ihren Reden" (Archiv G5, S.148f.).

 

Für seine Abfassung des regierungsfeindlichen Aufrufs "An alle russischen Bürger und an die öffentliche Meinung der europäischen Nationen" wurde Gor'kij sofort bei seiner Ankunft in Riga, am 11. Jan., von der Gendarmerie festgenommen und dann in der [Petersburger] Trubetzkoj-Bastion der Peter-und-Paul-Festung untergebracht - als ein "wegen Beschuldigung des Staatsverbrechens unter Arrest Gestellter" (LZhT1, S.507). Am 14. Feb. wurde er unter dem Druck der Weltöffentlichkeit, die seine Freilassung forderte, aus der Haft entlassen.

 

Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis teilte er A.V. Amfiteatrov mit: "Ich habe meinen Monat gut abgesessen und in dieser Zeit sogar die Tragikomödie "Kinder der Sonne" geschrieben, die mir, wie es scheint, gelungen ist <...> Im Gefängnis habe ich mich auch wenig von den "Eindrücken des Daseins" erholen und mich mit ihnen zurechfinden können" (Archiv A.M.G., PG-rl-1-25-182).

 

Der handschriftliche Entwurf des Stücks enthält folgende Anmerkung des Autors: "Geschrieben in der Peter-und-Paul-Festung vom 16. Januar bis 20. Februar 1905". Dieser Vermerk wurde offenbar erst viel später vorgenommen und ist deshalb auch ungenau. Das zweite Datum, der 20. Feb. läßt sich ohne Probleme präzisieren: Am 14. Feb. kam Gor'kij aus der Festung. Das erste Datum, der 16. Jan., läßt sich anhand folgender Umstände präzisieren. Am 24. Jan. reichte E.P. Peschkova bei der Polizei einen Antrag ein, demzufolge Gor'kij "die Erlaubnis zum Schreiben erhalten soll <...> Das Benutzen von Papier, Tinte und Feder für seine Arbeit". Am 25. Jan. wurde ihm der Besitz von Schreibutensilien gestattet (LZhT1, S.511). Am 1. Feb. schickte der Festungskomandant an die Polizei folgende Mitteilung: "Der in Einzelhaft in der Trubetzkoj-Bastion arrestierte Aleksej Peschkov hat mich gebeten, aus Gründen der unerläßlichen finanziellen Unterstützung seiner Familie <...> eine Komödie zu verfassen, deren Manuskript er mir vorlegen wird..." Am 5. Feb. kam die Erlaubnis der Polizei: "Hiermit wird Herrn Aleksej Peschkov gestattet, eine Komödie zu schreiben, da seine literarische Arbeit der Polizei zur Prüfung vorgelegt wurde" (Rev put' G, S.91). [...] Daraus folgt, daß Gor'kijj am 12. Feb. in das Petersburger Haus der Untersuchungshaft gebracht wurde und das Manuskript der "Kinder der Sonne" zur Prüfung beim Festungskomandanten hinterließ, der sich auf die "winzige und absolut unleserliche Schrift" berief, weshalb es ihm unmöglich gewesen sei, "Peschkovs Arbeit aufmerksam zu prüfen", sondern nur sie "flüchtig durchzublättern", und der dann vorschlug, sie "der Zensur zurückzugeben", weshalb er das Manuskript zur Polizei schickte.

 

Insofern läßt sich der Zeitraum der Niederschrift vom Manuskript der "Kinder der Sonne" überzeugend auf den 5. bis 12. Feb. 1905 eingrenzen. Übrigens wurde in der ersten Zeitungsmitteilung über "den gehaltvollen Humor und Sarkasmus" des Gor'kij-Stücks hervorgehoben, daß das Stück innerhalb von nur sieben Tagen geschrieben wurde (M.G-ckij. Ein Bürger des Weltalls. - "Neuigkeits- und Börsenzeitung", 1905, Nr. 42, 18. Feb.).

 

Genauere Überlegungen stellte Gor'kij wahrscheinlich bereits kurz nach seiner Einweisung in die Festung an. Davon zeugt eine Liste notwendiger Bücher, die er Pjatnitzkij am 17. Jan. schickte: A.A. Inostrantzev "Geologie", Bd.1; V.V. Lunkevitsch "Ungelöste Probleme der Biologie"; V. Gaake [W. Haake (?)] "Die Entstehung der Lebenswelt"; M. Fervori "Allgemeine Physiologie"; K. Keller "Das Leben des Meeres" (LZhT1, S.509). All diese Bücher berühren einen Kreis von wissenschaftlichen Problemen, denen sich die Hauptfigur des Stücks, Protasov, verschrieben hat. Nicht auszuschließen, daß Gor'kij, nachdem er die Schreibmittel erhalten hatte, irgendwelche vorhergehenden Skizzen angefertigt hatte, die ihm danach abgenommen und vernichtet wurden. Der erste Forscher, der sich mit dem Manuskript beschäftigte, S.D. Baluchatyj, merkte an, daß "die Handschrift keine Spuren aufweist, die darauf schließen lassen, daß es dem Autor "Schwierigkeiten" bereitet hat, einen geeigneten dramatischen Plan zu entwikkeln. Man kann sogar davon ausgehen, daß ihm das Schema des personellen Sujets bereits vor der Niederschrift klar war" (G, Materialy, Bd.1, S.504).

 

Nach seiner Ankunft in Riga, am 15. Feb., schrieb Gor'kij sofort einen Brief an Pjatnitzkij sowie einen Antrag zur Rückgabe des konfiszierten Manuskripts an die Polizei "Ich bitte Sie, mir das Manuskrpit, das ich dringend benötige, umgehend zukommen zu lassen, jedoch nicht mit der Post" (Archiv G4, S.173f.). Einige Tage später, am 20./21. Feb., erkundigte er sich bei Pjatnitzkij: "Was ist mit den "Kindern der Sonne"? Waren Sie dort, haben Sie mit Ihnen geredet? Mein Herz zittert um das Schicksal dieses Stücks, mir scheint immer mehr, daß sie es vernichtet haben - nicht, weil sie es gefährlich finden, sondern einfach so, zum Trotz" (ebenda, S.175). Dieselbe Besorgnis brachte er kurz darauf Amfiteatrov gegenüber zum Ausdruck [...].

 

Die Polizei, die das Manuskript am 14. Feb. erhalten hatte, hatte es unterdessen noch am selben Tag der Führung der Petersburger Gouverneursgendarmerie mit dem Vermerk "übersendet": "beiliegende Manuskript an Peschkov zurückerstatten, da aus Arrest entlassen" (Rev put'G, S.92).

 

Nachdem Pjatnitzkij das Manuskript erhalten hatte, sendete er es sogleich an Gor'kij weiter, der unverzüglich reagierte: "Ich habe gestern Marusja, Zachar und Lipa die "Kinder der Sonne" vorgelesen, aber sie sind Kritiker wie Burenin, nur umgekehrt. Und Ihnen, dafür, daß Sie das Manuskript so schnell aus dem Höllenschlund gerettet haben, - eine tiefe Verbeugung und große Dankbarkeit. Ich bin schrecklich froh und sitze jetzt schon an der Endbearbeitung" (Archiv G4, S.177f.). Die Lesung, über die Gor'kij berichtet, fand am 24. Feb. statt. Von seiner Absicht, sich mit der "Endbearbeitung" zu beschäftigen, schrieb er damals bereits E.P. Peschkova [...]. Allerdings ist ihm das nicht sofort gelungen. In einem Brief an Pjatnitzkij von Anfang Mai teilte er mit: "Ich kann mich nicht mit dem Stück beschäftigen, weil mir die Zeitungen den Kopf volldröhnen...". Die Arbeit an dem gleichzeitig begonnenen Stück "Die Barbaren" lenkte ihn ab.

