"The good Nazi"

von

Dan van der Vat

Übersetzung von Frank Jankowski

 

 

The Life and Lies of Albert Speer

Leben und Lügen des
Albert Speer

 

verlegt beim Henschel Verlag
der Dornier Medienholding 1996

 

 

 

Übersetzung von Kapitel 15, 16, 17, 18 einschließlich Epilog, Anmerkungen, Danksagungen und Bibliographie

 

bei den hier verwendeten Texten handelt es sich
um die Manuskriptversion,
da mir die Endfassung in digitaler Form nicht vorliegt
- daher die gelegentlichen Varianten, Holprigkeiten und Anmerkungen...

 

 

 

 

Kapitel 15

 

 

 

Ein System zur Lebenserhaltung

 

(1946-53)

 

 

Das Netzwerk, das Albert Speer während seines Gefängnisaufenthaltes unterstützte, begann sich zu formieren, noch ehe Schuldspruch und Strafmaß verkündet worden waren. Dr. Wolters, der während des Verfahrens auf eigene Initiative Kontakt mit seinem alten Chef aufgenommen hatte, ermöglichte im August 1946, in jener schweren Phase, als man auf das Urteil wartete, die erste Verbindung mit Margret Speer. Der zweite Kontakt kam zwischen Wolters, stets die Hauptantriebskraft, und Annemarie Kempf zustande, die nach Kransberg zurückgekehrt war, um den Alliierten weiterhin dabei zu helfen, führende Nazis in den zwölf subsidiären Gerichtsverhandlungen in Nürnberg zu vernehmen. Am 13. November 1946 schrieb er ihr:

'Inzwischen habe ich über Dr. Flächsner den Brief von Vater erhalten, in dem er mich bevollmächtigt, das Material über sein Leben und sein Werk zu sammeln und später etwas passendes dazu zu schreiben. Für mich ist das natürlich eine Verpflichtung, der ich außerordentlich gerne nachkomme ... Ich werde zunächst versuchen, das Material zusammenzutragen, sofern mir das möglich ist, und hege immer noch die Hoffnung, daß ich ihm eines Tages all das Material persönlich werde überreichen können, so daß er seine Memoiren (selbst) schreiben kann, denn soetwas besitzt einen viel größeren dokumentarischen Wert. Sollte er es lieber anders haben wollen, so würde ich die Arbeit natürlich auch selbst erledigen.' (! ÜBERSETZT !) FUßNOTE (1)

Die Wahl des Wortes 'Vater' in bezug auf Speer, gerade erst einundvierzig Jahre alt, von einem zwei Jahre älteren Mann, sagt sehr viel über die Beziehung zwischen Hitlers ehemaligem 'Wunderkind' und denen aus, die für ihn arbeiteten. Seine nahezu undurchdringliche Reserviertheit, seine unerschütterliche Ruhe, sein vornehmes und väterliches Verhalten gegenüber Untergebenen vermittelt eindeutig den Eindruck einer Vaterfigur - ungeachtet seiner jugendlicher Eigenschaften wie Dynamik, Enthusiasmus bei der Arbeit und die Fähigkeit zur Improvisation, die seinen Erfolg als Vorgesetzter erklären. Der Grad an Loyalität, zu dem er andere Menschen trotz seiner permanenten Gleichgültigkeit gegenüber ihren Belangen, Bedürfnissen und Problemen bewegen konnte, sollte sich nun, wo er eingesperrt war, noch stärker ausprägen, als zu jener Zeit, da er mittels physischer Präsenz Einfluß nehmen konnte.

Wolters' Brief an Annemarie Kempf überschnitt sich auf der Post mit einem vier Tage zuvor datierten Brief von ihr, der Wolters jedoch erst danach erreichte. Frau Kempf gebrauchte denselben Ausdruck, indem sie berichtete, daß sie Briefe von 'unserem Vater' erhalten habe und fügte hinzu, daß ihr 'Vater' Wolters gelegentlich erwähnt habe, als sie Speer in Nürnberg besucht hatte. Sie erhielt die Erlaubnis, Kransberg an den Weihnachtsfeiertagen zu verlassen und quartierte sich in einem der Wohnwagen im Wald am Eutiner See in Schleswig-Holstein ein, in den sich Speer ursprünglich hatte zurückziehen wollen, ehe er in die 'Regierung' Dönitz berufen wurde. Im Januar 1947 teilte sie Wolters mit, sie wolle ihn so bald wie möglich besuchen, um ihm Papiere auszuhändigen, die Speer betrafen und sich in ihrem Besitz befanden. Dies entsprach dem Wunsch Speers, demzufolge Wolters sie zusammentragen/kollationieren sollte, und es war ungewöhnlich großzügig von ihr, denn sie befand sich damals in einer verzweifelten Lage. Sie war eine Kriegswitwe; sie hatte kein eigenes Zuhause, aber sie hatte eine Mutter, die an Krebs erkrankt war, einen Bruder, der wegen einer Lungenkrankheit als dienstuntauglich aus der Armee ausgeschieden war, eine Schwester mit Multipler Sklerose sowie deren jeweilige Angehörige, um die sie sich kümmern mußte. Der großen Familie war genügend Land für zwei Häuser in Eutin zugewiesen worden, deren Bau mußte sie jedoch selbst in die Hand nehmen. FUßNOTE (2)

 

Die zum Tode Verurteilten blieben im Erdgeschoß des östlichen Zellentrakts der Nürnberger Justizvollzugsanstalt; diejenigen, die dazu verurteilt worden waren, den größten Teil ihres restlichen Lebens im Gefängnis zu verbringen, wurden ein Stockwerk höher verlegt. Ironischerweise mußten die drei, die freigesprochen wurden, solange in Zellen des zweiten Stocks untergebracht werden, bis sich die feindselige deutsche Menge draußen vor dem Gefängniskomplex aufgelöst hatte. Somit saßen die drei Gruppen beim Mittagessen nach der Urteilsverkündung zum letzten Mal beisammen. Es muß eine der ungewöhnlichsten und verwirrendsten Mahlzeiten überhaupt gewesen sein, doch Speers Bericht darüber fällt leider sehr spärlich aus, wie es bei seinen schriftlichen Erinnerungen an außergewöhnliche Situationen so häufig der Fall war. Funk, Hess ("HESS" = lt. Brockhaus richtige Schreibweise, die von Buch zu Buch variiert - Anm. d. Übersetzers) und Raeder wurden zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt; Schirach und Speer zu zwanzig Jahren; Neurath zu fünfzehn; Dönitz bekam zehn. Als Dr. Gilbert seinen Etagenrundgang machte, sagte Speer: 'Das ist gerecht, ich kann mich nicht beklagen' (! ÜBERSETZT !) FUßNOTE (3) Trotzdem beklagte er sich ständig. Gleich zu Beginn seines zweiten Buches, in jenem zum Teil umgeschriebenen Bestseller-Tagebuch seines Gefängnisaufenthalts, wo er über die drei Freigesprochenen sagt: 'Lügen, Verschleierungen und unaufrichtige Aussagen haben sich also doch ausgezahlt.' (ZITIERT NACH: Tagebuch, S.17)

Im Licht von Sauckels bevorstehender Hinrichtung, erschien alles irgendwie relativ, er hätte dasselbe ebenso gut über sich selbst sagen können. Seine körperliche Reaktion auf den Streß dieses Ereignisses waren Herzattacken, gegen die ihm Aspirin verabreicht wurde. Die Strangulationen wurden auf amerikanische Weise, im Beisein von Augenzeugen, einschließlich acht Reportern (darunter Rebecca West), durchgeführt, und zwar in der Nacht vom 15. auf den 16. Oktober. Die Hinrichtungskammern wurden am östlichen Ende des Osttrakts eigens dafür gebaut und nach Abschluß der Verfahren wieder vernichtet, um einen potentiellen Reliquienschrein für Sentimentalisten zu beseitigen.

Kurz nach Antritt seiner Haftstrafe, hatte Speer seine 100-Seiten-Memoiren mit dem irreführenden Titel 'Tätigkeit als Minister' (wie oben beschrieben; in Wirklichkeit waren sie viel umfangreicher) an seinen Freund in 'Coburg' geschickt. Der Name stand für Coesfeld, wo Wolters nach dem Krieg wieder hingezogen war - das erste Beispiel für jene kindischen, halb-durchsichtigen Codes, die Speer sich im Gefängnis ausdachte. Margrets Besuch am 14. Oktober, nach der Urteilsverkündung, stand im Zeichen des Gehämmers, mit dem im anderen Trakt die Galgen gebaut wurden. Drei Tage später mußten die sieben Überlebenden die Zellen der Hingerichteten reinigen - sowie deren Todeskammern. Andernfalls hätte man sie getrennt und in Einzelzellen gesteckt. Die Umgangsformen waren streng aber nicht unmenschlich; Speer war sich der Tatsache bewußt, daß es die Häftlinge hinsichtlich der Verpflegung durch die US-amerikanische Armee viel besser hatten als die deutsche Bevölkerung, die halb am Verhungern war. Das Gefängnis blieb indes ungeheizt, und um sich zu wärmen, war Speer auf einen der Winteranoraks angewiesen, die er selbst für die deutschen Truppen entworfen hatte, als diese Ende 1941 jenem russischen Winter ausgesetzt waren, auf den sie sich arroganterweise nicht vorbereitet hatten. Nun bot sich ihm Gelegenheit, an sich selbst herauszufinden, wie inadäquat die Winterausrüstung der Wehrmacht gewesen war. In einem Brief an Margret, der von einem Kaplan aufgegeben wurde, teilte er ihr mit, sie solle sich keine Umstände machen und nicht versuchen, ihm ein Weihnachtspaket zu schicken.

