Старуха — Die Alte. Eine „Povest“ von Daniil Charms, aus dem Russischen übertragen von Frank Jankowski
Anstelle einer Einführung zitiere ich aus dem Brief eines Freundes, der die Illustration oben anfertigte, und den ich nicht zuletzt wegen seiner Ähnlichkeit zu Turgenevs ‚Bazarov‘ sehr schätze — oder: Präskriptum, das man unbedingt lesen sollte.
Gestern abend habe ich diese Povest von Daniil Charms gelesen. Ich weiß nicht. Diese Russen scheinen hauptsächlich darauf bedacht zu sein, möglichst viel Hirnverbranntes in ihr ödes, graues Alltagsleben zu mischen, damit es mystisch wird. Irgendwie sind diese ganzen, völlig abgedienten Typen genauso blutleer, wie dieses komische Brot, das wir in Moskau geholt haben. Wer nicht den Draht zum echten Abkacken hat, sollte zumindest so einsichtig sein, nicht alle Leute damit zu belästigen. Hätte Charms einen Aufsatz über die zentrale Funktion der Hypophyse im GEO-Spezial veröffentlicht, hätte man ihn wenigstens für intelligent halten, vielleicht sogar einige Sprachwendungen für interessant halten können, und er hätte seinen Öffentlichkeitsdrang ausgelebt. Ich gehe mal davon aus, daß ich zu dumm bin, das Stück zu verstehen. Aber wovon handelt es eigentlich? Von einem Schriftsteller, der keiner ist, weil er was kann, das er nicht umsetzen kann, also nichts kann, aber könnte, wenn er nicht so realitätsfern wäre und das weiß, aber nichts erlebt, und das, was er erlebt, in seine reichhaltige Zitatensammlung einordnet, was er kann, was jedoch eigentlich unerheblich ist, weil es letztlich doch aussagelos ist, was er wiederum weiß, und auch, daß es anderen ebenso geht… Warum schreibt er nicht von der Frau aus dem Brotladen? Ist das zu banal und nicht intellektuell genug? Immerhin ja wohl das einzige, was wirklich passiert – außer, daß er sich mit einem russischen Freak besäuft, den er siezt. Was sind das für Probleme. Soll er doch abends Gymnastik machen oder morgens kalt duschen. Dann schläft er besser – und ohne Blähungen. Der Mann sollte Dostoevski Dostoevski und Gott Gott sein lassen und sich seine Belesenheit für Partygespräche aufsparen – vielleicht hätte er seine Brotladenfrau so rumgekriegt. Beide (Dostoevski und Gott) werden ihm nicht helfen, seine fettigen Würstchen zu verdauen…
Ich selbst bin davon überzeugt, daß man die Faszination dieser Geschichte vom (angeblichen) Avangardisten Charms nur dann erleben kann, wenn man sich ihr vollkommen losgelöst von jeglicher philologischer Befangenheit hingibt — und somit Breton das Wort redet, der den Surrealismus „ein für Male“ so definierte:
„Surrealismus, Subst., männl. – reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.“
— Stand: 1989 —
Verantwortlich für sämtliche Übersetzungen, Anmerkungen und Zitate: Frank Jankowski. Die Transliteration folgt den damals korrekten wissenschaftlichen Usancen von 1989.
…und zwischen ihnen entspann sich folgendes Gespräch
Hamsun
Auf dem Hof steht eine alte Frau und hält eine Wanduhr in ihren Armen. Ich gehe an der Alten vorbei, halte an und frage „Wie spät ist es?“
„Schauen Sie hin“, sagt die Alte. Ich schaue hin und sehe, daß die Uhr keine Zeiger hat.
„Es sind keine Zeiger dran“, sage ich.
Die Alte schaut auf das Zifferblatt und sagt: „Es ist jetzt Viertel nach zwei.“
„Ach so, vielen Dank“, sage ich und gehe weg. Die Alte ruft mir irgend etwas hinterher, aber ich gehe weiter ohne mich umzudrehen.
Ich gehe raus auf die Straße; gehe auf der sonnenbeschienenen Seite. Die Frühlingssonne ist sehr angenehm. Ich schlendere ein wenig, kneife die Augen zusammen und rauche eine Pfeife. An der Ecke Sadovijstraße begegnet mir ganz zufällig Sakerdon Michajlovitsch. Wir begrüßen uns, bleiben stehen und unterhalten uns eine Weile. Es wird mir lästig, auf der Straße zu stehen und ich schlage Sakerdon Michajlovitsch vor, in eine Kellerkneipe zu gehen.
Wir trinken Wodka und essen zur besseren Bekömmlichkeit ein hartgekochtes Ei mit Sprotte dazu, dann verabschieden wir uns, und ich gehe allein weiter. Da fällt mir plötzlich ein, daß ich vergessen habe, den Elektroherd abzustellen. Das ärgert mich sehr. Ich gehe nach Hause.
Der Tag hat so gut begonnen, und hier schon das erste Mißgeschick. Ich hätte nicht rausgehen sollen.
Ich komme nach Hause, lege die Joppe ab, ziehe die Uhr aus der Westentasche und hänge sie an einen kleinen Nagel; danach schließe ich die Tür ab und lege mich auf die Schlafcouch. Ich werde ein bißchen liegenbleiben, und versuchen einzuschlafen. Von der Straße hört man das widerwärtige Krakelen kleiner Jungs. Ich liege da und denke mir eine Hinrichtungsmethode für sie aus. Am besten würde mir gefallen, ihnen einen Starrkrampf anzuhexen, damit sie auf der Stelle aufhören sich zu bewegen. Einer nach dem anderen werden sie dann von ihren Eltern nach Hause geschleppt. Sie liegen in ihren Betten und sind nicht einmal im Stande zu essen, weil sie ihre Münder nicht aufkriegen. Sie werden künstlich ernährt. Nach einer Woche vergeht der Starrkrampf, aber die Kinder sind so schwach, daß sie noch einen vollen Monat das Bett hüten müssen. Und wenn sie dann ganz allmählich genesen sind, dann hänge ich ihnen einen zweiten Starrkrampf an, und alle müssen krepiere.