 

 

Ende Feb. erschienen in einer Reihe von Zeitungen Berichte über das Stück "Kinder der Sonne" ("Neuigkeiten des Tages", 1905, Nr.7802, 22.Feb.; "Neuigkeits- und Börsenzeitung", 1905, Nr.47, 23.Feb.; "Russisches Blatt", 1905, Nr.56, 26.Feb.). Einen dieser Berichte hatte offenbar der in der Archangelsker Verbannung lebende A.A. Divil'kovskij gelesen und daraufhin Gor'kij einen Brief geschrieben. Gor'kij antwortete ihm am 13. März: "Bezüglich "Kinder der Sonne" brauchen Sie keine Zweifel zu hegen - "positive Typen" wird es darin nicht geben, wie es sie ohnehin bei mir nicht gibt, wenn man von Teterev einmal absieht. Es wird Leute geben, die sich sehr intensiv für die Schicksale des Weltalls, der Kunst und der Menschheit interessieren, und sie werden garniert mit Hausmeistern [-knechten], Hausbesitzern [-wirten], Njanjas, Zimmermädchen und betrunkenen Handwerkern. Es wird Cholera-Unruhen geben; nebenan werden welche von der Harmonie des Weltalls und von den großen Errungenschaften der Wissenschaft träumen - die Cholera-Unruhe paßt sehr gut dahin, wie ich finde".

 

Kurz danach war in der Zeitung "Sohn des Vaterlands" zu lesen: "Das neue Stück von M. Gor'kij "Kinder der Sonne" wurde im dramatischen Theater V.F. Komissarzhevskajas zur Aufführung gebracht" (1905, Nr.40, 3.April). In der derselben Ausgabe wurde über die Absicht der Studenten der Fachhochschule St. Petersburgs berichtet, dem Komissarzhevskaja-Theater ihrer Dankbarkeit "für die Sympathie und die guten Beziehungen zu der in dem Stück teilnehmenden Jugend" Ausdruck zu verleihen". Am 5. April übersandte der Generalgouverneur D.F. Trepov beide Zeitungsausschnitte an den Petersburger Stadthauptmann mit der Bitte, "in gebührendem Maße die Nichtzulassung des Stücks von M. Gor'kij [...] zur Kenntnis zu nehmen".

 

Über das voraussichtliche Verbot der Aufführung unterrichte Pjatnitzkij den in Jalta befindlichen Gor'kij. Als Reaktion auf diesen Brief schrieb M.F. Andrejeva am 19. April: "Wir haben gestern Ihren Brief mit der Nachricht erhalten, daß die Aufführung des Stück "Kinder der Sonne" "jetzt schon" verboten wurde. das beste daran ist, daß A.M. der Komissarzhevskaja selbst "noch gar nicht" gestattet hatte, es im Theater zu spielen. Das Stück ist noch gar nicht ausgearbeitet, und er wird es ausschließlich mir anvertrauen, wenn ich auf Tournee gehe..." (Andrejeva, S.95).

 

Das theatralische Schicksal von "Kinder der Sonne" entschied Gor'kij während seines einwöchigen Aufenthalts in Moskau, vom 9.-16. Mai 1905, auf der Fahrt von Jalta nach Petersburg. Zwischen dem 16. und 20. Mai teilte er E.P. Peschkova mit: "Ich habe mein Stück dem Künstlertheater zur Verfügung gestellt. Dabei ist mir folgendes passiert: In Moskau erschienen Katschalov, Moskvin, Muratova und Stanislavskij bei mir und fingen an, mir zu erzählen, daß ich angeblich ihr Theater zugrunde richte, und daß er, Stanislavskij, bereit sei, auf die Knie zu fallen usw. Das war schwierig, und obwohl ich in keinster Weise vor den Ansprüchen Nemirovitschs geschützt bin, habe ich es ihm zugesagt, unter einigen Bedingungen, die die Macht Nemirovitschs einschränken". Am 19. Mai schrieb Stanislavskij an M.F. Andrejeva, indem er ihr eine der weiblichen Rollen des Stücks in Aussicht stellt: "Die Absicht Aleksej Maksimovitschs, uns sein unbekanntes Stück anzuvertrauen, haben wir begeistert aufgenommen" (Andrejeva, S.96).

 

Von diesem Moment an begann Gor'kij intensiv an der Endbearbeitung von "Kinder der Sonne" zu schreiben. Am 29. Mai schickte M.F. Andrejeva Stanislavskij die Personenliste und die Bühnenanweisungen zu allen Akten, und Gor'kij erstellte eine Nachschrift: "Das Haus für meine Helden baue ich widerlich, - das verstehe ich ausgezeichnet und erteile Ihnen hiermit die Vollmacht, alle möglichen Umbauten [Perestrojki] und Umstellungen für ein bequemeres Leben vorzunehmen. In einer Woche ist die Zeit gekommen, da mein Stück vollendet ist; wenn Sie wollen, kommen Sie her und hören Sie es sich an. Wir freuen uns über Ihren Besuch, wir haben viel Platz. Bringen Sie auch Vladimir Ivanovitsch mit. Um die Sache ernsthaft zu machen, muß alles beseitigt werden, was die bestmögliche Realisierung unserer Aufgabe stören würde, - in Ordnung?" (ebenda, S.99).

 

Die Datierung von Gor'kijs erster Lesung auf den 5. Juni 1905 ist ungenau; sie beruht auf einer von Repin auf einer bekannten Zeichnung gemachten Notiz, auf der der lesende Gor'kij und die zuhörenden V.V. Stasov, A.I. Kuprin, N.G. Garin-Michajlovskij und F.D. Batjuschkov abgebildet sind (offenbar machte Repin diese Notiz später, aus dem Gedächtnis). Die erste Lesung fand am 9. Juni 1905 auf Gor'kijs Datscha in Kuokkala statt, und schon damals hatte sich Repin, der sich unter den Gästen befand, Skizzen gemacht. M.F. Andrejeva schrieb Stasov am 5. Juni 1905: "Diesen Donnerstag, am 9. Juni um 3 Uhr am Tage, wird Aljoscha seine "Kinder der Sonne" lesen. Sie wissen ja selbst, wie gerne Sie gesehen sind, und ich möchte Ihnen das nochmal sagen - machen Sie uns die große Freude und kommen Sie zu uns" (ebenda, S.100). Stasov war am 5. Juni nicht in Kuokkala. Wie aus einem Brief [...] hervorgeht, befand sich Stasov an jenem Tag (5. Juni) auf seiner Datscha in Pargolov und erhielt ein Begrüßungs-Telegramm von Repin aus Kuokkala. Und schließlich befindet sich in den Materialien I.A. Gruzdevs ein Brief von Stasov an Gor'kij, vom 14. Juni, in dem er aufs Genaueste die erste Lesung [...] vom "9. Juni." beschreibt. Nachdem Stasov in dem neuen Stück Gor'kijs "ehrliche und wahrhaftige" Charaktere gefunden hatte, vertrat er die Meinung, daß "es im ganzen Drama überhaupt keine Handlung gibt <...> Eine wirkliche Lebendigkeit taucht im ganzen Stück lediglich ein einziges Mal auf: das ist die Szene des Volksbegeherens, die wunderlich und plastisch geschaffen ist! Welch differenzierte, treffende und wahrhaftige Sprache! Das ist, so denke ich, die beste und wichtigste Stelle des ganzen Dramas".