Zehn Tage vor den Festlichkeiten, wurden die sieben Häftlinge offiziell davon unterrichtet, daß sie nach Berlin verlegt werden sollten. In jenem ausgesprochen/besonders strengen Winter 1946/47 verbrachten die vor Kälte zitternden Gefangenen dreiundzwanzig Stunden pro Tag in ihren Zellen. Zu ihrem Glück waren bereits Bücher verfügbar. Eine der wenigen Abwechselungen von dieser abstumpfenden Routine bestand in der gelegentlichen Aufforderung, Aussagen zu den Nürnberger Prozessen zu machen beziehungsweise als Zeuge dort aufzutreten. Im Nürnberger Gefängnis waren auch andere Nazi-Angeklagte untergebracht, und während der Freigänge (EXERCISE PERIODS) oder beim Duschen konnte Speer viele alte Bekanntschaften auffrischen. Rudolf Hess, letzter Bewohner vom Landsberger Schloß und dem Londoner Tower, war der einzige 'alte Knastbruder' von den sieben. Seine dramatische 'Amnesie'-Tour während des Prozesses verfolgte er danach in Form von Größenwahn weiter. Die Wärter erzählten Speer, daß er Ministerposten zu einem neuen 'Kabinett' verteile; aber Größenwahnsinn war damals ja eine Gewohnheitssünde der Nazis. Als der Frühling kam, gab es immer noch keine Neuigkeiten über die Verlegung nach Berlin, da sich die Westalliierten und die Russen nicht über die Details einigen konnten. Speer, der im Februar eine Zeugenaussage für seinen Freund Erhard Milch gemacht hatte, versuchte, anstelle der üblichen sechs, nun zwölf Stunden pro Tag zu schlafen - ein Schritt, von dem er annahm, daß er dadurch ein Viertel seiner Zeit 'versäumte', zumindest im wahrnehmenden Zustand. Als man im Frühjahr 1947 die führenden Industriellen vor Gericht stellte, lehnte er es ab, als Belastungszeuge aufzutreten, wurde aber auch nicht zwangsweise vorgeladen.

Mit der vagen Absicht, seine Memoiren zu schreiben, machte er sich, wenn er wach war, unzusammenhängende Notizen, die er dem Kaplan für Margret mitgab; die postalischen Gepflogenheiten wurden in dieser frühen Phase seiner Haft erstaunlich nachlässig gehandhabt. Briefe wurden zwar zensiert, aber man durfte soviel schreiben, wie man wollte. Wieviel seiner Zeit Speer mit Schreiben verbrachte, ist abgesehen von einigen bestimmten Zeiträumen praktisch nicht näher zu definieren, doch ein Eintrag vom Dezember 1946 macht deutlich, daß er bereits sehr früh erkannte, wie wichtig diese Beschäftigung für ihn ist - und das war lange bevor aus dem Rinnsal ein Strom wurde. Schon zu Beginn seiner Strafe, die von seiner späten Jugend bis in sein frühes Alter dauerte, schrieb er in drei verschiedenen Kategorien. Zum einen waren das Briefe, die für den jeweiligen Adressaten gedacht waren; zum zweiten Reminiszenzen, letztendlich als erschöpfende Notizen für seine Memoiren gedacht (in der ersten Phase seines Gefängnisaufenthalts unerheblich, weil das, was er bis dahin geschrieben hatte, längst einen 100seitigen Abriß überstieg); und zum dritten Tagebücher, die sich irgendwo zwischen den für private Zwecke vorgesehenen und den potentiell öffentlichen einordnen ließen. Der rote Faden, der sich durch all diese Schriften zog, war die Vergangenheit, insbesondere seine eigene Vergangenheit, und zwar vor allem seine Erlebnisse in der Zeit zwischen 1933 und 1945, als er Hitlers Architekt und zuletzt auch sein Waffenmeister gewesen war. Dieses Schreiben war schließlich auch das, womit er den Rest seines Lebens zubrachte.

Seine große Familie war für diesen höchst aufregenden Lebensabschnitt als konstantes Thema lediglich von sekundärer Bedeutung. Wenn er von langjährigen loyalen persönlichen Mitarbeitern aus seiner Glanzzeit als 'unser Vater' bezeichnet wurde, so sah er sich selbst in bezug auf seine Frau, seine sechs Kinder und seinen eigensinnigen älteren Bruder Hermann sehr nachdrücklich als einen unvermeidlich abwesenden aber auch unerbittlich pflichtbewußten Familienvater im viktorianischen Stil. Nachdem er sein Kommando über die deutsche Wirtschaft durch die Geschicke des Krieges eingebüßt hatte, mußte sein mächtiger Appetit auf Kontrolle und Manipulation auf diese beiden Gruppierungen, sein im Entstehen begriffenes Lebensunterhalts-Netzwerk und seine Familie, umgeleitet werden (Gruppierungen, die sich in weiten Bereichen überlappten). Wenn er über seine Vergangenheit reiflich nachdachte und sehr ausgiebig versuchte, sie rational zu erklären, verspürte er wegen der Ausbeutung seines dramatisch reduzierten aber sehr realen Einflußbereichs keinerlei Gewissensbisse. Es war, als ob sie es dem Häftling schuldig seien, zu seiner Verfügung zu stehen. Die 20.000 Papierfetzen, die er im Gefängnis vollgeschrieben hatte, beweisen, daß er dort weder die Arroganz der Macht, noch die Eigenschaft der Besserwisserei verlor.

Das erste Familienereignis, das in seiner Gefangenschaft bis zu ihm vordrang und ihm seine strengen Einschränkungen vor Augen führte, war der Tod seines Vaters im Alter von vierundachtzig Jahren am 31. März 1947 - er war im Schlaf gestorben. Der Kaplan überbrachte die Neuigkeit in Form eines Telegramms von Speers Mutter am 3. April, einem Karfreitag. Zuletzt hatten sie sich vor knapp zwei Jahren gesehen. Mit dem Ableben von Albert Speer Senior - ein emotionaler Meilenstein, wenn es überhaupt einen gab - wurde in den Tagebüchern kurzer Prozeß gemacht: Gerade einmal zehn Zeilen in der gedruckten Fassung. Wenigstens hatte der alte Mann in den letzten Monaten Zerstreuung durch die Anwesenheit seiner Schwiegertochter und seiner sechs Enkelkinder erfahren: Sie waren etwa ein Jahr nach Kriegsende von Schleswig-Holstein nach Heidelberg zurückgekehrt - allerdings nicht in das Haus der Familie, denn das war von der amerikanischen Armee für einen Oberoffizier (SENIOR OFFICER) requiriert worden. Die Familie nutzte die kleine Hütte auf dem Grundstücksgelände, und eine Weile wohnte Margret mit den Kindern bei ihren Eltern, den Webers. Speer und sein Vater waren sich nie sehr nahe gewesen und hatten dem anderen gegenüber niemals ihre persönlichen Gefühle für einander ausgedrückt. Wie der Sohn, so der Vater. Albert Junior, sei es aus Respekt, sei es wegen einer Depression, sei es aus Mangel an neuen Ideen oder Ereignissen, schrieb vierzehn Tage lang kein einziges Wort; als jedoch Erhard Milch eine lebenslange Freiheitsstrafe erhielt, war ihm das dreißig gedruckte Zeilen wert.

Speer interessierte sich in diesem ungewissen Frühling des Jahres 1947 für die Fortschritte (beziehungsweise Rückschritte) von Rudolf Hess, da die sieben bedeutendsten Nazi-Häftlinge auf den oft verzögerten Umzug nach Berlin warteten. Währenddessen wurde Hunderten von ehemaligen Kollegen und Untergebenen, die im Nürnberger Gefängnis saßen, der Prozeß gemacht/vor Gericht gestellt. Hess war entschieden exzentrisch und hatte sich ganz offensichtlich schon seit langem in seine eigene Welt zurückgezogen. Nun konnte er nach Belieben die beiden Seiten seiner Persönlichkeit ausleben, 'den Märtyrer und den Possenreißer' (! Übersetzt !), wie Speer diagnostizierte. Außerdem entdeckte er Symptome sowohl von Größenwahnsinn als auch von Paranoia.

Für die nächste Familien-Offenbarung sorgte Speers älterer und einzig überlebender Bruder Hermann, der Albert am 2. Juli 1947 einen trügerisch aufmunternden Besuch im Gefängnis abstattete. Hermann hatte schon immer für Schwierigkeiten gesorgt. Er und Speers jüngerer Bruder Ernst (vermißt in Stalingrad) waren sowohl von der Mutter als auch vom Vater bevorzugt worden und hatten den einsamen mittleren Bruder Albert außen vor gelassen. Auch Hermann war in der Schule sehr gut gewesen, hatte als Teenager Talent zur Poesie bewiesen und Schülerpreise gewonnen. Er besuchte ein Internat, was in Deutschland nur wenige Kindern taten, und wurde im Umgang mit Albert noch exzentrischer. Im Alter von achtzehn Jahren war Hermann ein begeistertes Fanclub-Mitglied (CIRCLE OF ADMIRERS) des Dichters Stefan George, mit dem er eine adoleszente Liebesaffäre hatte. Als der Schriftsteller Hermann den Laufpaß gab, war seine Jugend zerstört und artete, abermals in bezug auf Albert, beinahe in Wahnsinn aus. In den späten Zwanziger Jahren heiratete er schließlich eine etwas ältere Frau mit dem Rufnamen Gustl (eine Verniedlichungsform von Augusta). Sie war ein offener, starker, agiler Typ, der Albert sehr beeindruckte. Hermann jedoch war nicht in der Lage, sein Studium zu bewältigen oder häuslich zu werden, und 1933 wurde seinetwegen eine ordentliche Anzeige (FORMAL COMPLAINT) bei der Polizei erstattet (auf Grund welchen Delikts ist nicht bekannt). Anstatt ihn vor Gericht zu stellen, wurde Hermann zur Untersuchung in eine psychiatrische Klinik geschickt, wo eine Beschäftigungstherapie in Form von körperlicher Arbeit empfohlen wurde. Albert sagte, er habe mit Beginn der Nazi-Karriere seinen Einfluß geltend gemacht, um Hermann zu protegieren.