Ich liege mit geschlossenen Augen auf der Schlafcouch und kann nicht einschlafen. Ich erinnere mich an die Alte mit der Uhr, die ich heute Morgen im Hof gesehen habe, und es verschafft mir ein angenehmes Gefühl, daß ihre Uhr keine Zeiger hatte. Wenn man bedenkt, daß ich neulich in der Pfandleihe ganz scheußliche Küchenuhren gesehen hatte, deren Zeiger als Messer und Gabel gemacht waren! Mein Gott! Jetzt habe ich den Elektroherd immer noch nicht abgestelt. Ich springe auf und schalte ihn aus, dann lege ich mich wieder auf die Schlafcouch und bemühe mich einzuschlafen. Ich schließe die Augen. Ich bin gar nicht müde.
Die Frühlingssonne scheint durchs Fenster direkt auf mich. Mir wird warm. Ich stehe auf und setze mich in den Sessel am Fenster. Jetzt bin ich zwar müde, will aber nicht mehr schlafen. Ich nehme mir Papier und Füllfederhalter um zu schreiben. Ich spüre eine eigenartige Kraft in mir. Ich habe gestern schon alles gründlich durchdacht. Es wird eine Erzählung über einen Wundertäter, der in der heutigen Zeit lebt, jedoch keine Wunder vollbringt. Er weiß, daß er ein Wunderäter ist und kann jedes beliebige Wunder vollbringen, aber er tut es nicht. Er wird aus seiner Wohnung geschmissen, und er weiß, daß es ihn ledigich ein Achselzucken kosten würde und er die Wohnung behalten könnte., aber tut es nicht, er zieht gehorsam aus, und lebt vor der Stadt in einer Scheune. Er könnte diese Scheune in ein herrliches Ziegelsteinhaus verwandeln, aber er tut es nicht, er lebt weiter in der Scheune und stirbt letzten Endes, ohne im Laufe seines Lebens auch nur ein einziges Wunder vollbracht zu haben.
Ich sitze da und reibe mir vor lauter Freude die Hände. Sakerdon Michajlovitsch wird vor Neid erblassen. Er denkt, daß ich nicht mehr fähig bin, geniale Sachen zu schreiben. Schnell, schnell an die Arbeit! Nieder mit jeglichem Schlaf und jeglicher Faulheit. Ich werde achtzehn Stunden in eins durchschreiben. Mein Körper vibriert förmlich vor lauter Ungeduld. Ich kann mich nicht entscheiden, was ich machen soll. Ich müßte mir Füllfederhalter und Papier vornehmen, und ich ergriff auch allerlei Gegenstände allerdings ganz und gar nicht die, die ich benötigte. Ich lief in der Stube hin und her: Vom Fenster zum Stuhl, vom Stuhl zum Ofen, vom Ofen wieder zum Stuhl, dann wieder zum Divan und wieder zum Fenster. Ich erstickte beinahe an dem Feuer das in meiner Brust loderte. Jetzt ist es erst fünf Uhr. Der Tag liegt noch vor mir, und außerdem der ganze Abend und die ganze Nacht…
Ich stehe in der Mitte der Stube. Wo habe Ich denn nur meine Gedanken? Es ist ja schon zwanzig nach fünf. Ich muß schreiben. Ich rücke den Stuhl ans Fenster und setze mich darauf. Vor mir das karierte Papier, in meiner Hand der Füllfederhalter.
Mein Herz schlägt noch zu heftig und meine Hand zittert. Ich warte, um mich ein bißchen m beruhigen. Ich lege den Füllfederhalter hin und stopfe die Pfeife. Die Sonne scheint mir direkt in die Augen. Ich kneife die Augen zusammen, und stecke mir die Pfeife an.
Da fliegt ein Rabe am Fenster vorbei. Ich schaue aus dem Fenster und sehe, wie ein Mann mit einer Beinprothese den Bürgersteig entlanggeht. Sein Bein und sein Stock verursachen laute Klopfgeräusche. „Schau an!“, sage ich zu mir selbst und schaue weiter aus dem Fenster. Der Schatten eines Schornsteins fällt vom Dach, und legt sich quer über die Straße bis auf mein Gesicht. Ich muß den Schatten ausnutzen und ein paar Worte über den Wundertäter schreiben. Ich nehme den Füllfederhalter und schreibe: „Der Wundertäter war von hohem Wuchs.“
Ansonsten schreibe ich nichts ich kann nicht. Ich bleibe solange sitzen, bis sich der Hunger meldet. Alsdann stehe ich auf, gehe zu dem Schränkchen wo ich die Vorräte aufbewahre und stöbere darin herum , kann jedoch nichts finden. Eine Zuckerdose, sonst nichts.