 

Allem Anschein nach las der Autor sein Stück von einem Manuskript ab, das uns nicht vorliegt. In jedem Fall handelte es sich dabei um eine Redaktion, die nicht ganz mit der identisch ist, die uns in Form von AMg und AMd vorliegt. Insbesondere hieß der Maler Vagin in der Personenliste, die M.F. Andrejeva Stanislavskij am 29 Mai geschickt hatte, Muratov (im OE trägt er den Namen Mansurov). Davon zeugt eine ausführliche Information über Gor'kijs Lesung seines neuen Stücks in den "Odesser Neuigkeiten", in der ebenfalls der Maler Muratov erwähnt wird.

 

"Der Autor "Des Duells", A.I. Kuprin, der auf einer Durchreise in Odessa war, sprach mit uns kürzlich über den Inhalt des neuen Stücks von M. Gor'kij, "Kinder der Sonne", das der Autor erst nach seiner Aufführung drucken lassen wird. <...> Die Kinder der Sonne, das ist die Aristokratie des Verstandes und Geistes, im besten Sinne dieses Wortes. Sie alle sind ständig mit ihrem wichtigsten Ziel beschäftigt - für alle das Leben schön, gut und angenehm zu machen. Sie denken ständig über dessen Vervollkommnung nach, über die Erleichterung des Leidens und über die Zukunft. Ihre Mission ist groß und ehrenhaft. Das sind keine müßigen Fantasten und Träumer. Es sind Leute der Wissenschaft, der Poesie, der Kunst und alles Erhabenen. Ihr Denken strebt nach oben, zur Sonne. Und obwohl ihre Arbeit eine wichtige weltliche Bedeutung hat, obwohl sie eifrig um das Wohl der Menschheit bemüht sind, kann sich doch ihr Denken insofern nicht an das Irdische, an die Dunkelheit des Lebens gewöhnen, als ihr ganzes Tun, bei all seiner Erhabenheit, der Masse unverständlich bleibt <...> Zwischen den Kinder der Sonne und den Kindern der Erde <...> besteht eine Entfremdung <...> Die Kinder der Erde spüren die seelische Überlegenheit der Kinder der Sonne, doch deren schöpferische Arbeit sagt dem armen, engen und finsteren Verstand der ersten nichts <...> Die Kinder der Sonne, irgendwie durch den ewigen Schein ihrer Ideale erblindet, irgendwie verschlungen von ihren eigenen Ideen, sind nicht in der Lage, das eigentlich Wichtige zu erkennen, das die unten Befindlichen brauchen <...> Das Stück hat auf die Hörer einen starken Eindruck ausgeübt <...> aber auch viele Meinungsverschiedenheiten ausgelöst, da der Autor seine Charaktere alle mit derselben Liebe und mit derselben Aufrichtigkeit geschrieben hat. Es ist nicht zu ersehen, daß er seine Sympathie für die eine oder andere Hauptfigur bekundet. Das Stück ist untendenziös und gibt deshalb Raum zum Disput. Sein ideologischer Sinn wurde von den Hörern unterschiedlich verstanden, doch alle verstanden dessen Ehrlichkeit und Lebendigkeit" ("Odesser Neuigkeiten", 1905, Nr.6691, 14. Juli).

 

[...] Am 17. Juli fand in Kuokkala, im örtlichen Theater, eine Liebhaberaufführung der "Kinder der Sonne" statt, über die am darauffolgenden Tag Repin an Stasov schrieb: "Gestern feierte Gor'kij hier im Theater einen vollendeten Triumpf". [...]

 

Ein Vergleich der ersten Fassung des Stücks, die Gor'kij in der Peter-und-Paul-Festung erstellte, mit der letzten Redaktion, führt zu dem Schluß, daß, obwohl der Figurenbestand, die Einteilung des Materials nach Akten und sogar die Entwicklung und Reihenfolge der Hauptdialoge nicht von Gor'kij verändert worden sind, das Stück nichts desto trotz einer wesentlichen Überarbeitung unterzogen wurde: Die Repliken und Anweisungen wurden gekürzt, umgebaut, ersetzt und vollendet, so daß die Charaktere der Figuren vertieft und verdeutlicht wurden sowie mit neuen Situationen konfrontiert. Es wurde eine bedeutende stilistische Korrektur vorgenommen, die im Ergebnis fast das gesamte Dialogmaterial des Stücks modifizierte. Die letzte Fassung von "Kinder der Sonne" ist beinahe auf die Hälfte gekürzt - allerdings nicht inform beseitigter Handlungsstränge, sondern inform einer Verdichtung der Dialoge, vor allem einer erklärenden Auseinandersetzung zwischen Protasov, Elena und Vagin. Der Charakter der Hauptfigur, Protasov, war vor Beginn der Arbeit bereits detailliert durchdacht, weshalb sich auch ihr Name viermal geändert hat: Krotov, Zagarov (durch die gesamte OE-Fassung hindurch), Protas'ev (BA, Beginn erster Akt) und schließlich Protasov. Den ersten Namen sortierte Gor'kij sogleich wieder aus, - offenbar deshalb, weil hierdurch eine ungewünschte Assoziation mit "krot" ["Maulwurf"] hätte entstehen können ("blinde Maulwürfe" heißen in den Gedichten des zweiten Aktes die "Kinder der Erde"). Und der Name Zagarov mochte zu direkt mit dem Titel des Stücks verbunden gewesen sein. Einige Details, die die Alltagsblindheit Protasovs betonten, erschienen Gor'kij übertrieben und wurden gestrichen (zum Beispiel die freudige Rührung und Dankbarkeit als Reaktion auf Mischas fürsorglichen Vorschlag, er solle eine Fabrik leiten). Die Beziehung zwischen Elena und Mansurov hatten einen intimeren Charakter, und die Entschlossenheit Elenas, ihren Mann wegen des Künstlers zu verlassen, war szenisch stärker ausgeprägt. Im Charakter Tschepurnojs (in BA - Sajenko) wurden die pessimistischen und misanthropischen, die verbittert-erbosten und hoffnungslosen Züge gemildert. Dieser Prozeß begann schon im OE. Neben Lizas Monologen über ihre blutigen Pogrom-Alpträume im ersten und zweiten Akt stehen Randbemerkungen des Autors: "Roter Sand", die eins der wichtigsten Leitmotive des Stücks bezeichnen. In der endgültigen Fassung spricht Liza im ersten Akt über den Tod eines jungen Mannes, der von einer bestialischen Menge zerfleischt wurde; und im OE hatte das Bild vom Pogrom einen etwas anderen Charakter: dort war von der Ermordung vieler Menschen die Rede. Die wesentlichste Veränderung wurde im Finale des Stücks vorgenommen. Im OE folgte auf die Szene, wo die Handwerker und Egor über Protasov herfallen, eine Versöhnung und eine Art persönliche Erleuchtung Egors, die es Protasov erlaubte, seine Worte über die "Kinder der Sonne" im Finale zu wiederholen.