Hermann trat den Arbeitsdienst an, aber nur, um sich nach einer Weile wieder zu verdrücken. Um die Einberufung zum Militärdienst kam er herum, indem er verschiedentlich für die Deutsche Arbeitsfront und das Reichsministerium für Ernährung arbeitete. Während des Kriegs wurde er von Zeit zu Zeit in Alberts Bewußtsein gerufen, nämlich immer dann, wenn andere versuchten, Hermann zu benutzen, um den mächtigen Bruder zu beeinflussen; einmal probierte Hermann, für einen Industriellen eine größere Eisenration/lieferung zu erwirken. Da Albert Speer in dieser Beziehung nicht korrumpierbar war, verloren die Heuchler/Schmeichler und Drahtzieher (MANIPULATORS) bald das Interesse und Hermann wurde soetwas wie ein Taugenichts, der im Wesentlichen von den Zuwendungen seiner Mutter abhing. Neidisch auf seinen erfolgreichen Bruder, verbündete er sich mit dessen Feinden. Sie hatten sich nie gegenseitig leiden können, doch als Hermann ihn besuchen kam, vielleicht um sich heimlich daran zu erfreuen, daß der allmächtige Bruder am Ende doch zu Fall gekommen war, schaffte er es, die drei Stunden mit Frohsinn und Optimismus über die Zukunft des Gefangenen auszufüllen. Niemals zuvor oder danach verstanden sich die beiden so gut; Hermann sollte seinen Bruder in den kommenden Jahren allerdings noch so manche Kopfschmerzen bereiten. FUßNOTE (4)

Was es auch immer für Schwierigkeiten mit Herman gab, im Sommer 1947 war Albert Speer mit sich selbst durchaus zufrieden. Er konnte seinem Mithäftling Raeder nur zustimmen, wenn dieser bemerkte, daß Speer sich besser als jeder andere angepaßt habe und auch ausgeglichener sei. Im Januar vertraute er dem gedeihenden wenn auch lückenhaften Tagebuch sein 'eigentliches Problem' an - nämlich daß ihn jeder gern habe, angefangen bei seinem Lehrer Tessenow, über seinen Mentor Hitler, den Ankläger Jackson, die Richter, bis hin zu den Wärtern... Eine atemberaubende Selbstgefälligkeit. Seiner unverwundbaren Eitelkeit konnte auch ein Gutachten über ihn - erstellt von Dr. Douglas Kelley, einem Gefängnis-Psychiater in Nürnberg - nichts anhaben. Kelley hielt Speer für 'einen der servilsten' und zugleich intelligentesten Häftlinge, für einen guten Architekten und einen Workaholic, verklemmt aber aufrichtig, 'ein Rennpferd mit Scheuklappen'. Dies war natürlich Wasser auf die Mühlen seiner Behauptung, von den nazistischen Greueltaten nichts gewußt zu haben, und auch auf die Mühlen seines kultivierten Selbstbildes als eines 'bekennenden' Ehrenmannes von außergewöhnlicher Intelligenz.

 

Am 18. Juli 1947 wurden die sieben Häftlinge um vier Uhr morgens vom Gepolter einer platoonstarken Anzahl amerikanischer Armeestiefel und vom Öffnen der Zellentüren geweckt. Sie hatten nur wenige Augenblicke Zeit, ihre paar Habseligkeiten zusammenzupacken, dann wurden sie in das Gefängnisbüro eskortiert, wo sie eine Tasse Kaffee zu trinken bekamen. Ein Schuß löste sich - es handelte sich jedoch lediglich um einen ungeschickten GI, der sich aus Versehen selbst in den Fuß geschossen hatte. Jeder Gefangene wurde mit Handschellen an einen Soldaten gefesselt, die Gruppe in zwei schwerbewachte Militär-Ambulanzen verfrachtet und zum Fürther Flugplatz transportiert. Dort stiegen sie für den kurzen Flug nach Berlin in eine Dakota um, wo man ihnen die Handschellen wieder abnahm. Da der Horizont ihrer Welt seit knapp zwei Jahren an der Mauer des Nürnberger Gefängnishofes geendet hatte, erhielten sie durch die Fenster der Ambulanz und des Flugzeuges nun ihre ersten aufregenden Eindrücke von der Außenwelt. Während ihr Flugzeug vor der Landung in Tempelhof eine Schleife flog, war Speer besonders vom Anblick des von den Trümmern geräumten Berlins aus der Vogelperspektive fasziniert. Nachdem man ihnen abermals Handschellen angelegt hatte, wurden sie in einen Bus mit geschwärzten Fenstern gepfercht und Richtung Westen in ihre neue Heimat gefahren. Den Umzug hatte man aus Sicherheitsgründen nicht bekanntgegeben, deshalb verpaßte Speer einen Besuch Margrets, die vorgehabt hatte, nach Nürnberg zu kommen, sich die teure Reise nach Berlin dann jedoch nicht leisten konnte.

Das Spandauer Gefängnis war im britischen Sektor, am westlichen Stadtrand des besetzten Berlin gelegen, und zwar vom Zentrum aus gesehen auf der anderen Seite des Olympiastadions. Das Hauptquartier der britischen Militärbehörden befand sich in der Arena. Somit lag das Zuchthaus schön weit abseits vom Innenstadtverkehr und angenehm nah am britischen Militär-Krankenhaus. Das Gefängnis, das sich in der Wilhelmstraße befand (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen 'Botschafts-Zeile' in Berlin-Mitte), war aus rotbraunem gehärtetem Backstein errichtet, ein Baustil, wie er im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert bei öffentlichen Gebäuden in Deutschland häufig Verwendung fand - die Ausnahme, die jene Regel bestätigt, derzufolge die Deutschen nicht mit Backstein bauen, wenn es sich vermeiden läßt. Es handelte sich dabei eigentlich um ein Militärgefängnis, das in den Folgen des Französisch-Preussischen Krieges von 1870 gebaut wurde und wies die Grundrisse eines Kreuzes auf, so, als hätte es ursprünglich eine Kirche werden sollen. 1919 wurde es für zivile Zwecke umfunktioniert, 1939 aber einerseits wieder als Militärgefängnis genutzt, andererseits als Zwischenstation für Häftlinge auf dem Weg in die Konzentrationslager. Die Exekutionskammer konnte sowohl zum Guillotinieren als auch zum Erhängen verwendet werden und wurde während des Krieges sehr stark frequentiert (einer Quelle zufolge fanden dort innerhalb von sechs Jahren 12.000 Hinrichtungen statt). Es gab 132 Zellen, jede mit fließendem Wasser, einen Gang mit fünf Todeszellen sowie zwölf Gemeinschafts/Sammelzellen, was eine Kapazität von insgesamt 600 ergibt.

Die vier Siegermächte hatten es, während die Verfahren noch schwebten, ausschließlich für diejenigen vorgesehen, die bei den Nürnberger Hauptverhandlungen zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden, benötigten dann jedoch anderthalb Jahre, um die Modalitäten festzulegen, auf deren Grundlage die in der Britischen Zone befindlichen 'Spandauer Sieben' von allen vier Mächten kontrolliert werden konnten. Man mag an dieser Stelle anmerken, daß das Gefängnis mit einer unangebrachten, ja verdächtigen Hast von den Engländern abgerissen wurde, nachdem man den letzten Häftling, Rudolf Hess, am 17. August 1987 in einer Gartenlaube tot aufgefunden hatte - er war damals dreiundneunzig Jahre alt. Es heißt, der alte Exzentriker habe sich mit einem Stromkabel erdrosselt, das anderthalb Meter über dem Boden an einem Fenstergriff befestigt war.

Englische Militär-Techniker präparierten das Gefängnis für seine neue, politisch hochbrisante Rolle, wobei man deutsche Arbeiter beschäftigte (die laufenden Kosten wurden von 1945 bis zur Zerstörung von der Westberliner Zivilverwaltung (CIVIL ADMINISTRATION) getragen). Das Erdgeschoß des Hauptzellentrakts wurde zu einer in sich abgeschlossenen Einheit umgebaut; den Rest des soliden Gebäudes, abgesehen von den Verwaltungseinrichtungen, überließ man den Tauben. Die Armee rodete die Vegetation rings um das Gefängnis, um ein freies Schußfeld zu haben, und zog einen elektrischen Zaun um die Außenmauer, der oben mit Stacheldraht versehen war. Außerdem wurden fünf Wachtürme gebaut. Die Guillotine verschrottete man und funktionierte die Exekutionskammer zu einem Notfall-Krankenzimmer einschließlich Operationstisch um. Die Sperrzone wurde von protzig bewaffneten und unbeschreiblich gelangweilten Truppen der vier Mächte bewacht, die sich jeweils nach einem Monat abwechselten. Jede Macht stellte ihren Gouverneur, der ebenfalls im monatlichen Turnus den Vorsitz führte. Die Gefängnisaufseher der vier Nationen arbeiteten in drei Schichten, wobei die Nationalität alle vierundzwanzig Stunden wechselte. Zusätzlich zu diesen ausgebildeten Gefängniswärtern gab es mehr als zwei Dutzend Zivilbeschäftigte unterschiedlicher Nationalitäten, wie etwa medizinische Fachkräfte, Köche und Wartungspersonal, die fest im Gefängnis angestellt waren. FUßNOTE (5)

Da Speer zufälligerweise der fünfte Häftling war, der das Zuchthaus betrat, erhielt er die Nummer fünf, die er für die nächsten neunzehn Jahre, zwei Monate und dreizehn Tage tragen sollte. Die Gefangenen wurden nackt ausgezogen (bei jedem von ihnen wurde eine Leibesvisitation vorgenommen, ohne daß die anderen etwas sehen konnten), ganz genau so, als ob sie in eines ihrer eigenen Konzentrationslager kamen. Man wies ihnen Bekleidung zu, die genau aus diesen Lagern stammte - allerdings nicht die berüchtigten, schwarz-weiß gestreiften 'Pyjamas', sondern die grobe, einfache Kluft, von jenen Arbeitern getragen, die außerhalb der Lager Zwangsarbeit hatten verrichten müssen. Später gab man ihnen alte gefärbte britische Kampfanzüge; wiederum später erhielten sie braune Kordanzüge. Bei sämtlichen Uniformen waren auf dem Rücken die Nummern der Häftlinge angebracht. Nach der ärztlichen Untersuchung wurde Speer in seine Zelle gebracht, wo er fünf synthetische Decken mit dem Aufdruck 'GBI' aus seinem alten Berliner Generalbauinspektorat vorfand; man hatte sie für die Bautrupps der Kasernen oder Arbeitslager vorgesehen. Wie mit seinem Wehrmachts-Winteranorak in Nürnberg, mußte er nun erstmals die Erfahrung machen, daß die Decken keineswegs wirklich wärmten.