Es klopft jemand an die Tür. „Wer ist da?“. Niemand antwortet mir. Ich mache die Tür auf und erkenne vor mir die alte Frau, die morgens mit der Uhr auf dem Hof gestanden hat. „So, da bin ich!“, sagt die Alte und tritt ein. Ich stehe an der Tür und weiß nicht was ich machen soll: Die Alte rauswerfen, oder genau das Gegenteil, ihr einen Sitzplatz anbieten? Aber die Alte geht einfach zu meinem Sessel vor dem Fenster und setzt sich hinein. „Mach die Tür zu und schließ ab!“, sagt die Alte zu mir. Ich mache sie zu und schließe ab. „Knie nieder!“, sagt die Alte. Und ich kniee mich hin. Aber da wird mir die ganze Unsinnigkeit meiner Handlung bewußt. Wozu knie ich vor einer x-beliebigen alten Frau nieder? Ja, und wieso befindet sich diese Alte überhaupt in meiner Wohnung und sitzt in meinem Lieblingssessel. Warum werfe ich die Alte nicht einfach raus? „Hören Sie doch mal“, sage ich, „mit welchem Recht verfügen Sie hier über meine Stube und kommandieren mich auch noch herum? Ich will überhaupt nicht niederknien.“
„Und mußt es auch gar nicht“, sagt die Alte, „Jetzt wirst Du Dich nämlich auf den Bauch legen mit dem Gesicht fest auf den Fußboden!“ Ich führte den Befehl sogleich aus. Vor meinen Augen erscheinen wahrhaftig gezeichnete Quadrate. Schmerzen in der Schulter und in der rechten Hüfte hindern mich daran, die Stellung zu verändern. Ich lag mit dem Gesicht nach unten, und komme nun mit größter Anstrengung wieder hoch auf die Kniee. Meine sämtlichen Glieder waren eingeschlafen und arg verkrümmt. Ich schaue herum und sehe mich selbst in meiner Stube knien mitten auf dem Fußboden. Langsam erlange ich das Bewußtsein und das Gedächtnis wieder. Ich blicke noch einmal in der Stube umher und sehe, daß im Sessel am Fenster scheinbar jemand sitzt. In der Stube ist es einigermaßen hell, denn es müßte gerade die Zeit der weißen Nächte sein. Ich schaue mich aufmerksam um. Mein Gott! Ist es möglich, daß die Alte noch in meinem Sessel sitzt? Ja, natürlich, da sitzt die Alte, der Kopf ist ihr auf die Brust gesunken. Möglicherweise ist sie eingeschlafen. Ich richte mich auf und gehe leicht hinkend zu ihr. Der Kopf der Alten ist auf die Brust gesunken und ihre Arme hängen schlaff über der Sessellehne. Am liebsten würde ich die Alte packen und hinauswerfen. „Hören Sie!“, sage ich, „Sie befinden sich in meiner Wohnung. Ich habe zu arbeiten. Ich bitte Sie jetzt zu gehen.“ Die Alte bewegt sich nicht. Ich beuge mich hinunter und schaue der Alten ins Gesicht. Aus ihrem halbgeöffneten Mund ragt ein abgesprungenes künstliches Gebiß hervor. Und plötzlich wird mir alles klar: Die Alte ist gestorben. Ein seltsames Gefühl von Ärger erfaßt mich. Wozu ist sie in meiner Wohnung gestorben? Ich kann keine Toten ertragen. Jetzt muß ich mich auch noch mit diesem Kadaver abmühen geh, sprich mit dem Hausmeister und mit dem Hausverwalter, erklär ihnen warum sich die Alte plötzlich bei Dir befand. Ich blicke die Alte haßerfüllt an. Aber Vielleicht ist sie ja gar nicht gestorben? Ich befühle ihre Stirn. Die Stirn ist kalt. Ihre Hand ebenfalls. Was soll ich denn nun machen? Ich stecke mir eine Pfeife an und setze mich auf die Schlafcouch. Eine wahnsinnige, Wut steigt in mir hoch. „Da hast Du’s Du Schlampe!“, sage ich laut. Die tote Alte sitzt wie ein Sack in meinem Sessel. Ihre Zähne ragen aus dem Mund. Sie hat Ähnlichkeit mit einem toten Pferd. „Widerlicher Anblick!‘, sage ich und doch kann ich sie unmöglich mit einer Zeitung bedecken, weil…wer weiß, was dann unter der Zeitung vor sich geht.
Hinter der Wand höre ich Geräusche. Es ist mein Nachbar, der aufsteht ein Lokomotivführer. Das hätte mir gerade noch gefehlt, daß der Wind davon bekommt, daß in meiner Stube eine tote alte Frau sitzt. Ich lausche den Schritten meines Nachbarn. Worauf wartet er denn? Es ist bereits halb sechs. Er müßte doch längst weg sein. Mein Gott er will Tee trinken. Ich höre, wie er hinter der dünnen Wand mit dem Petroleumkocher klappert. Ach würde doch dieser verfluchte Lokführer nur endlich abhauen. Ich hieve meine Beine auf die Couch und liege da. Es vergehen acht Minuten, aber der Tee meines Nachbar ist immer noch nicht fertig, und der Petroleumkocher klappert nach wie vor. Ich schließe die Augen und schlummere ein.
Ich träume, daß mein Nachbar weggeht, ich mit ihm zusammen hinausgehe und meine Tür mit dem französischen Schloß zuschlage. Ich habe keinen Schlüssel, kann nicht mehr zurück in die Wohnung. Ich müßte klingeln und damit die anderen Mitbewohner aufwecken aber das ist nun wirklich ausgeschossen. Ich stehe auf dem Teppenabsatz, überlege was ich tun soll, und plötzlich merke ich, daß ich keine Hände habe. Ich neige nach vorne, um besser sehen zu können, ob ich noch Arme habe und stelle fest, daß aus der einen Seite meines Rumpfes anstelle von einem Arm ein Tischbein herausragt, und aus der anderen eine Gabel. „Hier“, sage ich zu Sakerdon Michajlowitsch, der unerklärlicherweise plötzlich auf einem Klappstuhl sitzt. „Hier, sehen Sie“, sage ich zu ihm, „was für Arme ich habe! Aber Sakerdon Michajlowitsch sitzt schweigend da, und ich sehe, daß es gar nicht der echte Sakerdon Michajlowitsch ist, sondern einer aus Ton.
Ich schrecke auf und mir ist sofort klar, daß ich in meiner Stube auf der Couch liege, und die tote Alte im Sessel am Fenster sitzt.