 

Das Zensurexemplar enthält eine Vielzahl von unterstrichenen Passagen, und der Zensor, der ordentliche Staatsrat Vereschtschagin, reichte am 31. August eine sehr ausführliche Aktennotiz in der Chefadministration für Druckangelegenheiten ein:"Der Hauptgedanke des Stücks ist der Zwist, der sich zwischen dem Volk <...> und den reichen Klassen, d.h. der Intelligenzia zuträgt, gegen die sich im Volk schon lange zuvor Haß geschürt hatte; Durch die Darstellung des "Unterdrückten und Beleidigten" auf der Bühne wird auch die Arbeiterfrage berührt, und zwar ausgerechnet in der Rolle des Vertreters der Arbeiterklasse <...> Überhaupt wird in dem Stück beständig die Ausbeutung des Werktätigen, dieses "blinden Maulwurfs" betont, der nicht einmal als "Mensch" anerkannt wird <...> und dem die Freidenkerei der "Kinder der Sonne" helfen soll, aus der gegenwärtigen unterdrückten Lage herauszufinden und "zu einem stolzen Adler heranzuwachsen". Zur bildhafteren Charakterisierung der Anomalie der Situation werden sogar unsere früheren Unruhen und deren Folgen erwähnt: die bestialische, schwarze Menge, blutüberströmte Gesichter, Pfützen warmen Bluts, die den Sand rot färben usw. Dieser blutige Sand dient auch als Emblem der Leiden des Volkes <...> Die Prophezeiung von den Qualen des Volkes erfüllen sich im letzten Akt, wo Cholera-Unruhen dargestellt, und die Doktoren vom Pöbel zusammengeschlagen werden <...> In Anbetracht der äußersten Tendenziosität des geprüften Werks, hege ich nicht den kleinsten Zweifel an der völligen Unzulässigkeit seiner Aufführung, die im Stande ist, nur unerwünschte Folgen heraufzubeschwören" (Rev put' G, S.92f.).

 

Das Weitere erzählt Gor'kij in einem Brief an Pjatnitzkij vom 18. September 1905: "Mein Stück wurde bereits zusammen mit dem Bericht bei der Chefadministration für Druckangelegenheiten vorgelegt. Aus einem Gespräch mit Vereschtschagin erfuhr ich seine Hauptargumente: In dem Stück wird eine Volksrebellion dargestellt. In ihnen gibt es Anspielungen auf den 9. Januar und auf das Blutvergießen <...> die Lage der Volksmassen sind im finsterster Licht dargestellt. "Ein solches Stück", sagte Vereschtschagin "haben wir überhaupt noch nie zugelassen".

 

Als ich seine Argumente analysierte, fing er an, sich auf seine Abhängigkeit zu berufen: "Ich bin Beamter; ich riskiere eine Menge und deshalb nehme ich persönlich nie Verantwortung auf mich" -

 

- Wer nimmt sie denn auf sich?

 

- Nur der Leiter der Chefadministration.

 

Also wandte ich mich an Bel'gardt, redete einige Male mit ihm und habe die Sache gestern schließlich abgeschlossen; das Stück wurde in voller Länge zugelassen; kein einziges Wort ist rausgeschmissen worden. Die Erlaubnis gilt selbstverständlich für sämtliche Theater. Das Zensur-Exemplar haben sie mir zurückgegeben" (Archiv A.M. Gor'kijs, KG-p-64-1-11).

 

 'K' = M. Gor'kij: Werksammlung. Bd. 1-21. [dt.:] Verlag "Kniga", Berlin 1938.

 

 'Lit Nasl' = Literaturnoe Nasledstvo [Literarische Hinterlassenschaft]

 

3 Diese Zeilen fehlen im Original und stammen von der Übersetzerin T.L. Schtschepkinaja-Kupernik.

 

 'G-30' = M. Gor'kij: Werksammlung in 30 Bänden. Moskau, Goslitizdat 1949-1953.

 

 In dem Artikel L.K. Dolgopolovs, "Um "Die Kinder der Sonne" herum", wurde dargestellt, daß das Thema dieses Stücks zu Beginn des 20. Jhs. auch die Aufmerksamkeit von symbolistischen Dichtern wie K. Bal'mont, A. Belyj und B. Brjusov geweckt hatte.

 

 V.I. Katschalov, der im [Moskauer] Künstlertheater die Rolle des Protasov spielte, erinnerte sich: "Vorbild für den jungen Gelehrten Protasov <...> war für mich ein junger Professor der Moskauer Universität, der begabte Physikwissenschaftler P.N. Lebedev, der bei den Studenten unglaublich beliebt war - ein reizender Familienvater und charmanter Freund, der alles auf seine Wissenschaft konzentrierte <...>. (VS [= Vospominanija Sovremennikov (Erinnerungen der Zeitgenossen)]; Moskau, Goslitizdat, 1955.)

 

 Hierzu muß angemerkt werden, daß in AMg und AMd auf Blatt 14 "Muratov" gedruckt war und anschließend von Go'rkij in "Vagin" umgeändert wurde. D.h., im Original, von dem die maschinenschriftl. Kopie angefertigt wurde, steht in einem Fall der Name "Muratov", der nicht in "Vagin" korrigiert wurde.

 

 

Also wandte ich mich an Bel'gardt, redete einige Male mit ihm und konnte die Sache gestern endlich abschließen; das Stück wird in voller Länge zugelassen; kein einziges Wort wurde rausgeschmissen. Die Erlaubnis gilt selbstverständlich für sämtliche Theater. Das Zensur-Exemplar haben sie mir zurückgegeben" (Archiv A.M. Gorkijs, KG-p-64-1-11).

 

Auf dem DZ-Text ist folgender Stempel: "Zur Aufführung zugelassen. Sankt Petersburg. 14. Sept. 1905. Der Zensor dramatischer Werke d.s.s [?] Vereschtschagin". Aus dem Brief Gorkijs an Pjatnitzkij wissen wir, daß der Autor die Wege seines Stückes durch die Kanäle der Zensur selbst begleitete: "Ich hatte nicht zu hoffen gewagt, daß das Stück ohne Žnderungen durch die Zensur geht. Nach Ihrer ersten Sitzung mit Bel'gardt schrieb ich ihm einen kurzen Brief - hat er ihnen davon erzählt? Ich hatte lediglich daraufhin gewiesen, daß die "Höhere Gewalt" in letzter Zeit in einem solchen Maße angefangen hat, zu verflachen, zu verdrecken und in den Augen Europas das Volk und das Land zu vergewaltigen, daß eine Verstärkung dieser Bemühungen inform weiterer solcher geistlosen Fehltritte, wie z.B. das Verbot meines Stückes, überflüssig ist. Der Brief ist knapp gehalten und es stand darin nichts Beleidigendes gegen Bel'gardt selbst" (Archiv G4, S.187). Trotzdem mußte der DZ-Text Anfang 1906 ein zweites Mal der Zensur vorgelegt werden [...].