Speers Zelle war vier Meter hoch und wies eine Grundfläche von drei Metern mal 2,70 Metern auf. Das kleine hohe Gitterfenster bestand aus Zelluloid (eine besondere Vorsichtsmaßnahme, um das Auftrennen der Pulsadern zu verhindern, doch die Gefängniswärter hatten trotzdem allen Grund, ständig darauf zu achten, daß niemand einen Selbstmordversuch unternahm). Speer konnte die Wipfel eines Baumes sehen und ein Stückchen vom Himmel. Die Wände waren gelb und die Decke weiß. Die Einrichtung umfaßte einen Tisch (jedoch keinen Stuhl), der einundachtzig mal einundvierzig Zentimeter maß, sowie einen an Fußboden und Wand befestigten, im rechten Winkel zum kurzen, schmalen Bett befindlichen, kleinen türenlosen Schrank mit Einlegebrettern. Außerdem gab es direkt am Eingang eine Toilette (der einzige Punkt in der Zelle, der durch den Spion in der Stahltür nicht zu sehen war). Im Gefängnishof befand sich ein großer, zugewucherter und verwahrloster Garten von rund 6.000 Quadratmetern. Alle Häftlinge erklärten sich bereit, dort zu arbeiten, selbst Hess; man hatte sie jedoch auf Rationen gesetzt, die jeweils denen der deutschen Zivilbevölkerung angeglichen wurden (hinsichtlich der Quantität; die Qualität hing davon ab, welche der Mächte im jeweiligen Monat gerade 'auf dem Tron' saß) und aufgrund dieser geringen Menge litten sie auch schon ohne körperliche Arbeit Hunger.

 

Wie in jeder Institution wurde das Leben selbst mit vier verschiedenen Wachen, Gouverneuren, Wärtern und Speiseplänen bald zur Routine. Um sechs Uhr Aufstehen, Waschen und Anziehen, um halb sieben Frühstück, eine Pfeife mit amerikanischen Tabak; Öffnen der Türen um halb acht, fünfzehn Minuten lang Reinigen der Zellen und Fegen des Korridors, dann, um viertel vor acht, wieder zurück hinter die verschlossen Türen. Anfangs erhielten die Gefängnisinsassen die Erlaubnis, eine halbe Stunde pro Tag nach einem sehr strengen Reglement in den Garten zu gehen, dafür wurde das Licht erst um zehn Uhr abends ausgeschaltet, so daß ihnen viel Zeit zum Lesen blieb. Viel mehr Abwechselung gab es nicht; Besucher, die wie in Nürnberg fast den ganzen Tag bleiben und den einen oder anderen oder mehrere von ihnen zu anderen Gerichtsverhandlungen vernehmen durften, wurden jetzt nicht mehr zugelassen. Die Häftlinge durften anfangs nur alle zwei Monate einen fünfzehnminütigen Besuch von einem Familienangehörigen empfangen und pro Monat jeweils einen Brief schreiben sowie einen erhalten. Speer hatte das Schreiben in den ersten paar Monaten so gut wie aufgegeben, und Margret konnte es sich nicht leisten, ihn zu besuchen. Die unvermeidliche Depression, die sich unter den Haftinsassen ausbreitete, wurde mit Hilfe einer Beschäftigungstherapie bekämpft: Man gestattete ihnen, im Garten zu arbeiten - wenn sie Lust hatten, den ganzen Tag. Dies erwies sich als heilsame/s Entgegenkommen/Gnade.

 

Häftling Nummer fünf erlebte drei Monate nach seiner Ankunft in Spandau einen doppelten Fortschritt seines Geistes und seiner allgemeinen Moral. Mitte Oktober 1947 wendete sich sein Schicksal innerhalb von nur vier Tagen dank zweier junger Männer aus ehemals nationalsozialistisch okkupierten/besetzten Ländern, die Arbeit in Spandau gefunden hatten.

Alle Spandauer Sieben waren Protestanten, zumindest formal. Rein statistisch, wenn man sich die Teilung des deutschen Christentums nach der Reformation vor Augen führt, hätte man wenigstens zwei Angehörige der Römisch-Katholischen Kirche erwarten dürfen, doch sie alle waren evangelisch-lutherischer Konfession, die in Deutschland die zahlenmäßig stärkste Gruppe darstellte. Mehrere Häftlinge beschwerten sich in den ersten Tagen über das Fehlen eines Gottesdienstes oder auch nur eines Kaplans; beides hatte ihnen in Nürnberg zur Verfügung gestanden. Die Sowjets hielten sich aus diesem Problem heraus und die Angloamerikaner konnten unter ihren Militärkaplänen keinen deutschsprechenden protestantischen Kleriker ausfindig machen. Insofern fiel ausgerechnet der einzigen offiziell römisch-katholischen Macht die Aufgabe zu, einen evangelischen Geistlichen aufzutreiben: Geoges Casalis, Pastor der hugenottischen Minorität in der französischen Zone, seinerzeit dreißig Jahre alt, sollte als Kaplan in Spandau Dienst tun. Monsieur Casalis, der verheiratet war, besaß all die gewissenhaften und fleißigen Eigenschaften der Calvinisten, deren grausame und törichte Vertreibung aus Frankreich, anno 1685, allen Nachbarn zu großem Vorteil gereicht hatte; er war auch in der R‚sistance gewesen, eine Tatsache, die ihm bei den alliierten Militärs einmütigen Respekt einbrachte.

In einem Raum, der von einem nackten Zellenpaar, aus der man die Zwischenwände entfernt hatte, in eine Kapelle verwandelt worden war, hielt er am 11. Oktober, einem Samstag, seinen ersten einfachen Gottesdienst ab. Seine Requisiten bestanden aus einem hölzernen Wandkreuz, einem Standard-Gefängnistisch und einer Bibel. Hess war (angeblich) der einzige, der dieser Veranstaltung fern blieb; er besuchte sie nie. Mit einer formellen schwarzen Soutane bekleidet schüttelte Casalis jedem der sechs Mitglieder seiner sonderbaren Gemeinde die Hand und hielt sodann eine Predigt über die Segregation der Leprakranken im biblischen Israel. Kein Wunder, daß einige Häftlinge, vor allem die beiden Admiräle, ihm dies persönlich übel nahmen und noch Tage danach beleidigt waren. Obgleich Speer nichts davon erwähnt und den Namen von Monsieur Casalis nicht im Register seiner Spandauer Tagebücher aufnahm, unterhielt er sich damals, und von da an jede Woche, nach dem Gottesdienst mit dem Franzosen. Für die drei Jahre, die er in Berlin und in Spandau arbeitete wurde der Pastor in der Tat soetwas wie sein geistlicher Berater. FUßNOTE (6)

Casalis empfahl Speer bald, die Werke von Professor Karl Barth, einem Schweizer wie Calvin selbst, zu lesen, der die theologischen und moralischen Lehren des Calvinismus reformierte (und 1935 lieber aus Deutschland nach Hause zurückgekehrt war, als den Treueschwur auf Hitler zu leisten). Eines seiner Schwerpunktthemen war die Gottlosigkeit der Menschen, die behaupten, daß nicht Gott sondern sie selbst das Zentrum des Universums seien. Seine Publikationen waren sowohl quantitativ als auch qualitativ von erster Güte; sein Hauptwerk war die "Kirchliche Dogmatik", dessen deutscher Text 9.000 Seiten umfaßt (die ab 1932 veröffentlicht wurden; bis zu seinem Tod im Jahre 1968 fügte er ständig welche hinzu).

Wir wissen nicht, was Speer aus diesem dicken Wälzer für sich herausgezogen hat, aber der Umstand, daß er es zu den insgesamt 5.000 Arbeiten rechnete, die er im Laufe seines zwanzigjährigen Zuchthausaufenthalts gelesen hatte, rechtfertigt einen näheren Blick auf diese Behauptung. Wenn man von insgesamt 7.500 Tagen ausgeht, an denen Speer Bücher las (Nürnberg plus Spandau), dann bedeutet dies zwei Titel alle drei Tage, vermutlich 250 Druckseiten pro Tag. Selbst wenn man annimmt, daß er durch seine Arbeitsweise ein schneller Leser wurde, müßte das mitunter enorme Pensum beim Schreiben, bei der Gartenarbeit und bei anderen Aktivitäten seine potentielle Lesezeit drastisch eingeschränkt haben. Bei seiner Literatur muß man zwischen solch dicken Bänden wie den Barth, Werken über Architektur, Reiseführern oder anderen Sachbüchern und leichter Lektüre (in späteren Jahren auch Zeitungen) unterscheiden. Er mag in all diesen Büchern, die hauptsächlich aus Berlins öffentlichen Bibliotheken entliehen wurden, geschmökert haben aber er kann unmöglich mit allen Büchern das getan haben, was man gemeinhin unter dem Wort 'durchlesen' versteht. Die Behauptung sieht verdächtig nach einer weiteren kleinen Übertreibung aus.

Jedenfalls hat es den Anschein, als habe Casalis Speer zum Nachdenken über die großen Fragen des Lebens animiert, und er muß ihm geholfen haben, sich mit der dauerhaften Gefangenschaft abzufinden, von der es heißt, daß die meisten Menschen unwiederbringlich verändert werden, wenn sie länger als neun Jahre eingesperrt sind. Da Speer zweifellos im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Fähigkeiten war und keine allzu starken Symptome von 'Gefängnisfieber' zeigte, muß die frühe Zeitspanne unter den französischen Fittichen seines religiösen Mentors für den Prozeß der Anpassung von entscheidender Bedeutung gewesen sein. Was Speer auch immer Casalis schuldete - und er gestand gegenüber Gitta Sereny ein, daß es sehr viel war -, er war nicht im Stande, sich dafür erkenntlich zu zeigen. Was die Einteilung seines Lebens und Denkens in Kategorien anbelangt, so war Speer außergewöhnlich bewandert: Casalis Zweck bestand in seinen geistlichen Ratschlägen und in seiner nützlichen Schulung für das kontemplative Leben, das er anbot. Bei anderen Angelegenheiten, wie zum Beispiel bei seinen schriftstellerischen Ambitionen und ähnlichem Zeitvertreib, genoß er hingegen nicht sein Vertrauen. Ein Beichtvater war der Franzose nicht.

Von außerordentlichem Wert für Speers Programm der Anpassung an die Bedingungen der Quasi-Einzelhaft war das Angebot einer Rettungsleine von völlig anderer und durch und durch praktischer Art: Ein permanenter, heimlicher, unzensierter Weg der Kommunikation mit der Außenwelt und dem Netzwerk, das längst zur Verfügung stand, ihn zu unterstützen. Die Gelegenheit ergab sich am 14. Oktober ganz aus heiterem Himmel, als Speer von einem Holländer angesprochen wurde, der sich in seinen Tagebüchern hinter dem Pseudonym Anton Vlaer verbirgt. Sein wirklicher Name war Toni Proost, der 1924 in Flushing geboren wurde und ein seltsamer junger Mann gewesen sein muß.