Ich drehe mich schnell zu ihr hin. Die Alte sitzt nicht mehr im Sessel. Ich betrachte den leeren Sessel und eine wilde Freude erfüllt mich. Das bedeutet, daß alles ein Traum war, Aber wo hat er denn begonnen? Ob die Alte gestern in meine Wohnung gekommen ist? Möglicherweise war ja auch das nur ein Traum. Ich bin gestern zurück gegangen, weil ich vergessen hatte, den Elektroherd abzuschalten. Aber vielleicht war ja auch das ein Traum. Wie dem auch sei; gut daß in meiner Stube keine tote alte Frau sitzt. Und das bedeutet ja auch, daß ich nicht zum Hausverwalter gehen, und mich nicht mit der Toten abplagen muß. Aber wie lange habe ich denn bloß geschlafen? Ich schaute auf die Uhr: Halb neun wahrscheinlich morgens. Meine Güte, was man sich nicht alles zusammenträumt. Ich ließ meine Beine von der Schlafcouch gleiten und schickte mich an aufzustehen, als ich plötzlich die tote Alte erblickte, wie sie auf dem Boden unter dem Tisch beim Sessel lag. Sie lag auf dem Rücken, und das künstliche Gebiß, das ihr aus dem Mund gefallen war, stakte der Alten mit einem Zahn im Nasenloch. Ihre Arme waren irgendwie unter den Rumpf geraten, so daß man sie nicht sehen konnte, und unter dem umgestülpten Rock lugten knochige Seine in schmutzigweißen Wollstrümpfen hervor. „Schlampe!“, schrie ich, rannte zu der Alten und versetzte ihr mit dem Stiefel einen Tritt unters Kinn. Das künstliche Gebiß flog im hohen Bogen in eine Ecke. Ich wollte der Alten noch einen Hieb versetzen, befürchtete jedoch, daß an ihrem Körper Merkmale zurückbleiben könnten, die andere dann auch noch zu dem Schluß veranlassen könnten, ich hätte sie ermordet.
Ich ließ von der Alten ab, setzte mich auf die Couch und steckte mir eine Pfeife an. So vergingen zwanzig Minuten. Dann kam ich langsam zu der Überzeugung, daß es mir einerlei sein konnte, ob man die ganze Angelegenheit einer Untersuchungskommission übergab und ob mich der Hampelmann, der die Ermittlungen führen würde, eines Mordes bezichtigte oder nicht. Dennoch war die Situation ziemlich prekär und dann auch noch der Tritt mit dem Stiefel. Abermals ging ich zu der Alten, beugte mich zu ihr runter und machte mich daran ihr Gesicht zu untersuchen. An ihrem Kinn war ein kleiner dunkler Fleck. Nein, daran war nichts zu rütteln. Aber wer weiß, die Alte könnte sich ja auch an irgend etwas gestoßen haben als sie noch lebte. Ich beruhigte mich ein wenig. Eine Pfeife rauchend und meine Lage überdenkend, fing ich an, in der Stube umherzuwandern. Ich wandere so lange in der Stube umher, bis sich der Hunger meldet, der immer unerträglicher wird. Vor lauter Hunger fange ich sogar an zu zittern. Und noch einmal durchstöbere ich das Schränkchen, wo ich meine Vorräte aufbewahre, finde jedoch nichts außer der Zuckerdose. Ich hole meine Brieftasche hervor und zähle das Geld. Elf Rubel. Das bedeutet, daß ich mir Schinkenwürste und Brot kaufen kann und dann noch ein bißchen für Tabak übrigbleibt. Ich zupfe die in der Nacht verknautschte Krawatte wieder zurecht, nehme die Taschenuhr, ziehe die Joppe über, gehe hinaus in den Korridor, schließe sorgfältig meine Stubentür ab, lege den Schlüssel in meine Börse und gehe hinaus auf die Straße. Vor allem muß ich jetzt unbedingt etwas essen, dann werden die Gedanken klarer; und hinterher werde ich mich dann mit der Leiche befassen.
Auf dem Weg zum Laden beschleicht mich die Idee, einen kurzen Abstecher zu Sakerdon Michajlovitsch zu machen und ihm alles zu erzählen, vielleicht würden gemeinsam schneller eine Lösung finden. Aber ich verbanne diesen Gedanken sofort wieder aus meinem Kopf, weil man gewisse Angelegenheiten eben allein regeln muß – ohne Zeugen. In dem Laden gab es keine Schinkenwürste, und so kaufte ich mir ein halbes Kilo Sardelken. Tabak hatten sie auch nicht. Vom Laden ging ich direkt in eine Bäckerei. In der Bäckerei waren eine Menge Leute, und an der Kasse stand eine lange Schlange. Ich blickte unwillkürlich finster drein, mußte mich aber trotzdem hinten anstellen. Die Schlange kam nur sehr langsam voran, und dann ging es schließlich überhaupt nicht mehr weiter, weil an der Kasse irgendein Krawall entstanden war. Ich tat, als bemerke ich nichts von all dem und betrachtete den Rücken einer jungen Frau, die vor mir in der Schlange stand. Das Fräulein war offenbar sehr neugierig: Sie reckte den Hals bald nach rechts, bald nach links und stand ständig auf den Zehenspitzen um besser sehen zu können, was an der Kasse vor sich ging. Schließlich drehte sie sich nach mir um und fragte „Wissen Sie zufällig, was da los ist?“ – „Sie werden verzeihen, nein.“, sagte ich so trocken wie möglich. Das Fräulein reckte sich eine Weile nach verschiedenen Seiten und wandte sich dann wieder mir zu: „Könnten Sie nicht mal hingehen um herauszufinden, was dort vor sich geht?“ – „Verzeihen Sie, das interessiert mich im Geringsten“, sagte ich noch trockener. „Wie, das interessiert Sie nicht?“, rief das Fräulein aus, „Aber Sie werden doch selbst aufgehalten!