 

 

Das Moskauer Künstlertheater nahm seine Proben zu "Kinder der Sonne" im August 1905 auf. V.I. Nemirovitsch-Dantschenko übernahm selbst die Arbeit mit den Schauspielern, während Stanislavskij ein Regiebuch anlegte. Die Figuren wurden folgendermaßen besetzt:

 

Protasov V.I. Katschalov

 

Liza M.F. Andrejeva

 

Elena M.N. Germanova

 

Vagin L.M. Leonidov

 

Tschepurnoj V.V. Luzhskij

 

Melanija O.L. Knipper

 

Nazar Andrejevitsch I.M. Moskvin

 

Antonovna K.P. Muratova

 

Fima N.N. Litovtzeva

 

Am 6./7. Sept. 1905 schrieb Gorkij E.P. an Peschkova aus Moskau: "Ich bin jetzt seit drei Wochen hier bei den Proben zu "Kinder der Sonne"." Und am 20./21. Sept. beschwerte sich Pjatnitzkij: "Sie lassen das Stück völlig verwahrlosen - Marusja geht um 12, erscheint wieder um 5 und geht wieder um 7, um dann gegen Mitternacht, gelb-grün vor Wut, nochmal hier aufzukreuzen. So geht es tagaus, tagein. Stanislavskijs Geduld ist bald am Ende - er hat eine neue Figur eingefügt: ein Pferd, im 2. Akt. Ich protestiere!" (ebenda, S.188). Nachdem Gorkij die Hauptprobe gesehen hatte, äußerte er sich höchst unzufrieden: "Gestern auf der ersten Generalprobe der ersten drei Akte von "Kinder der Sonne" gewesen", schrieb er am 26. Sept. an E.P. Peschkova. "Die Inszenierung ist abstoßend. Sie spielen einfach widerwärtig. Das ganze Stück ist entstellt und verzerrt, und wahrscheinlich wird es mit Pauken und Trompeten durchfallen. Knipper und Muratova spielen jedoch hervorragend; Litovtzeva und Andrejeva spielen nicht übel" (Archiv G5, S.164).

 

Vermutlich wurde die ursprünglich für den 5. Okt. vorgesehene Premiere aufgrund dieser Unzufriedenheit Gorkijs auf den 17. Okt. verschoben. Infolgedessen kam das Theater V.F. Komissarzhevskajas, das seine Premiere am 12. Okt. feierte, obgleich es erst Ende Sept. [!] mit den Proben begonnen hatte, den Moskauern zuvor. Liza wurde hier von V.F. Komissarzhevskaja selbst gespielt, Protasov von K.V. Bravitsch und Tschepurnoj von I.M. Uralov, der von der Presse als bester Schauspieler bezeichnet wurde. Die Regie hatte N.N. Arbatov übernommen. Protasov war eindimensional angelegt, indem seine individualistischen und spießbürgerlichen Züge betont wurden. Die Rezensenten, die sich ausschließlich auf diese falsche Interpretation bezogen, verurteilten den Autor einhellig für dessen "Verspottung" der Intelligenz: "Zart und unmerklich wird Protasov schließlich von Bravitsch entlarvt <...> Mit hinreißender Nervenkraft spielt Frau Komissarzhevskaja ihre Rolle <...> Bemerkenswert saftig und interessant stellt Herr Uralov den Finsterling Tschepurnoj dar", schrieb Homo Novus . Von ihm stammte auch der Satz, der in den damaligen Zeitungsartikeln über "Kinder der Sonne" so häufig zitiert wurde: "Wenn die "Sommergäste" eine Ohrfeige für die Intelligenz sind, dann sind die "Kinder der Sonne" die Verachtung, mit der auf sie gespuckt wird" ("Rus'" [altes Wort für Rußland/Russ. Reich], 1905, Nr.245, 13. Okt.). Die Kritiker nannten das Stück einhellig eine "grobschlächtige" und "künstlerisch wertlose" Satire auf die Intelligenz (Smolen-skij - "Börsenneuigkeiten", 1905, Nr.9073f., 13./14. Okt. [...]).

 

"Die meisten sehen in Gorkijs Stück eine Satire. So wird es auch im Theater Komissarzhevskaja aufgefaßt und gespielt, wo das satirische Element immer stärker herausgekehrt wurde. Ob eine solche Auslegung gerechtfertigt ist, ist schwer zu beurteilen, solange kein gedruckter Text vorliegt <...> Wir stellen jedenfalls fest, daß Gorkijs Drama in Moskau ganz anders inszeniert wurde..." (N. Gorevanov - "Der Weltbote", 1905, Nr.11, S.133).

 

Sowohl die Memoiren Katschalovs als auch das erhaltene Regiebuch Stanislavskijs zeugen tatsächlich von einer anderen Behandlung des Stücks und der Hauptfigur im Künstlertheater. Protasovs Monolog über die "Kinder der Sonne" ist mit folgender Anmerkung Stanislavskijs versehen: "Eine der stärksten Stellen dieser Rolle. Plötzlich entsteht eine große und interessante Figur. Nun erscheint auch seine Arbeit mit dem Eiweiß wichtig und notwendig <...> Protasov ist jetzt eine Art Prophet, der den Lehrstuhl erklimmt und von oben den Studenten seine Prophezeiung verkündet" (zitiert nach: "Die erste Russ. Revolution und das Theater", S.120)

 

Wie sich Katschalov später erinnert, "fielen die "Kinder der Sonne" durch". Die Premiere war ein einziges Fiasko. Der Krawall überdeckte für viele den ideologisch-künstlerischen Sinn der Inszenierung. "Die Premiere der "Kinder der Sonne"", so erinnert sich Nemirovitsch-Dantschenko, "war eine der tragikomischen Anekdoten in der Geschichte des Moskauer Künstlertheaters. Schon morgens kursierten Gerüchte in der Stadt, daß die Erzreaktionäre [tschernosotency] nicht zur Vorstellung eingelassen werden sollen". Die Zuschauer "konnten sich dem Stück nicht frei hingeben; alle hatten schon irgendwie mitbekommen, was hinter den Theatermauern vorging und wurden nicht klug aus den Höhen und Tiefen des Schauspiels. Irgendwie war bis zum letzten Akt alles gut gegangen. In diesem vierten Akt gab es jedoch die Volksszene mit der Cholera-Unruhe <...> Ich, der ich diese Szene inszeniert hatte, gebe noch heute manchmal gerne mit meiner neuartigen Regieidee an: Die Panikszene nicht auf die konventionelle Weise des Künstlertheaters zu inszenieren, nicht bunt, mit so vielen unterschiedlichen Figuren, sondern einfarbig. Meine Menschenmenge bestand lediglich aus einer Stukkateur-Genossenschaft - alle mit der gleichen, mit Kalk beschmierten, Kleidung, mit Spachteln und dergl. So wirkt es beherrscht, resolut und vollkommen realistisch. Diese Szene hat keinen tragischen Charakter. Die Arbeiter schlagen mit Fäusten auf den Professor ein - und was macht der: nachdem er zurückgewichen ist, versucht er, sie mit einem Taschentuch zu verscheuchen. Zwar rennt seine Frau mit einem Revolver heraus, aber gleichzeitig schlägt der Hausknecht außergewöhnlich methodisch mit einem Brett auf die Köpfe der Angreifer ein. Auf der Generalprobe wurde die Szene unter schallendem Gelächter gespielt <...> und dieses Gelächter hat uns dann auch irritiert, so daß wir Gorkij fragten, ob das nicht seiner eigentlich Intention widerspreche, aber er antwortete: "Meinetwegen kann ruhig gelacht werden" <...> Schon als die ersten Stimmen der angreifenden Menschenmenge hinter den Kulissen zu hören waren <...> spitzten die Zuschauer ihre Ohren, und je lauter der Krach wurde, desto lauter wurde auch das Publikum; sie empörten sich, tönten lauthals, fingen an, sich wie zu Hause zu fühlen und aufzustehen. Und als dann Katschalov auftauchte und mit einem Taschentuch herumwedelte, hinter ihm die Stukkateure mit den Drohgebärden, erhob sich im Saal ein richtiger Lärm. Und als dann auch noch die Germanova mit gezogenem Revolver im Eingang erschien, brachen erst im Parkett, dann in den Rängen und schließlich im Hochparkett Hysterien aus. Ein Teil des Publikums arbeitete sich mit Ellenbogen zum Ausgang vor, der andere Teil versuchte den ersten lauthals davon zu überzeugen, daß dies nicht die Realität, sondern nur ein Theaterstück sei <...> Meine Stukkateur-Genossenschaft wurde nämlich für eine Gruppe der Erzreaktionäre gehalten, die gerade dabei war, das Theater auseinanderzunehmen <...> Der Regieassistent ließ dann den Vorhang schließen" (Iz proschlogo [Aus der Vergangenheit], S.211ff.).