Es stellte sich heraus, daß er einer von den Millionen Menschen gewesen war, die unter dem Reichsminister für Bewaffnung und Munition in einem Berliner Munitionswerk gearbeitet hatten. Er war zwangsverpflichtet worden (als die neutralen Niederlande 1940 von den Deutschen überrant wurden, war er gerade erst sechzehn Jahre alt). Laut seinem früheren Arbeitgeber, dem er sich anvertraute, war Proost aufgrund irgendeiner Erkrankung in ein Berliner Lazarett eingeliefert (das vor dem Krieg auf Speers Geheiß für Bauarbeiter errichtet wurde) und dort gut behandelt worden; vorübergehend hatte ihn sogar die Familie des Krankenhaus-Chefarztes 'adoptiert', der in Speers Tagebüchern den Namen Dr. Heinz trägt. Nach seiner Genesung blieb Proost für den Rest des Krieges im Krankenhaus und erlernte den Beruf des Krankenpflegers. Für Spandau hatte man ihn zusammen mit einem älteren Kollegen namens Jan Boon rekrutiert: Beide Männer beschlossen, in Berlin zu bleiben, weil sie mit deutschen Frauen verheiratet waren. Dies war eine höchst ungewöhnliche Entscheidung für einen ausländischen Ex-Zwangsarbeiter, die es normalerweise gar nicht abwarten konnten, den deutschen Staub von ihren Schuhen zu wischen und endlich wieder nach Hause zu kommen. Wie die nachfolgenden Ereignisse zeigen sollten, war Proosts Frau Irmgard, geborene Unger, der stärkere von den beiden. Der Job brachte eine Wohnung innerhalb des Gefängnisgebäudes mit sich.

Speer bediente sich seiner unbezahlbaren neuen Geheimverbindung zur Außenwelt anfangs nur spärlich, da er sich mehr Erleichterung von dem Wissen ob der Möglichkeit versprach als davon, diese Möglichkeit gleich am Anfang überzustrapazieren. Immerhin war er in der Lage, sein Kassiber (KURSIV) auf Krepp-Toilettenpapier zu schreiben und dem Holländer zuzustecken, während dieser seinen Rundgang mit dem Erste-Hilfe-Köfferchen machte. Alle sieben Zuchthäusler, machten früher oder später einen solch geheimen Kanal ausfindig und nutzten ihn mit zunehmender Dreistigkeit aus, sogar Hess. Nach einer Weile schienen die Spandauer Sieben mit Alkohol zumeist gut versorgt zu sein. Manchmal war er von der feinsten Sorte, selbst wenn er in Arzneiflaschen geliefert wurde und man ihn aus Emaillekrügen trinken mußte.

Das Abkommen/Arrangement zwischen Speer und Proost, das mehr als zehn Jahre lang Bestand haben sollte, ergab Speers Hauptkanal, aber nicht seinen einzigen. Auch die ideenreiche Frau Kempf, die sich bei ihrem ersten Besuch in Nürnberg ohne mit der Wimper zu zucken als Reporterin Zutritt ins Gefängnis verschafft hatte, fand bald ihre eigenen Mittel und Wege, ihrem Ersatzvater Nachrichten zukommen zu lassen. Und Speer, ganz der vorausschauende Opportunist, vermied es, einem einzelnen Boten all seine kostbaren Reflexionen anzuvertrauen. Geschäfte zu machen, lag in der Natur eines Holländers wie Proost, obgleich das Verhältnis zwischen ihm und Speer nicht ausschließlich kommerziellen Charakter hatte. Proost war mit einer Frau verheiratet, die noch mehr an Geld interessiert war als er selbst. Sie und das Baby, Bernd, galt es zu versorgen, und die Umstände waren nicht eben leicht. Speer hatte zu jener Zeit keinen Zugang zu Bargeld, und seine Frau hatte es schwer, sich durchzuschlagen; immerhin verfügte die Familie über einige Aktivposten, wie etwa das Grundstück in der Kronprinzessinnenstraße 21 in Berlin-Schlachtensee, sofern man es zu Geld machen konnte. Auf jeden Fall war er in der Position desjenigen, der Hoffnungen wecken kann - und in den 'schwarzen' Briefen an Margret, die er ihr nun zusätzlich zu den offiziell gestatteten allmonatlichen Briefen schicken konnte, handfeste/praktische Vereinbarungen zu treffen. Auch knüpfte er eine geheime Korrespondenz mit seinen Kindern an. Dabei handelte es sich um eine Reihe trostspendender Briefe, die er mit dem wortspielerischen Namen 'Spanische Illustrierte' versah, und Zeichnungen enthielten, die das Leben im Gefängnis zum Gegenstand hatten.

Langsam aber sicher verbesserten sich die Umstände auch in anderen kleinen Beziehungen. Die Häftlinge mußten die alliierten Offiziere und Wärter militärisch grüßen und durften nicht reden, weder untereinander noch mit den Wachen, es sei denn man forderte sie dazu auf. Doch das französische und (erstaunlicherweise) auch das russische Personal ignorierte dieses Reglement bald, während sich ihre disziplinierteren englischsprachigen Kollegen nicht auf diese inoffizielle Neuregelung einlassen konnten. Ebenso wurden die Zellentüren häufig offen gelassen wenn sie laut Vorschrift hätten verschlossen sein müssen.

Unmittelbar vor dem ersten Weihnachtsfest in Spandau, geriet Speer die unerwartete Visite eines Wachmanns in Panik; er warf seine aktuellen Notizen und sämtliches leeres 'Schreibpapier' in die Toilette und spülte alles hinunter. Speers heimliches Schreibpensum war enorm, und die Bedingungen, unter denen er schrieb, hastig und heimlich zugleich, wirkten sich entsprechend auf seine Schrift aus. Glücklicherweise bediente er sich nicht jener entsetzlichen 'altdeutschen' Schreibweise, wie es ihm zumindest ein Kritiker fälschlicherweise vorgeworfen hatte (ein auf Grund der Unleserlichkeit seiner Handschrift verzeihlicher Lapsus). Es gab jedoch Phasen, wo er dies durchaus hätte tun können, nämlich dann, wenn er so viele verkrampfte Wörter wie möglich auf irgendeinen qualitativ schlechten Papierfetzen quetschte. Das geschah jedoch in den Anfangstagen, noch ehe der Strom an Schreibmaterial anschwoll und mit der Flut von Wörtern konkurrierte. Unter normalen Umständen befleißigte sich Speer einer durchschnittlichen kontinentalen Handschrift mit großen, engen und ein bißchen spitzen Buchstaben. Wolters war froh, daß er das Problem der Entzifferung auf seine Sekretärin abwälzen konnte. Marion Riesser, in ihrer Eigenschaft als Haupt-'Übersetzerin' der Kassiber (KURSIV) -Produktion/Erzeugnisse (Output), war Speer bald genauso ergeben wie ihr Arbeitgeber und Frau Kempf. Sie transkribierte die Notizen sehr sparsam auf jenes kostbare Zwiebelhautpapier beziehungsweise auf das blaue Luftpost-Schreibmaschinenpapier, indem sie die Blätter beidseitig, einzeilig und mit schmalstmöglichem Seitenrand beschrieb. Das Lesen ihrer Fassung bereitete einem deshalb genauso viele Kopfschmerzen wie das Brüten über dem verkrampften Original.

Frau Riesser war der Ansicht, daß sie Albert Speer ihr Leben schuldete - eine Empfindung, die vermutlich nicht oder kaum übertrieben war. Sie war jüdischer Abstammung väterlicherseits (ihr Vater, ein wissenschaftlicher Mediziner, war nach Holland geflüchtet und hatte sich während des Krieges dort bei Freunden versteckt); ihre jüdische Großmutter, die Witwe eines Geheimen Staatsrates (PRIVY COUNCILLOR) war in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert worden und nie mehr zurückgekommen. Den Familienbesitz hatte man auf Anordnung Speers, in seiner Funktion als Generalbauinspektor (GBI) niedergerissen. Dies war Teil seines Vertreibungsprogrammes gewesen, mit dem das marmorne Herz der Germania von den Juden gesäubert wurde. Wenn es aber einen Aspekt gibt, der unbestreitbar zu Speers Gunsten spricht, dann den, daß er von den rassischen, religiösen oder politischen 'Makeln' ('Makel' aus Sicht der Nazis; Wolters nannte sie Webfehler (KURSIV)) seiner Mitarbeiter keine Notiz nahm, solange diese ihre Arbeit gewissenhaft erledigten. Marion Riesser leitete ein Sekretariat mit drei Mitarbeiterinnen, das den repräsentativen und schreiberischen Zwecken Dr. Wolters' diente. Ihre Aufgabe bestand in erster Linie im Abtippen der Chroniken (nicht bloß einmal sondern zweimal, wie sich zeigen wird). Aufgrund der beträchtlichen Menge an zusätzlicher Arbeit, für die Wolters sie zu einer 'Schlüsselfigur' in Speers Lebenserhaltungssystem erhob, avancierte ihre Arbeit zumindest teilweise zu einer ehrenamtlichen Tätigkeit. Ihr gebräuchlicher Spitzname nach dem kindischen Code der schwarzen Korrespondenz lautete Rießling, ein weiteres schwaches Wortspiel, beziehungsweise Spätlese (KURSIV) (eine Weinsorte, die sich durch eine besondere Süße auszeichnet... für Speer waren Frauen dazu da, um sie zu beschützen).

 

 

Speers panikartiges Herunterspülen seines Schreibmaterials hatte indes niemand bemerkt; es ist erstaunlich, daß er im Laufe der gesamten zwanzig Jahre kein einziges Mal beim oftmals fieberhaften Kritzeln in seiner Zelle erwischt wurde, umso mehr, als die Sicherheitsvorkehren von seiner Seite aus diverse Lücken aufwiesen. Das erste Weihnachtsfest ist einzig und allein deshalb erwähnenswert, weil es gemäß Gefängnisordnung erlaubt war, Musik zu machen (Walther Funk spielte auf einem Harmonium, das man ihm besorgt hatte). Weihnachtspakete von der Familie waren untersagt, und so tröstete Speer sich mit einem kleinen architektonischen Zeichenkunststück - einem Haus. Zum ersten Mal seit Jahren war er wieder seinem Beruf nachgegangen.