“. Ich erwiderte nichts, verneigte mich nur leicht. Das Fräulein musterte mich aufmerksam. „Es ist natürlich keine Männersache, sich an Schlangen anzustellen, um Brot einzukaufen“, sagte sie. „Sie tun mir leid, müssen hier anstehen. Sie sind bestimmt Junggeselle, nicht wahr?“ – „Ja, ich bin Junggeselle“, antwortete ich, ohne den eigentlich gewünschten Ton zu erwischen; aber der Trägheit wegen fuhr ich fort, ziemlich trocken zu antworten und mich dabei leicht zu verneigen. Das Fräulein betrachtete mich noch einmal von Kopf bis Fuß, tippte mir dann unvermittelt mit dem Finger an meinen Arm und sagte. „Lassen Sie mich einkaufen, was Sie brauchen, und warten Sie draußen auf mich.“ Ich war völlig verdutzt. „ich danke Ihnen“, sagte ich, „das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, aber ich könnte das wirklich auch selber tun.“ – „Nein, nein“, sagte das Fräulein, „gehen Sie nur raus – was wollten Sie denn einkaufen?“ – „Also…“, sagte ich, „ich wollte ein halbes Kilo Schwarzbrot kaufen, aber dieses etwas billigere Kastenbrot. Ich mag das lieber.“ – „Na schön!“, sagte das Fräulein, „Und nun gehen Sie, ich werde jetzt einkaufen und hinterher rechnen wir ab.“ Und dann drängelte sie mich sogar leicht beiseite, indem sie unter meinen Ellenbogen faßte. Ich verließ die Bäckerei und stellte mich vor die Tür. Die Frühlingssonne scheint mir direkt ins Gesicht. Ich stecke mir eine Pfeife an. Was für ein liebenswürdiges Fräulein! So etwas ist heutzutage wirklich selten. Ich stehe da, blinzele in die Sonne, rauche Pfeife und denke an das liebenswürdige Fräulein. Sie hat so heitere braune Äuglein. Einfach reizend, ihre Zuvorkommenheit! „Sie rauchen Pfeife?!“, hörte ich eine Stimme neben mir sagen. Es ist das liebenswürdige Fräulein, das mir das Brot hinhält. „Oh, ganz herzlichen Dank!“, sage ich, während ich das Brot nehme. „Und Sie rauchen also Pfeife. Das gefällt mir wirklich schrecklich gut!“, sagt das liebenswürdige Fräulein. Und zwischen uns entspann sich folgendes Gespräch:
Sie: „So so, Sie müssen Ihr Brot also selber einkaufen!“
Ich: „Nicht nur das Brot; ich kaufe alles selber ein.“
Sie: „Und wo essen Sie Mittag?“
Ich: „Normalerweise koche ich mir mein Mittagessen selbst; aber manchmal esse ich auch in einem Bierkeller.“
Sie: „Trinken Sie gerne Bier?“
Ich: „Nein, eigentlich trinke ich lieber Wodka.“
Sie: „ich trinke auch sehr gerne Wodka.“
Ich: „Sie trinken gerne Wodka?! Na das ist ja toll! Ich würde irgendwann gerne mal einen mit Ihnen heben.“
Sie: „Aber ja, auch ich würde gerne mal einen Wodka mit Ihnen heben.“
Ich: „Entschuldigen Sie, darf ich Sie mal etwas fragen?“
Sie: „(stark errötend) „Natürlich, fragen Sie nur!“
Ich: „Nun gut, ich frage. Glauben Sie an Gott?“
Sie: (erstaunt) „Ob ich an Gott glaube? Ja, natürlich.“
Ich: „Und was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen vorschlagen würde, Wodka zu kaufen und zu mir zu gehen? Ich wohne hier ganz in der Nähe.“
Sie: (herausfordernd) „Na warum denn nicht? Von mir aus gerne!“
Ich: „Nun, dann lassen Sie uns gehen!“
Wir gehen noch einmal in den Laden und ich kaufe einen halben Liter Wodka. Wir reden die ganze Zeit über alles mögliche, und plötzlich fällt mir ein, daß bei mir in der Stube auf dem Boden die tote Alte liegt. Ich betrachte meine neue Bekannte: Sie steht am Regal und sondiert Gläser mit Eingekochtem. Ich bahne mir vorsichtig einen Weg zur Tür und verschwinde aus dem Laden. Gegenüber hat soeben eine Straßenbahn angehalten. Ich springe auf die Straßenbahn auf, ohne auch nur auf ihre Nummer geachtet zu haben. In der Michajlovskijstraße steige ich aus und gehe zu Sakerdon Michailovitsch. In meinen Händen halte ich eine Wodkaflasche, Sardelken und ein Brot.
Sakerdon Michajlovitsch machte selbst auf. Er trug einen Morgenrock, den er sich über den nackten Oberkörper gezogen hatte, ein paar russische Stiefel mit abgetrennten Schächten, und eine Fellmütze mit Ohrenklappen aber die Ohrenklappen waren nach oben geschlagen und mit einer Schleife zusammengebunden. „Sehr erfreut, Sie zu sehen!“,sagte Sakerdon Michajlovitsch als er mich sah. „Störe ich Sie bei der Arbeit?“, fragte ich. „Nein, ganz und gar nicht“, sagte Sakerdon Michajlovitsch, „ich habe gerade nichts zu tun, saß einfach nur auf dem Fußboden.“ „Hier, sehen Sie“, sagte ich zu Sakerdon Michajlovitsch, „ich habe Wodka und einen kleinen Happen zur besseren Bekömmlichkeit mitgebracht. Wenn Sie nichts dagegen haben, lassen Sie uns einen heben.“ „Sehr gut“, sagte Sakerdon Michajlovitsch, „kommen Sie doch rein.“ Wir gingen in seine Stube. Ich öffnete die Wodkaflasche und Sakerdon Michajlovitsch stellte zwei Schnapsgläser und einen Teller mit gekochtem Fleisch auf den Tisch. „Hier, ich habe Sardelken“, sagte ich. „Was meinen Sie, sollen wir sie so essen wie sie sind, oder wollen wir sie kochen?“ „Ich werde sie kochen“, sagte Sakerdon Michajlovitsch, „und bis sie gar sind essen wir das Fleisch und trinken einen Wodka dazu. Übrigens ein vortreffliches Fleisch, in klarer Brühe gegart!“ Sakerdon Michajlovitsch stellte einen Topf auf den Petroleumkocher und dann tranken wir einen Wodka.