 

 

Die ersten Reaktionen auf diese Aufführung beschränkten sich im Wesentlichen auf die Beschreibung des Krawalls. Nemirovitsch-Dantschenko war gezwungen gewesen, mit einer Erklärung vor die Zuschauer zu treten, die zwei verschiedene Meinungen vertraten. Die Mehrheit verlangte den Abbruch der Vorstellung und die Minderheit wollte, daß sie weiterläuft. Nachdem der kleinere Teil des Publikums den Saal verlassen hatte, wurde das Stück bis zum Ende weitergespielt. [...] Die Meinung der "Minderheit" drückte sich in der hysterischen Kurzmeldung des Theaterkritikers S.B. Jablonskij aus: "Ich werde es aussprechen, es herausbrüllen, daß in unserer Zeit, in der so unglaublich schreckliche Dinge vorgehen, in der finstere Mächte in unseren Straßen ein Blutbad anrichten, in der unseren Vätern, Brüdern und Söhnen die Schädel gespalten werden - daß in dieser Zeit unsere Nerven nicht so grausam strapaziert werden dürfen, auf der Bühne zu zeigen, wie ein Erzreaktionär Schädel mit einem Brett einschlägt <...> Diese Bilder sahen wir in der Realität - schreckliche, unmenschliche, unglaublich schreckliche Dinge <...> Wir wollen uns nicht am Anblick solcher Szenen weiden, wir können es nicht!" ("Das Russische Wort", Nr.280, 25. Okt.). Zu dieser Kurzmeldung gab es eine Anmerkung der Redaktion: "Der Direktor des Künstlertheaters ging nach dem gestrigen Tumult zum Autor der Kinder der Sonne und bat ihn, die Aufruhrszene im 4. Akt zu streichen". Das Stück wurde jedoch weiterhin in voller Länge aufgeführt (vom 24. Okt. bis 7. Dez. wurden die "Kinder der Sonne" 21 mal gespielt).

 

Nach den ersten Vorstellungen des Künstlertheaters wurden Kritikerstimmen laut, die die Auslegung der "Kinder der Sonne" (als erbarmungslose Satire auf die Intelligenz) bestritten. "Was will uns Gorkij mit seinem Stück sagen?", fragte Nur , "Will er die Intelligenz anklagen oder will er sie verteidigen? Will er ihre tragische Schwäche darstellen, oder will er eine boshafte Satire auf sie schreiben? Darüber zu diskutieren ist schwierig, und etwas zu beweisen ist unmöglich". Urvantzev neigte zur vereinfachenden Schlußfolgerung, derzufolge im Stück nicht die Intelligenz karikiert wird, sondern das Volk - vertreten durch Egor, "jenen erzreaktionären Protestierer gegen die Intelligenz" ("Theater und Kunst", 1905, Nr.44, 30. Okt., S.694f.).

 

Als originelle Antwort auf diese erste Welle kritischen Unverständnisses, dienten die nachstehenden Worte aus Gorkijs Artikel "Anmerkungen zum Kleinbürgertum" ("Neues Leben", 1905, Nr.12, 13. Nov.), der am Vorabend des Erscheinens von Bd.7 des "Wissens" - mit den "Kinder der Sonne" - veröffentlicht worden war. Es ging darin um die Reaktion im Rußland der 80er Jahre[], als die "geistigen Führer der Gesellschaft ihren vernünftigen und ehrlichen Kräften hätten sagen müssen: "Aus der Armut und Unwissenheit unseres Volkes entspringt die Quelle allen Übels unseres Lebens; sie ist eine Tragödie, in der wir keine passiven Zuschauer sein dürfen, weil die Kraft der Dinge uns alle früher oder später zwingen wird, die leidenden und abhängigen Rollen dieser Tragödie zu spielen <...> Kein vernünftiger Mensch kann ruhig bleiben, solange das Volk ein Sklave und ein blindes Tier ist - denn es wird irgendwann wieder sehend werden, es wird sich befreien und es wird sich für die brutale Gewalt, die ihm angetan wurde, und für seine Nichtbeachtung rächen. Das Leben kann nicht schön sein, wenn es um uns herum so viele Bettler und Sklaven gibt. Begreift doch endlich: es gibt kein anderes Land, wo ehrenhafte Menschen leben - die Menschen mit Verstand sind überall so wie bei uns. Für den Triumph der Freiheit und Gerechtigkeit müßt Ihr doch kämpfen - denn in diesem Triumph ist Schönheit. Und Euer Leben wird ein Heldengedicht sein!.."" (G-30, Bd.23, S.353).

 

In diesen Zeilen verdichtet sich die Idee von der Überwindung des historisch bedingten Gegensatzes von "Intelligenz und Volk", den die Kritiker der "Kinder der Sonne" nicht begriffen haben. Nachdem das Stück verlegt worden war, mischte sich auch die Zeitschriftenkritik in die Polemik ein. Sie spaltete sich in zwei scharf getrennte Lager. Ein Teil der Kritiker sah in dem Stück "genau den gleichen Krieg gegen die russi-sche Intelligenz", wie in den "Sommergästen". "In den "Kin-dern der Sonne" erscheint Maxim Gorkij nicht als Prophet des Sieges, sondern als Historiker der Niederlage der Intelligenz <...> Es ist eine furchtbare Anschuldigung gegen die Wohltäter der Menschheit, aber kein Schlag gegen die Erneuerung <...> Gorkijs Drama "Kinder der Sonne" ist die Fortsetzung der "Sommergäste" und somit der letzte und zugleich resoluteste Schritt auf dem Gebiet der Scheidung" (V.L. L'vov-Rogatschevskij [...]).

 

Es wurde auch die genau entgegengesetzte Meinung vertreten, derzufolge Gorkij "dem Menschen des Intelligenz-Kreises alle leuchtenden Strahlen und die ganze moralische Schönheit" verliehen habe. "Und zum Schicksal des einfachen Mannes mach-te er die seelische Abgestumpftheit und Finsternis. Das ist eine vollkommen ungerechte und - insbesondere für Gorkij - unerwartete Aufteilung. Die gestrige Idealisierung des Landstreichertums verwandelte sich [heute] in eine Verurteilung..." (Ju.A. [...]).

 

Noch weiter von der Intention des Autors entfernte sich die Auslegung des Kritikers V.F. Chodesevitsch, der in Liza die eigentliche Hauptfigur sah, die lediglich "ihren umnachteten Werktagsverstand" verliere, sich von den "stolzen Kindern der Sonne", die auf der Erde verschmäht wurden, loslöse und sich "erleuchtet und frei" ihrer "erwachenden Seele" hingebe, indem sie Maeterlincks[] Vorhersage vom "Heranrücken einer geistigen Žra" bestätigt. ("Das Goldene Vlies", 1906, Nr.1, S.154f.) [...]