Das Neue Jahr 1948 begann für die Spandauer Sieben recht vielversprechend mit einer ansehnlichen Erhöhung/Anhebung der Essens- und Brennstoffrationen. Wie sich in einem kurzem Experiment gezeigt hatte, wurde den Häftlingen spürbar wärmer in ihren Zellen, wenn man sie damit beschäftigte, Briefumschläge herzustellen. Ob er es wußte oder nicht, mit seinem damals wiederaufkeimenden Interesse an der Architektur handelte sich Speer laut Wolters' Protollen eine empfindliche Demütigung ein. Wolters hatte an Dr. Rudolf Pfister, den Verleger der Architekturzeitschrift Baumeister (KURSIV) geschrieben und in Speers Namen um ein Abonnement gebeten. Pfister erwiderte großkotzig, daß seine Zeitschrift wegen der Papierrationierung nur eine geringe Auflage habe, welche den Architekten und Studenten vorbehalten sei. Sie sei nicht für die Unterhaltung von Leuten wie Speer gedacht:

'Ich bin der Meinung, daß Heer Speer sein Recht, als Architekt zu praktizieren, vollständig verwirkt hat; desweiteren habe ich ihn nie für einen guten Architekten gehalten, was er auch bestimmt/gewiß nicht ist.' (! ÜBERSETZT ! - ANGEBL. HAT KOLF BZW. BAUDISCH ORIGINAL-ZITAT!) FUßNOTE (7)

 

Im März 1948 rechnete Speer aus, daß er zwanzig Kilogramm Untergewicht hatte, nichtsdestotrotz arbeitete er sehr hart im Garten, wodurch er im Laufe weniger Jahre mehr als alle anderen dazu beitrug, ihn neu zu gestalten, zu bepflanzen und in einen Miniaturpark zu verwandeln. Zusätzlich las er fünf Stunden täglich und zeichnete auch noch. Margret hatte eine einstündige Besuchszeit zusammengespart, also die jährliche Berechtigung von vier vierteljährlichen Viertelstunden, und beabsichtigte, im Mai nach Berlin zu fahren. Doch Speer bat Casalis, er möge sie dringend ersuchen, nicht zu kommen. Aus den Tagebüchern wird nicht unmittelbar ersichtlich, ob sie dieser Bitte nachkam. In der gedruckten Fassung findet sie bis Ende 1948 nicht einmal eine namentliche Erwähnung, und auch danach nur als Reminiszenz an die Zeit vor dem Krieg. Proost jedoch wurde, wenn Speer in der Laune war, seine Erinnerungen aufzuschreiben, als Postbote immer häufiger in Anspruch genommen. Gleichzeitig fungierte die tüchtige Annemarie Kempf auf seine und Wolters' Anregung hin (die beiden standen noch nicht in direktem Kontakt miteinander) als Verwalterin (COLLATOR) und Umschlagplatz (CLEARING HOUSE) der stetig wachsenden Korrespondenzen Speers. Sie überredete Margret, ihr alles auszuhändigen, was diese aus Spandau erhalten habe, so daß Speers zunehmende Botschaften und Wünsche koordiniert und an die entsprechende Adresse zur Bearbeitung weitergeleitet werden konnten. Bald war sie in der Lage, angeforderte Dokumente ins Gefängnis schmuggeln zu lassen, und selbst größere Gegenstände wie Bücher, Flaschen und sogar Dosen mit Beluga-Kaviar stellten binnen kurzer Zeit keine Herausforderung mehr da.

 

In der Zwischenzeit hatte Wolters am 1. September 1949 einen wichtigen Schritt für Speer unternommen: Er war zur Volksbank in Coesfeld gegangen und hatte auf seinen eigenen Namen ein Konto mit der Nummer 2390 eröffnet. Frau Riesser, seine bis dahin und fürderhin über viele Jahre geliebte Sekretärin, wurde autorisiert, das Konto zu verwalten, Gelder einzuzahlen und Schecks zu unterzeichnen. Die beiden Männer standen immer noch nicht in direktem Kontakt miteinander, aber Wolters unternahm beachtliche Anstrengungen (und übte moralischen Druck aus) um dieses 'Schulgeldkonto', wie er es immer nannte, auftragsgemäß zu füllen. Die Bezeichnung 'Schulgeldkonto' entsprach übrigens ihrer ursprünglichen Bestimmung, der großen Familie Speers durch die Ausbildung hindurch unter die Arme zu greifen, und auch ihm selbst. Privatschulen waren in Deutschland so gut wie unbekannt und bis zum Alter von neunzehn Jahren war die Ausbildung umsonst (das Studium mußte entweder von den Eltern oder mittels staatlicher Darlehen finanziert werden), das Anfallen zusätzlicher Kosten war indes unvermeidbar, und Geld konnte Gretel immer gebrauchen.

Als sich die Einzahlungen häuften, avancierte das Schulgeldkonto (KURSIV) zum Albert-Speer-Unterhalts-und-Wohltätigkeitsfonds, der die verschiedensten Kosten deckte: Ausgaben der Familie, Zahlungen an Proost und andere Boten, Urlaube für Frau Kempf sowie Unterstützungen und sogar Bestechungen von Leuten, die im Rahmen gerichtlicher Angelegenheiten oder im Rahmen von Kampagnen zu seiner vorzeitigen Entlassung für ihn arbeiteten. Er verfuhr mit dem Geld als hätte er es selbst verdient, und besaß das Recht, es ganz nach Belieben auszugeben. Im Psychologenjargon der nächsten/nachfolgenden Generation war Speer ein 'Kontroll-Freak', das tritt nirgends deutlicher zu Tage als in den zum Schulkonto gehörenden Hauptbüchern (LEDGERS) und Unterstützungskorrespondenzen (SUPPORTING KORRESPONDENCE), die von Wolters, als Teil seines Vermächtnisses an die deutschen Archive, alle sorgfältig für die Nachwelt aufgehoben wurden. Speer bediente sich des anfänglich bescheidenen Kontos fast vom selben Augenblick an, da er von dessen Existenz wußte, um seine Familie und andere Menschen zu manipulieren.

Die Gelder für das Konto beschaffte Wolters, indem er Speers frühere Kollegen aus Architektenkreisen, aus der Industrie und seinem Ministerium einlud beziehungsweise aufforderte, entweder eine einmalige Zahlung oder, was noch besser war, einen regelmäßigen monatlichen Beitrag zwischen zehn und zwanzig Mark in Form eines Dauerauftrags zu leisten. Letzten Endes überzeugte sie das Argument, daß sie ihm etwas schuldig seien - schließlich seien sie jener Gefängnisstrafe entgangen, die er nun teilweise auch an ihrer Stelle in einem sehr realen Sinn abzusitzen habe. Ab Dezember 1949 erhielt Speers Gattin bereits jeden Monat zweihundert Mark, in der neuen harten Währung ein recht stattliches Sümmchen. (Die Einführung der neuen Währung anno 1948 hatte die sowjetische Blockade Westberlins verursacht; und die daraufhin errichtete Luftbrücke der Westalliierten donnerte monatelang über das Gefängnis dahin.)

Die Häftlinge waren nicht im Stande, innerhalb des Gefängnisses enge Freundschaften zu schließen. Funk, freundlich und schwächlich, kam mit Schirach und Raeder jeweils hinlänglich gut aus, doch Raeder disputierte mit seinem ehemaligen Marinekamerad, Dönitz, der ihn ausgebootet hatte, diskutierten unentwegt über die Leitung jenes von Dönitz durchgeführten U-Boot-Einsatzes. Speer schließlich vertrug sich am besten mit Neurath. Sie und die beiden Admiräle waren stets sehr beschäftigt, während die restlichen drei, insbesondere Hess, zur Untätigkeit neigten. Ihnen allen wurde das Angebot unterbreitet, ihr Mittagessen gemeinsam in der Gruppe einzunehmen, doch sie lehnten es ab. Auch redeten sie sich gegenseitig immer noch mit 'Herr' und dem jeweiligen Zunamen an. Titel wurden nicht genannt; allerdings legte man Wert auf die Rangordnung des Dritten Reichs (was zu Reibereien zwischen Dönitz, dem Nachfolger Hitlers, und Hess, Hitlers Stellvertreter, führte). Glücklicherweise ist die deutsche Sprache gut geeignet, andere auf Distanz zu halten.

Durch die Berlin-Blockade konnte Margret ihre für den Februar geplante Reise nicht antreten, aber nachdem sie im Mai wieder aufgehoben worden war, besuchte Margret Mitte Juni 1949 ihren Mann. Lediglich aus Anlaß dieses Treffens erfahren wir aus dem Tagebuch, daß es sich dabei um die erste Begegnung handelte, seit sie in jener ungewissen Phase vor drei Jahren in Nürnberg auf das Urteil gewartet hatten. Speer konnte seine Aufmerksamkeit lange genug von der gewohnten Konzentration auf sich selbst ablenken, um sich der Tatsache bewußt zu werden, daß der Besuch auch für sie eine Feuerprobe bedeutete, obgleich sie besser aussah als er sie in Erinnerung hatte. Sie brachte ihm eine neue Pfeife mit, ein geduldeter Luxus, über den er sich zunehmend freute; er legte sich eine riesige Sammlung teurer Pfeifen zu, wobei er sich spezifische Designs/Formen solch kostspieliger Marken wie Dunnhill und Petersen anschaffte/besorgte, bis ihn neuerliche Lungenbeschwerden zwangen, das Rauchen aufzugeben.

Die Welt außerhalb des Zuchthauses erlebte im Mai 1949 in Westdeutschland die Gründung der Bundesrepublik und im Oktober im sowjetischen Osten die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik. Dr. Konrad Adenauer, früher antinazistischer Bürgermeister von Köln und Vorsitzender der konservativen Christlich' Demokratischen Union, wurde erster Nachkriegskanzler an der Spitze einer Mitte-Rechts-Koalition. Die dramatisch zunehmende Erkaltung der Ost-West-Beziehungen - symbolisiert durch die endgültig Teilung eines bereits gestutzten Deutschlands -, wurde von den Gefängnisinsassen als unmittelbare Bedrohung ihrer Interessen empfunden. Es kursierten Gerüchte, daß sie im Falle eines Totalzusammenbruchs der Ost-West-Beziehungen jeweils derjenigen Macht ausgeliefert würden, die sie gefangen genommen hatte. Die Krise wurde auch als Rechtfertigung des verspäteten Naziversuchs gesehen, gegen Ende des Konflikts Zwietracht unter den Kriegsalliierten zu sähen.