„Wodka zu trinken ist gesund“, bemerkte Sakerdon Michajlovitsch während er sein Schnapsglas nachfüllte, „Metschnikov schrieb, daß Wodka gesünder sei als Brot, denn Brot ist eigentlich nichts anderes als eine Art Stroh, das schwer im Magen liegt.“ „Auf Ihr Wohl!“, sagte ich und stieß mit Sakerdon Michajlovitsch an. Wir leerten die Gläser und aßen das Fleisch. „Lecker!“, sagte Sakerdon Michajlovitsch. Doch im selben Augenblick ertönte in der Stube ein durchdringender Knall. „Was war das?“, fragte ich. Wir saßen schweigend da und lauschten. Plötzlich knallte es abermals. Sakerdon Michajlovitsch sprang vom Stuhl auf, rannte zum Fenster und riß die Gardine herunter. Was machen Sie denn?“, rief ich. Aber Sakerdon Michajlovitsch stürzte ohne zu antworten zum Petroleumkocher, packte den abgedeckten Topf und stellte ihn auf den Boden. „Zum Teufel auch!“, sagte Sakerdon Michajlovitsch. „Ich habe vergessen, Wasser in den Topf zu geben. Der Topf ist aus Emaille, und nun ist die Emaille aufgeplatzt.“ „Ach so, verstehe!“, sagte ich kopfnickend. Wir setzten uns wieder an den Tisch. „Zum Teufel mit den Sardelken“, sagte Sakerdon Michajlovitsch, „dann essen wir sie jetzt eben doch so.“ „Ich muß jetzt aber wirklich unbedingt was essen!“, sagte ich. „Essen Sie nur“, sagte Sakerdon Michajlovitsch und schob mir den Teller mit den Sardelken näher ran. „ich habe nämlich gestern zum letzten Mal etwas gegessen, mit Ihnen zusammen in der Kellerkneipe, und seitdem bin ich nicht mehr dazu gekommen.“, sagte ich. „Aber-aber!“, sagte Sakerdon Michajlovitsch. „ich habe die ganze Zeit über geschrieben“, sagte ich. „Teufel auch!“, rief Sakerdon Michajlovitsch übertrieben laut aus, „Was für eine Ehre, einem Genie gegenüber zu sitzen!“ „Und ob!“, sagte ich. „Da haben Sie sicher viel vorgelegt wie?“, fragte Sakerdon Michajlovitsch. „Ja,“, sagte ich, „ich habe so lange geschrieben, bis das Papier alle war. „Auf das Genie unserer Zeit!“ , sagte Sakordon Michajlovitsch das Schnapsglas erhebend. Wir leerten die Gläser. Sakerdon Michajlovitsch aß gekochtes Fleisch und ich die Sardelken. Nachdem ich vier von ihnen verdrückt hatte, steckte ich mir die Pfeife an und sagte: „Wissen Sie, ich habe Sie nämlich besucht, um einer Verfolgung zu entkommen.“ „Wer hat Sie denn verfolgt?“, fragte Sakerdon Michajlovitsch. „Eine Frau.“, sagte ich. Und da Sakerdon Michajlovitsch daraufhin nicht nachhakte, sondern sich nur schweigend einen Wodka einschenkte, fuhr ich fort: „Ich habe sie in einer Bäckerei kennengelernt und mich sofort verknallt.“ „Hübsch?“, fragte Sakerdon Michajlovitsch. „Ja“, sagte ich, „ganz mein Typ.“ Wir leerten die Gläser und ich fuhr fort: „Sie war einverstanden mit zu mir zu kommen und Wodka zu trinken. Wir gingen in einen Laden; aber ich mußte mich auf einmal ausreißen.“ „Hat das Geld nicht gereicht?“, fragte Sakerdon Michajlovitsch. „Nein, das Geld hat zwar nur sehr knapp gereicht,“, sagte ich, „aber mir fiel ein, daß ich sie gar nicht in meine Stube lassen konnte.“ „Was denn; war in Ihrer Stube eine andere Frau?“, fragte Sakerdon Michajlovitsch. „Ja. Wenn Sie so wollen, war in meiner Stube eine andere Frau.“, sagte ich grinsend. „Momentan kann ich überhaupt niemanden mehr in meine Stube lassen.“ „Heiraten Sie sie; Sie können mich dann zum Essen einladen.“, sagte Sakerdon Michajlovitsch. „Nein,“, rief ich prustend vor Lachen, „diese Frau werde ich bestimmt nicht heiraten!“ „Na dann heiraten Sie doch die aus der Bäckerei.“, sagte Sakerdon Michajlovitsch. „Ja aber mit wem wollen Sie mich denn noch alles verheiraten‘?“, sagte ich. „Aber wieso denn?“, sagte Sakerdon Michajlovitsch, während er sein Gläschen füllte. „Auf Ihre Erfolge!“ Wir leerten unsere Gläser. Offensichtlich begann der Wodka langsam auf uns zu wirken. Sakerdon Michajlovitsch nahm seine Fellmütze ab und schleuderte sie aufs Bett. Ich stand auf und ging ein bißchen im Zimmer auf und ab, wobei sich ein leichtes Schwindelgefühl bemerkbar machte. „Wie stehen Sie eigentlich zu Toten?“, fragte ich Sakerdon Michajlovitsch. „Absolut negativ“, sagte Sakerdon Michajlovitsch, „ich habe Angst vor ihnen.“ „Ja, ich kann Tote auch nicht ertragen“, sagte ich. „Sollte mir mal ein Toter begegnen, und kein Verwandter von mir sein, würde ich ihm sehr wahrscheinlich einen ordentlichen Fußtritt verabreichen.“ „Es ist unnötig Leichen mit Füßen zu treten“, sagte Sakerdon Michajlovitsch. „Trotzdem: Ich würde ihm glatt mit dem Stiefel in die Schnauze treten.“, sagte ich; „Ich kann Tote und Kinder nicht ertragen.“ „Ja, Kinder ein niederträchtiges Pack.“, pflichtete Sakerdon Michajlovitsch mir bei. „Was ist denn Ihrer Meinung nach schlimmer: Tote oder Kinder?“, fragte ich. „Kinder sind wohl schlimmer, die belästigen einen häufiger. Aber nichtsdestotrotz dringen Tote nicht einfach in unser Leben ein.“, sagte Sakerdon Michajlovitsch. „Haben Sie eine Ahnung!“, rief ich aus, verstummte jedoch sogleich wieder. Sakordon Michajlovitsch betrachtete mich aufmerksam. „Möchten Sie noch einen Wodka?“, fragte er. „Nein!“, sagte ich, und fügte, nachdem ich mich besonnen hatte, hinzu: „Nein danke, ich möchte keinen mehr.“ Ich trat an den Tisch heran und setzte mich.