 

Bedeutend näher an Gorkijs Intention lag der Kritiker P.N. Sakulin mit seinem Artikel "In der Welt des roten Sands". Er bestand nachdrücklich darauf, daß "in dem Stück überhaupt keine Ablehnung und schon gar keine Geringschätzung der Wissenschaft oder Kunst enthalten ist". "Allerdings nimmt Gorkij es tapfer auf sich, die Ideale der Kinder der Sonne mit Hilfe ätzender Reagenzien zu interpretieren, die dem "Bodensatz des Lebens selbst" entnommen werden, und er versucht, den wirklichen Wert dieser Ideale zu bestimmen". Das Stück sei eine "furchteinflößende Warnung für alle Kinder der Sonne" und ein leidenschaftlicher Aufruf zur Arbeit an der Verwirklichung der besten Ideale des Sozialismus". ("Das Jahrhundert", 1906, Nr.22, 25. Jan.).

 

Am 12. Jan. 1906 wurden die "Kinder der Sonne" erstmals unter der Regie von Max Reinhardt im "Kleinen Theater" aufgeführt. Gorkij war bei der Vorstellung am 22. Feb. (7. März) anwesend und gab an diesem Tag den Mitarbeitern einer Wiener Zeitung ein Interview, in dem er sein Verhältnis zur Inszenierungsproblematik ausdrückte: "Wie tief der Abgrund zwischen Intelligenz und Proletariat auch sein mag; wie schwierig es auch ist, diesen Abgrund zu überbrücken. Ich hoffe jedenfalls ganz fest darauf, daß die Überbrückung gelingen wird. Diese Aufgabe müssen diejenigen bewältigen, die aus den Reihen des Proletariats ausgebrochen sind und, nachdem sie sich allmählich aufgerichtet, die Höhen des Wissens erklommen haben. Eine kranke Gesellschaft kann erst dann gesunden, wenn die Quellen des Lichts, der Schönheit und des Wissens allen zugänglich sind" ([dt.:] "Neue Freie Presse", 1906, Nr.14926, 11. März).

 

Dasselbe Problem wurde in einem Brief Gorkijs an A.V. Lunatscharskij, vom Dez. 1907, gestreift: "Ihr Gedanke über die Revolutionäre, wie auch über die Brücke, deren einziger Nutzen in der Verbindung zwischen Kultur und Volksmassen besteht, und auch das über die beherrschte Rolle des Revolutionärs - das ist ein Gedanke, der mir sehr nahe geht. Er beunruhigt mich schon seit langem, und ich bin unglaublich froh, daß Sie ihn so einfach und stark aussprechen. In den "Kinder der Sonne" habe ich mich ständig in der Nähe dieses Gedankens aufgehalten, aber ich war nicht in der Lage, ihn auszuformulieren - es ging nicht. Denn: Wer von meinen Kinder der Sonne wäre fähig, diesen Gedanken und diese Aufgabe zu bewältigen? Er muß im Verstand und im Herzen des Proletariers geboren werden, der ihn laut aussprechen muß, ist es nicht so? Und natürlich wird er ihn dann erweitern und vertiefen" (Archiv A.M.G.s, PG-rl-23-44-24).

 

Gorkij liebte es, die Gedichte Vagins über die "blinden Maulwürfe", die zu "stolzen Adlern" heranwachsen sollten, zu zitieren. Er schickte diese Verse zum Andenken 1910 dem Künstler I.I. Brodskij und 1911 dem italienischen Sozialisten Luigi Zapelli. Infolgedessen beschäftigte er sich noch einige Male mit den Problemen, die die "Kinder der Sonne" aufgeworfen hatten; und in den Anmerkungen zu seiner Erzählung "Der Wächter" (1922/23) schrieb er: "Die beunruhigende Empfindung der geistigen Losgelöstheit der Intelligenz (als Quelle des Geistes) vom Volk (als Naturkraft), hat mich mein ganzes Leben lang mehr oder weniger beharrlich verfolgt <...> Allmählich hat sich diese Empfindung in die Vorahnung einer Katastrophe verwandelt. 1905, als ich der Peter-und-Pauls-Festung saß, hatte ich versucht, dieses Thema in dem mißlungenen Stück "Kinder der Sonne" zu bearbeiten. Wenn die Diskrepanz zwischen Wille und Verstand ein ernstes Lebensdrama des Individuums ist, dann ist diese Diskrepanz eine Tragödie im Leben des Volkes" (G-30, Bd.15, S.81).

 

Es gibt Grund zu der Annahme, daß Gorkij Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre sein Stück noch einmal überarbeiten woll-te. Im Archiv A.M. Gorkijs befindet sich eine Aufzeichnung (GZ6-7-68), die, der Orthographie und Handschrift nach zu ur-teilen, genau aus dieser Zeit stammt. Sie enthält eine neue Fassung des Gesprächs zwischen Protasov und dem Schlosser Egor, im ersten Akt, wobei das Thema des Dialogs (es geht um Egors Frau, die von ihm geschlagen wird) unverändert blieb, der Dialog an sich jedoch entscheidend gekürzt wurde. So wurden z.B. Protasovs redselige Repliken gestrichen - dafür drückt er sich kürzer und energischer aus. Den Namen des Schlossers, der im gesamten Verlauf der Arbeit an dem Stück nicht ein einziges Mal verändert wurde, hatte er hier in Savjolo umbenannt.

 

In dem Artikel "Maxim Gorkij" (1930) schrieb A.V. Lunatscharskij: "Gorkij ist häufig aufgefallen, daß die "Kinder der Sonne" Menschen sind, die für die Interessen der Wissenschaft und der Kunst leben - ein ziemlich abgehobenes Leben; doch sie stellen eine ethisch abstoßende Erscheinung vor dem Hintergrund mehrerer Millionen "Maulwürfe" dar, die ein blindes, dreckiges und gelangweiltes Dasein fristen. Und ihnen gegenüber nahm Gorkij oftmals die Position des energischen Verteidigers ein, der die Spitze der Intelligenzler als die überlegenen Kulturschaffenden vertritt. Er begeisterte sich dermaßen für bedeutende Gelehrte und Künstler, daß ihm zuweilen vorgeworfen wurde, er sei gar in die Intelligenz verliebt und betreibe selbst eine "übertriebene Wettintellektualisiererei" [on tscherestschur obyntelligentilsja]. Das alles enthält jedoch nicht den geringsten Widerspruch. Der Widerspruch liegt nicht bei Gorkij, sondern bei der Intelligenz selbst, die sich in verschiedene soziale Klassen aufspaltet, denen sie sich anschließt" (Lunatscharskij, Bd.2, S.76).

 

 

Übersetzung: Frank Jankowski

 

 

 

 [Die russische Zeitrechnung folgte bis Feb. 1918 dem Julianischen Kalender, der dem Gregorianischen Kalender (1582 von Papst Gregor XIII. eingeführt) 13 Tage nachhinkte (in Deutschland 1700 eingeführt).]

 

 Hierzu fehlen nähere Angaben des Redakteurs - also ob es sich z.B. um eine Durch- oder Abschrift handelt.

 

 'K' = M. Gorkij: Werksammlung. Bd. 1-21. [dt.:] Verlag "Kniga", Berlin 1938.

 

 'Lit Nasl' = Literaturnoe Nasledstvo [Literarische Hinterlassenschaft]

 

3 Diese Zeilen fehlen im Original und stammen von der Übersetzerin T.L. Schtschepkinaja-Kupernik.

 

 'G-30' = M. Gorkij: Werksammlung in 30 Bänden. Moskau, Goslitizdat 1949-1953.