Der Ausbruch des Koreakrieges im Sommer 1950 und die daraus erwachsende Konfrontation zwischen den kommunistischen und westlichen Mächten jagte ebenfalls einen Schauer durch die Gefängnismauern, der allerdings mehr die Gefangenen ergriff als deren Wachen, die es schafften, ihrer Arbeit nachzugehen, ohne daß es zu Handgreiflichkeiten kam. Margret besuchte ihren Mann nun alle drei Monate, doch es mangelte den Zusammenkünften, die im Beisein der Wachen stattfanden, so sehr an spontaner Wärme, daß es selbst dem unspontanen Speer aufstieß: Er notierte sich die nicht übermäßig scharfsinnige Wahrnehmung, derzufolge seine eigene Strafe auch die ihre war. Obwohl die Begegnung verhältnismäßig angenehm verlaufen war, erlitt er im Anschluß an ihren Besuch im Februar 1950 einen weiteren Anfall von Herzattacken (PALPITATIONS). Auch Hess hatte mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Er erlitt einen erneuten Anfall von Amnesie, der mehr als drei Monate lang anhielt - ob er simuliert oder echt war, konnte niemand sagen.

Nachdem die Bundesrepublik mit den Westalliierten in den fünfziger Jahren einen Bündnisvertrag gegen den Sowjetblock ab-/geschlossen hatte, wurde die zweite deutsche Demokratie allmählich anerkannt. Und als man begriff, daß ein potentieller dritter europäischer Konflikt auf deutschem Territorium würde ausgetragen werden, entbrannte auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze ein Wettrüsten, bei dem Deutschland den beiden opponierenden Blöcken als Stützpunkt der vordersten Front diente. Doch es gab auch Erfreuliches: Hilde Speer, sein zweitältestes und vermutlich bevorzugtes Kind, geboren 1936, gewann ein einjähriges Schülerstipendium für New England in den Vereinigten Staaten. Speer erfuhr davon im März 1952; im Juni verweigerte man ihr seinetwegen das Visum, aber schon eine Woche später ließen sich die Amerikaner erweichen, und im Juli reiste sie ab.

Speers gelegentliche Erwähungen Wolters' in seinen Briefen an Margret hatten jenen im Frühjahr 1951 veranlaßt/ermutigt, ein Kassiber (KURSIV) nach Spandau zu schicken. In den fünf Jahren war dies Wolters' erste derartige Aktivität gewesen. Aus irgendeinem Grunde vertrat er die Ansicht, daß der gesamte Nürnberger Prozeßmarathon irrtümlich und ungerecht verlaufen sei, daß Hitler für die Dinge, bei denen er richtig gehandelt habe - Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen - nicht entsprechend gewürdigt, daß die Darstellungen des nazistischen Genozids um einen Faktor von mindestens zehn übertrieben und daß Deutschland im Allgemeinen sehr grausam von den Siegern behandelt worden sei. Andererseits verfügte er sowohl über einen lebhaften Sinn für Humor als auch über ein ganz undeutsches Gefühl für Ironie. Wie seine Briefe und anderen Schriften bezeugen, hatte Wolters eine Art, mit Worten umzugehen und ein gesundes Verständnis/Gespür für die deutsche Kultur. Dies befähigte ihn, mit Größe, Tiefe und Geist zu schreiben - viel lesbarer als die Werke seines Mentors und langjährigen Briefpartners in Spandau. In seinem ersten Brief regte er an, Speer solle an seinen Memoiren weiterarbeiten, aber Speer hatte ohnedies bereits angefangen, in seinem Gedächtnis zu kramen/wühlen und einige seiner Erinnerungen aufzuschreiben.

Der Weggang Casalis' im Juni 1950 hinterließ in den Tagebüchern keinen Kommentar (ein Umstand, der, wie oft angemerkt, in keiner Relation zur Bedeutung eines für Speer emotional signifikanten Ereignisses stand). Im selben Maße, in dem er versuchte, den Weggang seines geistlichen Meisters/Lotsen zu kompensieren oder zu verdrängen, widmete er sich nun der Gartenarbeit, und zwar begeisterter und kontinuierlicher als jeder andere Häftling. Auch zwang er sich im Herbst 1949 zu regelmäßiger Körperertüchtigung, in erster Linie zum Wandern. Eine weitere, im Frühling 1951 entwickelte Strategie, die Langeweile zu bekämpfen, bestand in einem halbjährlichen 'Urlaub': Zwei Wochen so viel Schlaf wie möglich, unterstützt durch Schlaftabletten. Im Laufe dieser 'Schlafkur' ernteten die Bemühungen des Netzwerks, Unterstützung für die vorzeitige Entlassung Speers zu erhalten, ihre ersten sichtbaren Früchte; Annemarie Kempf erhielt einen Brief mit einer Sympathiebekundung von Paul Nitze, seinerzeit Direktor der politischen Planung (Policy Planning) im US State Department, sechs Jahre zuvor jedoch einer von Speers Befragern im Rahmen des strategischen Bombardierungsgutachtens (STRATEGIC BOMBING SURVEY).

Unter denjenigen, die Wolters für die gemeinsame Sache hatte gewinnen können, befand sich auch sein Rechtsanwalt Werner Schütz. Schütz lebte in Düsseldorf, wo Wolters ein Architekturbüro unterhielt, da die nordrhein-westfälische Landesregierung häufig Aufträge an ihn vergab und war enger politischer Mitarbeiter von Adenauer. Später wurde er dann Kultusminister desjenigen Bundeslandes, in dem er mitgeholfen hatte, die regionale CDU zu gründen. Der ungeheuer dicke und zugleich ungeheuer intelligente Jurist war von Wolters angehalten worden, sich inoffiziell für Speer einzusetzen (der innerhalb des Gefängnisses nicht das Recht hatte, ein gerichtliches Verfahren einzuleiten). Man bot ihm für seine Auslagen ein Honorar aus dem Schulgeldfonds an, aber er lehnte ab; eine Zeitlang stellte Wolters trotzdem mehrere Tausend Mark als Anreiz bereit, damit Schütz bei diversen Leuten als Fürsprecher auftrat. So zum Beispiel bei Adenauer, der sich indifferent zeigte, bei Bundespräsident Theodor Heuss, der ablehnte und bei dessen Nachfolger, Heinrich Lübke, der während des Krieges in Speers Baustab gearbeitet hatte, gegenüber den Spandauer Sieben allerdings die sowjetische Kompromißlosigkeit als Entschuldigung für seine Untätigkeit anführte. Schütz' ehrbare Weigerung, auch nur einen Pfennig anzunehmen, bedeutete, daß das Geld Hilde Speer zufließen konnte, um sich neben dem Studium für ihren Vater einzusetzen.

Speers Angelegenheiten versorgten in den frühen Fünfziger Jahren gleich mehrere Juristen mit Arbeit. Otto Kranzbühler, der begabte Marineanwalt, der Dönitz' Verteidigung in Nürnberg geführt hatte, leitete nun gerichtliche Schritte für die Wiederaufnahme der Verfahren vor allem von Großadmiral Dönitz und von Speer ein; Ende Januar 1952 schaffte er es, in dieser Sache bei Adenauer persönlich vorstellig zu werden. General Hans Seidel, einst Rommels Stabschef, dann erster deutscher General, der zu einem Oberkommandierenden der Nato ernannt/berufen wurde, machte sich sowohl in Bonn als auch auf Nato-Ebene für die vorzeitige Entlassungs-Kampagne stark.

Dr. Flächsner, der Speer verteidigt hatte, war seit Frühjahr 1950, als die Entnazifizierungsverfahren gegen seine Klienten eingeleitet wurden, erneut für ihn tätig. Während des größten Teils der nachfolgenden Dekade und darüber hinaus mußte Speer damit rechnen, als persönlichen Beitrag zur Sühne und Wiedergutmachung der Naziverbrechen seines Familienvermögens enteignet zu werden. Dies stellte eine echte Gefahr für Margret und die Kinder dar und bedeutete, daß sich Wolters, der im Sommer 1950 angefangen hatte, eidesstattliche Erklärungen für Speer zu sammeln, noch mehr für sie ins Zeug legen mußte. Ein kränkelnder Professor Tessenow sagte aus, daß Speer ihm während des Krieges Schutz gewährt habe, und Professor Paul Bonatz Hannover erklärte, daß Speer ihn, wie so viele andere politisch suspekte Personen im Reichsministerium auch, protegiert habe. Ein weiterer ehemaliger Ministeriumsangestellter bescheinigte Speer die Rettung von Kunstwerken vor den Russen, indem er sie 1949 aus Berlin in Richtung Westen habe herausschaffen lassen. Ein alter Mitarbeiter des Reichsministeriums bestätigte Speer dezidierten Widerstand gegen die 'Verbrannte Erde'. Ein Amerikaner, der als Repräsentant eines 'Komitees für internationale Gerechtigkeit' (Commitee for international Justice) auftrat, schrieb Margret aus New Jersey und versprach ihr Hilfe bei der Freilassung sämtlicher Deutscher, die sich noch wegen Kriegsverbrechen in Haft befänden. Das Time (KURSIV) Magazine stellte im Juni 1952 Nachforschungen über jene neue rechtsgerichtete Aktionsgruppe an, die Speer selbst bereits zurecht als für seine Sache latent schädlich identifiziert hatte.

Eine empfindsame Leni Riefenstahl, Regisseurin des umstrittensten Dokumentarfilms der Nazi-Ära, sagte in einem Brief aus Rom, der auf den 29. Juni 1952 datiert ist, ihre Unterstützung zu - womöglich durch die Tatsache beeinflußt, daß sie selbst einem ähnlichen Prozeß ausgesetzt war:

"Ich bin so betrübt über das schreckliche Los, das ihn ereilt hat, und kann einfach nicht glauben, daß dieser Mann keine Arbeit mehr bekommen soll. Ein Zauber wird ihn eines Tages erlösen; ich kenne keine Persönlichkeit, die mich so sehr beeindruckt hat wie Speer, sowohl vom Ethischen als auch als Genie. Ich trage bei mir noch ein Bild von ihm - wenn er doch nur die Kraft hat, durchzuhalten." (! ÜBERSETZT ! - ANGEBL. HAT KOLF BZW. BAUDISCH ORIGINAL-ZITAT!)