Wir schweigen eine Weile. „Ich möchte Sie etwas fragen.“, sage ich. „Glauben Sie an Gott?“
Auf Sakerdon Michajlovitschs Stirn erscheinen Querfurchen und er sagt:
„Es gibt eine ganze Reihe von anstößigen Verhaltensweisen. So wäre es zum Beispiel anstößig, einen Mann, der bei Ihnen fünfzig Rubel Schulden hat, zu fragen falls Sie es sehen -, wieso er sich eben erst zweihundert Rubel in die Geldbörse stecken konnte. Es ist seine Angelegenheit, ob er Ihnen das Geld sofort gibt, oder ob er es Ihnen noch verweigert; und die bequemste und angenehmste Art solch einer Verweigerung besteht darin, zu lügen, daß er das Geld nicht hat. Sie haben natürlich gesehen, daß der Mann das Geld hat und genau dadurch rauben Sie ihm die Möglichkeit, Ihnen das Geld einfach und auf bequeme Weise zu verweigern. Sie lassen ihm in der Tat keine Wahl; und das ist eine Gemeinheit – eine anstößige und taktlose Verhaltensweise. Und einem Mann die Frage zu stellen „Glauben Sie an Gott?“, ist ebenfalls eine anstößige und taktlose Verhaltensweise.“
„Nun ja“, sagte ich, „aber das alles hat doch nichts miteinander zu tun.“ „Ich vergleiche es ja auch gar nicht.“, sagte Sakerdon Michajlovitsch.
„Na schön,“, sagte ich, „lassen wir das. Verzeihen Sie mir nur, daß ich Ihnen eine anstößige und taktlose Frage gestellt habe.“ „Aber natürlich,“ sagte Sakerdon Michajiovitsch, „ich habe Ihnen ja nun einfach die Antwort verweigert.“
„Ich hätte auch nicht geantwortet“, sagte ich, „allerdings aus einem anderen Grund.“ „Aus weichem denn?“, fragte Sakerdon Michajlovitsch träge. „Sehen Sie“ sagte ich, „meiner Meinung nach gibt es gar keine Menschen, die glauben oder nicht glauben. Es gibt lediglich solche, die glauben, und solche, die nicht glauben wollen.“ „Soll das heißen, daß diejenigen, die nicht glauben wollen, ohnehin schon an etwas glauben,“ sagte Sakerdon Michajlovitsch, „und diejenigen, die glauben wollen schon von vornherein an nichts glauben?“ „Vielleicht auch so“, sagte ich, „ich bin mir nicht ganz schlüssig.“ „Aber an was denn glauben, beziehungsweise nicht glauben?… An Gott?“, fragte Sakerdon Michajlovitsch. „Nein!“, sagte ich, „An die Unsterblichkeit.“ „Warum haben Sie mich denn dann gefragt, ob ich an Gott glaube?“ „Na ja, einfach weil es irgendwie blöd klingen würde, zu fragen -‚Glauben Sie an die Unsterblichkeit?“‚, sagte ich zu Sakerdon Michajlovitsch und stand auf. „Was denn, wollen Sie etwa gehen?“, fragte mich Sakerdon Michajlovitsch. „Ja es wird langsam Zeit.“ „Und was ist mit dem Wodka?“, sagte Sakerdon Michajlovitsch, „Schauen Sie, es ist gerade noch ein Schluck für jeden drin.“ „Na dann lassen Sie uns den noch trinken.“, sagte ich.
Wir tranken den Wodka aus und aßen das restliche gekochte Fleisch dazu. „Jetzt muß ich aber los. , sagte ich. „Auf Wiedersehen!‘, sagte Sakerdon Michailovitsch während er mich durch die Küche zur Tür begleitete, ‚Und Danke für die Bewirtung!“. „Ich habe zu danken“, sagte ich. „Auf Wiedersehen!“
Ich machte mich auf den Weg.
Als Sakerdon Michajlovltsch alleine war, räumte er den Tisch ab, warf die leere Wodkaflasche in den Mülleimer, setzte sich wieder die Fellmütze mit den Ohrenklappen auf und hockte sich unter dem Fenster auf den Boden. Sakerdon Michajlovitsch nahm die Hände hinter den Rücken, so daß sie nicht zu sehen waren, und unter dem umgestülpten Morgenrock lugten seine nackten knochigen Beine hervor, die in russischen Stiefeln mit abgetrennten Schächten steckten. Mit meinen Gedanken beladen ging ich über den Newskij“. Ich muß jetzt unbedingt zum Hausverwalter und ihm alles erzählen. Und wenn ich das mit der Alten über die Bühne gebracht habe, werde ich mich solange vor die Bäckerei stellen, bis dieses liebenswürdige Fräulein wiederkommt – notfalls den ganzen Tag. Immerhin schulde ich ihr ja noch achtundvierzig Kopeken für das Brot, da habe ich auch gleich einen wunderbaren Vorwand, um sie ausfindig zu machen. Falls wir dann ein paar Gläschen Wodka heben, wird sich alles weitere von selbst ergeben; und es schien, als müßten sich überhaupt alle Dinge sehr einfach und befriedigend fügen.