 

 In dem Artikel L.K. Dolgopolovs, "Um die "Kinder der Sonne" herum", wurde dargestellt, daß das Thema dieses Stücks zu Beginn des 20. Jhs. auch die Aufmerksamkeit von symbolistischen Dichtern wie K. Bal'mont, A. Belyj und B. Brjusov geweckt hatte.

 

 V.I. Katschalov, der im [Moskauer] Künstlertheater die Rolle des Protasov spielte, erinnerte sich: "Vorbild für den jungen Gelehrten Protasov <...> war für mich ein junger Professor der Moskauer Universität, der begabte Physikwissenschaftler [!] P.N. Lebedev, der bei den Studenten unglaublich beliebt war - ein reizender Familienvater und charmanter Freund, der alles auf seine Wissenschaft konzentrierte <...>. (VS [= Vospominanija Sovremennikov (Erinnerungen der Zeitgenossen)]; Moskau, Goslitizdat, 1955.)

 

 'rev put''= Revolucionnyj put' Gor'kogo [der Revolutionsweg Gorkijs]. M.-L., 1933.

 

 'Andrejeva' = Marija Fedorovna Andreeva. Briefwechsel, Erinnerungen, Aufsätze, Dokumente. Moskau, "Iskusstvo", 1968.

 

 Hierzu muß angemerkt werden, daß in AMg und AMd auf Blatt 14 "Muratov" gedruckt war und anschließend von Go'rkij in "Vagin" umgeändert wurde. D.h., im Original, von dem die maschinenschriftl. Kopie angefertigt wurde, steht in einem Fall noch der Name "Muratov".

 

 [zur Erinnerung: 1881: Dostojevskij gestorben, Ermordung Alexander II., in dessen Nachfolge Alexander III. eine absolute Autokratie errichtet (Gründung der "Ochrana", einer politischen Polizei wie KGB); 1881/82: Judenpogrome in Rußland; 1883: Turgenjev gestorben; 1885: erster organisierter Massenstreik in Rußland; 1887: Aufhebung der Kopfsteuer, Rückversicherungsvertrag mit Deutschland; 1890: Pasternak geboren...]

 

 [Maeterlinck, Maurice, belg. Dichter (1862-1949), schrieb symbol. Dramen, neigte zu mystischer Naturbeseelung. "Das Leben der Bienen" u.ä. Nobelpreis 1911]

 

 

 

LITERATUR

 

Staatsbibliothek (Sachkatalog):

Borras, Frank M.: Maxim Gorky, the writer. An interpretation.. Oxford 1967.

Fedin, Konstantin A.: Gorki unter uns. Berlin & Weimar 1982.

Ludwig, Nadeshda: Maxim Gorki. Leben und Werk. Berlin 1977.

Maxim Gorki: Unzeitgemäße Gedanken. Frankfurt a.M. 1972.

Rischbieter, Henning: Maxim Gorki. Velber 1973.

Scherr, Barry P.: Maxim Gorky. Boston 1988.

Stauche, Ilse: Maxim Gorki. Berlin 1966. (466 S.)

- Kinder der Sonne = Deti solnca = DS -

 

PERSONALBIBLIOGRAPHIE:

 

Clowes, Edith W.: Maksim Gorky. A reference guide. Boston 1987.]

Chandler, Frank W.: "Exponents of Russian Realism: Tolstoi and Gorky." In: Modern Continental Playwrights. New York 1931. pp.64-78 (3-4 Stücke).

Desnitsky, V.A.(Hrsg.): Maxim Gorky. Materialy i issledovanija (Forschung). Kapitel 6.b.: Baluchatsyj, S.D.: Zur Textgeschichte von DS. [russ.]

Literaturnyj Kritik, Nr. 6. 1937. Kapitel 9.: Emel'ianov, B.: "Das Stück DS". [russ.]

Baluchatsyj und Desnitsky: 1941. ". Kapitel 2.b.: Golubev, V.Z.: Zur Frage der literarischen Quellen des Stückes DS. [russ.]

Gorchakov, Nikolaj A.: The Theater in Soviet Russia. 1957. [russ.?]

Jonovich, M.: A.M. Gorky. Propagandist nauki (der Wissenschaft). 1961. 175 S. (!). [russ.]

Muratova, K. (Hrsg.): M. Gorky i ego sovremenniki (und seine Zeitgenossen). 1968. Kapitel 4.: Dolgopolov, L.K.: "Vokrug DS" (um DS herum). [russ.]

Dolgopolov, L.K.: Maxim Gorky i problemy DS. 1977. [russ.]

Gorkovskie Tschtenija (Gorkijs Lektüre bzw. Lesungen [?]): Minakova, A.M: Drama DS ob intelligencii. (Das Drama DS über die Intelligenzija). 1977. [russ.]

 

 

Zum Begriff "dvornik" (1.Akt, 1.Replik, 2. Wort) (in dt. Fassung mit "Portier" übersetzt):

Stamm: "dvor" = Hof (i.S. von Hinterhof); Gehöft; Hof (von Monarchen).

Endung "-nik" ist ein sehr produktives Suffix zur Bildung von Berufsbezeichnungen bzw. -wörtern (wie im Dt. die nicht stammhaften (Hirt, Koch) und nicht zusammengetragenen (Kaufmann) Berufswörter mit den Suffixen -er, -ler, -ner (Schneider, Drechsler, Klempner).

Übersetzung/Bedeutung: (Daum/Schenk: 1987) Hausmeister; (Ozhegov: 1990) ein Arbeiter/Knecht, der sich um die Reinhaltung und Ordnung auf dem Hof und auf der Straße beim Haus zu kümmern hat;

 

Gedicht Lizas (2. Akt, ca. 11. Auftritt, kurz vor Ende des 2. Aktes)

Wortgetreue Übersetzung:

 

Ein/der Adler erhebt sich in den Himmel,

Funkelnd/glitzernd/blinkend mit mächtigem Flügel...

Auch ich würde (gerne), auch ich würde

Dorthin, in die Himmel (Pl.), hinter dem Adler her!

Ich will! Doch die unfruchtbaren/fruchtlosen Anstrengungen!

Ich bin die Tochter dieser traurigen Erde,

Und lange haben die Seelen meines Flügels

Ihr Dasein gefristet in Dreck und Staub...

Ich liebe eure verwegenen Streits/Kämpfe

Und eure grellen/leuchtenden Träume,

Doch - kenne ich die dunklen/finsteren Höhlen,

In denen die blinden Maulwürfe leben/wohnen;

Schöne Gedanken sind ihnen fremd,

Und die Sonne erfreut ihre Seele nicht,

Es quälen/bedrücken sie die schweren Nöte,

Liebe und Aufmerksamkeit brauchen sie!

Zwischen mir und euch

stehen sie schweigend an der Wand...

Sagt mir - mit welchen Worten

Kann ich sie hinter mir her fortziehen/mitreißen?

 

Vergl. hierzu das leitmotivische lyrische Element in Andrejevs "Hinauf zu den Sternen" (erstmals 2. Akt, 1. Auftritt Marusjas):

"Sitz' hier hinter Gittern im feuchten Kerker - ein Adlerjunges, geboren in Freiheit..."
"Mein trauriger Freund, schlägt mit den Flügeln, hackt nach dem blutigen Fleisch unter dem Fenster..."

"Wir sind frei wie die Vögel! Wohl an, mein Bruder, es ist Zeit zu geh'n - dorthin, wo hinter den Regenwolken weiß schimmert der Berg, - dorthin, wo blau schimmert das Reich des Meeres, - dorthin, wo lustwandelt der Wind nur und ich!"