Frau Kempf, die Empfängerin dieses überschwenglichen Geständnisses, verließ Eutin, wo sie bei der Kinderfürsorge (CHILD-CARE) gearbeitet hatte, um in Bonn ab September 1950 einen Posten als Sekretärin eines Bundestagsabgeordneten zu bekleiden - ein zweckdienlicher Schritt zur Beeinflussung von Bundesabgeordneten. Während in der Zwischenzeit die eidesstattlichen Erklärungen hereinströmten, häuften sich auch die Spenden für den Schulfonds an, und zwar in solchem Ausmaß, daß Wolters Margrets monatliche Zuwendungen im Oktober auf 300 Mark und im November nochmals auf 350 Mark aufstocken konnte. Mit Geldern des Fonds wurden auch die Gerichtskosten gedeckt. Außerdem erhielt Karl Cliever 100 Mark - zu Kriegszeiten ein Assistent von Speer, dem es nun sehr schlecht ging.

Während all die bereits erwähnten Anstrengungen des Netzwerks unternommen wurden, breitete sich der Sommer 1952 als eine Zeit vielgestaltiger familiärer Schwierigkeiten über Häftling Nummer fünf aus. Den schlechten und dann wieder guten Neuigkeiten über Hildes Visum für die Vereinigten Staaten, eine Aussicht, die ihren Vater in heftige Aufregung versetzte, folgten zwölf Tage später die traurige Nachricht, daß seine Mutter, Luise Mathilde Speer, am 24. Juni gestorben war. Obwohl man ihn Ende Mai von ihrem Schlaganfall unterrichtet, und obwohl die harte alte Dame ihrem mittleren Sohn niemals Liebe entgegengebracht hatte (anstelle dessen, als er berühmt geworden war, eine gehörige Portion Stolz), bedauerte Speer den Umstand, sie seit April 1945 nicht mehr gesehen zu haben. Die distanzierte Beziehung zu ihr in seiner Kindheit und danach, war zweifellos einer der Hauptfaktoren, die der emotionalen Unnahbarkeit Speers und seinem gleichsam manipulativen Charme zugrunde lagen. Eine Depression stellte sich ein. Wie Annemarie Kempf Wolters gegenüber klagte, hatte Speers älterer Bruder Hermann während der letzten Lebensmonate seiner Mutter irgendwelche Probleme verursacht: Sie beschrieb sein Verhalten als 'Mangel an Mäßigung', wobei sie das ursprünglich davorgesetzte Adjektiv 'sadistisch/er', wieder durchgestrichen hatte. Einen Monat später, im Juli 1952, wußte sie allerdings zu berichten, daß sich Gretel und Hermann nach dem Tode von Frau Speer wieder ausgesöhnt hätten. FUßNOTE (8)

Hilde verbrachte unterdessen eine herrliche/wunderbare Zeit auf der anderen Seite des Atlantiks. Sie kleidete sich nach der Mode des Luxusliners United States (KURSIV), dem damals schicksten Passagierdampfer, und lebte bei einer wohlhabenden Quäkerfamilie im Norden des US-Bundesstaates New York. Nach einer Weile bestand sie die erste Demarche als Gesandte ihres Vaters: Sie knüpfte eine Verbindung mit jenem Mann an, dem sie das Visum für ihr einjähriges amerikanisches Stipendium verdankte: John J. McCloy. McCloy war von 1949 bis 1952 amerikanischer Hochkommissar in Westdeutschland gewesen, als die alliierte Kontrollkommission, der er vorsaß, sich selbst abwickelte und ihren verbliebenes Potential an Souveränität in die Hände Bonns legte. Anschließend wurde er Vorsitzender einer Bostoner Bank. Die McCloys luden das bezaubernde junge Mädchen zum Tee ein und waren tüchtig/gehörig von ihr beeindruckt; McCloy versicherte, er sei davon überzeugt, daß man Speer einen Teil seiner überlangen Strafe erlassen könnte. Obwohl diese Neuigkeiten seiner Tochter nichts Konkretes bedeuteten, vermochten sie Speer im Herbst 1992 ungeheuer aufzurichten/bauen. Er profitierte jetzt vom Postzustellungsdienst eines amerikanischen Gefängniswärters, eines Sergeanten, dessen Vorname Frederick war (das Geheimnis seiner Identität nahm Speer mit ins Grab). Die Belohnung dieses Mannes könnte der Bauplan für eine Art Ranch gewesen sein, den Speer gezeichnet und 'einem freundlichen US-Sergeanten' gegeben hatte.

Sowohl für Speer als auch für seine Tochter war es im Jahr 1953 ein dramatisches Unterfangen, außerhalb des deutschen Lebens zu stehen, egal aus welchem Anlaß. Wie isoliert die Häftlinge tatsächlich waren, beweist ihre fieberhafte Aufregung gegen Ende Januar. Die Ursache war ein fantastisches Komplott zu ihrer Befreiung und zur Bildung einer neuen, postnazistischen Regierung unter Dönitz gewesen. Der Mann, den man dafür verantwortlich machte, hieß Otto Skorzeny, ein ehemaliger SS-Oberst (COLONEL) und Deutschlands erfolgreichster Befehlshaber im Krieg. Er hatte sowohl Mussolini als auch Horthy, den ungarischen Faschistenführer, befreit, und war in der Ardennenschlacht mit einen gewagten Sturm hinter die amerikanischen Linien ein/vorgedrungen. Aber Skorzeny, der von der Anklage des Kriegsverbrechens freigesprochen worden und dann, während er auf ein weiteres Verfahren wegen anderer Beschuldigungen wartete, aus der Untersuchungshaft geflohen war, betrieb seelenruhig ein Import-Export-Geschäft in Spanien und stritt jedes Wissen über einen Hubschrauber-Angriff auf Spandau ab. Auch hofften die Gefangenen im März vergeblich, als sie von Stalins Tod hörten, ihr Los würde sich verbessern. Daß dieses erfreuliche Ereignis keineswegs angetan war, die politischen Spannungen im Ostblock oder zwischen Ost und West zu lösen/lockern, beweist/bewies die tragische Niederschlagung des Arbeiteraufstandes im Juni in Ostdeutschland, als sowjetische Panzer mithalfen, die Revolte zu ersticken. Das gleiche sollten sie einige Jahre später auch wieder in Polen, Ungarn und in der Tschechoslowakei tun.

Zur selben Zeit versuchte Albert Speer, den möglichen Konsequenzen eines Entnazifizierungsverfahrens (das immer noch vorbereitet wurde) auszuweichen, indem er die elterliche Erbschaft zu gleichen Teilen seinen sechs Kindern überschrieb. Für jedes von ihnen wurden ungefähr 60.000 Mark angelegt, wobei Speer davon ausging, daß jedes Kind durchschnittlich 30.000 Mark benötige, um einen qualifizierten Abschluß zu erlangen, und dann nochmal denselben Betrag als Reserve besitze. Er ließ seiner Familie auch weiterhin Geld aus dem Schulfonds zukommen, obschon Margret, seit Dezember 1953 wieder im heimatlichen Familienbesitz in Heidelberg lebend, ihre monatliche Beihilfe aus freien Stücken halbierte, da sie es vorzog, durch die Aufnahme von Untermietern selbst etwas zu verdienen. Im Gegensatz dazu stellte Hermann Speer nach wie vor ein Ärgernis dar und schien ganz versessen darauf, seinen Erbanteil, den er schon vor der Auszahlung kräftig beliehen hatte, mit beiden/vollen Händen zum Fenster hinauszuwerfen. Speer hatte es bereits im August 1952 aufgegeben, seinem mißratenen Bruder unter die Arme zu greifen; mehr als zwanzig Jahre später tat er es immer noch. FUßNOTE (9)

Hilde Speer hielt ihren Vater über ihre Aktivitäten in den Vereinigten Staaten stets auf dem Laufenden. Eine davon war der beachtliche, von McCloy nachgeholfene, Coup eines Zusammentreffens mit Dean Acheson, dem von 1947 bis 1953 amtierenden Staatssekretär, auf den sie ebenfalls einen nachhaltig positiven Eindruck gemacht hatte. Im Mai schrieb Speer ihr in übereifrig väterlicher Manier, sie solle beiden State-Departement-Kontakten Dankesbriefe von ihrer Gastadresse aus schreiben, und zwar - für den Fall, daß die beiden ihr gerne eine Botschaft mitgeben würden - möglichst lange bevor sie im Juli nach Hause führe.

Anfang April 1953 (LAUT SPEER-TAGEBUCH 1952!) kam es im Gefängnis zu einer kleinen, delikat-ironischen Krise, als es sich der amerikanische Direktor in den Kopf setzte, die sieben Kriminellen in die Geheimnisse des Korbflechtens einzuweihen. Wie bereits erwähnt, hatte es früher ein kurzes Experiment gegeben, bei dem die Zuchthäusler herangezogen worden waren, Briefumschläge herzustellen. Scheinbar haben sie diese Zumutung ohne weiteres/Protest geschluckt, doch Korbflechten, jene Art von Beschäftigungstherapie, die normalerweise in Nervenkliniken angewandt wurde, das war zuviel. Am 2. April vertraute Speer seinem Tagebuch an:

'Das ist in unseren Augen diskriminierend und mit dem Urteil von Nürnberg nicht zu vereinbaren. Wir sind nicht zu Zuchthaus oder Zwangsarbeit verurteilt worden (9x KURSIV) (Hervorhebung durch den Autor).' (ZITIERT NACH Speer-Tagebuch, S.281)

 

Die Sieben einigten sich, geschlossen dagegen vorzugehen. Speer bat Wolters, bei Kranzbühler juristischen Rat einzuholen. Dieser ermutigte sie zum höflichen Widerstand, mit der Begründung, es sei ihrem Ruf als 'Gentleman' dienlich, den er als unabdingliche Voraussetzung für eine Amnestie einschätzte. Am 11. April verwarf der Amerikaner seine Idee von der zwangsweisen Korbherstellung - ein seltener Sieg.

 

Kapitel 16