An der Fontanka ging ich rüber zu einem der Verkaufsstände und trank für das restliche Kleingeld einen großen Krug Kwass. Der Kwass war schlecht und viel zu sauer, und so mußte ich mit einem gräßlichen Geschmack im Mund weitergehen. An der Ecke Litejnijstraße wurde ich von einem Betrunkenen angerempelt, der schon nicht mehr geradeaus gehen konnte. Er hatte Glück, daß ich keinen Revolver besitze, sonst hätte ich ihn auf der Stelle abgeknallt. Bis zum Haus des Verwalters muß ich dann mit einem vor Wut entstellten Gesicht herum gelaufen sein, jedenfalls nehme ich das stark an, da sich fast alle Passanten nach mir umdrehten. Ich betrat das Kontor. Auf einem Stuhl saß eine etwas kleingeratene, schmuddelige, stupsnäsige, krummrückige weißblonde Jungfer, die einen kleinen Handspiegel vors Gesicht hielt und sich Pomade auf die Lippen schmierte.
„Wo ist denn bitte der Hausverwalter?“, fragte ich. Die Jungfer schwieg und beschmierte sich weiterhin ihre Lippen. „Wo ist der Hausverwalter‘?“, wiederholte ich mit erhobener Stimme. „Morgen, heute nicht.“, antwortete die schmuddelige, stupsnäsige, krumrnrückige, weißblonde Jungfer. Ich ging hinaus. Auf der gegenüberliegenden Seite ging ein Invalide mit einer Beinprothese und verursachte ein lautes Klopfgeräusch mit seinem Bein und dem Stock. Sechs Jungen tobten hinter dem Invaliden her und äfften dessen Gangart nach. Ich bog in den Haupteingang meines Hauses ein und ging ein paar Treppen hoch, bis ich in der zweiten Etage stehenblieb, weil mich ein geradezu ekelhafter Gedanke beschlichen hatte: Die Alte müßte doch längst angefangen haben zu verwesen. Ich habe das Fenster nicht zugemacht, und es heißt doch, daß Tote bei geöffnetem Fenster noch schneller verwesen. So was Blödes aber auch! Und dieser verdammte Hausverwalter ist auch erst morgen wieder da! Einige Minuten verweilte ich unentschlossen auf dem Treppenabsatz, dann ging ich weiter hoch. Kurz vor meiner Wohnungstür zögerte ich nochmals. Sollte ich vielleicht doch zur Bäckerei gehen und dort erst einmal auf das liebenswürdige Fräulein warten? Ich könnte versuchen sie zu beschwören, daß sie mich zwei oder drei Nächte bei sich aufnehmen muß. Aber da fällt mir ein, daß sie heute ja schon Brot eingekauft hat, und das bedeutet, daß sie nicht mehr in die Bäckerei gehen wird Na ja, und außerdem wird wahrscheinlich sowieso nichts draus. Ich schloß die Wohnungstür auf und betrat den Flur. Am Ende des Flurs brannte Licht, und Marja Vasiljevna, die irgendeinen Lappen in den Händen hielt, scheuerte damit auf einem Tuch herum. Als sie mich sah rief sie: „Da hat so ein alter Mann nas Ihnen gefragt!““ ‚Was denn für ein alter Mann?“, fragte ich. „Weiß is nist.“, antwortete Marja Vasiljevna. „Wann war denn das?“, fragte ich. „Das weiß is auch nist“, sagte Marja Vasiljevna. „Wer hat darin mit dem alten Mann gesprochen?“, fragte ich Marja Vasiljewna. „ls!“, antwortete Marja Vasiljevna. „Und dann wissen Sie nicht, wann das war?“, sagte ich. „Ungefähr vor swei Stunden.“, sagte Marja Vasiljevna. ‚Und wie sah dieser alte Mann aus?“, fragte ich. „Das weiß is auch nist.“, sagte Marja Vasiljevna und ging in die Küche.
Ich ging zu meiner Stube. ‚Und jetzt“ dachte ich „ist die Alte mir nichts, dir nichts verschwunden. Ich werde meine Stube betreten und die Alte wird weg sein ganz bestimmt. Mein Gott; das wäre ja zu schön um wahr zu sein!“ Ich schloß die Tür auf und begann sie langsam zu öffnen. Vielleicht bildete ich es mit auch bloß ein, aber da stieg ein süßlicher Geruch von beginnender Verwesung in meine Nase. Ich linste durch den Türspalt und erstarrte im selben Augenblick:
Auf meinem Stubenfußboden kauerte die Alte und kam ganz langsam auf mich zu gekrochen. Mit einem Aufschrei des Entsetzens knallte ich die Tür zu, drehte den Schlüssel um und machte einen Satz zurück an die gegenüberliegende Wand. Marja Vasiljevna erschien im Flur. „Haben Sie mich gerufen?“, fragte sie. Ich zitterte wie Espenlaub, und da ich nicht imstande wer irgend etwas zu sagen, schüttelte ich nur den Kopf. Marja Vasiljevna kam etwas näher. ‚Aber Sie haben doch mit jemandem geredet“, sagte sie. Wieder schüttelte ich nur den Kopf. „Verrückter Mens!“, murmelte Marja Vasiljevna und ging wieder in die Küche, aber nicht, ohne sich auf dem Weg dorthin noch einige Male nach mir umzusehen. „Das ist doch nicht möglich! Das ist doch einfach nicht möglich!“ wiederholte ich innerlich. Eine Phrase, die sich irgendwo in mir drin ganz von selbst formulierte; und ich prägte sie mir solange ein, bis sie sich in mein Bewußtsein gepflanzt hatte. „Aber ja, das ist überhaupt nicht möglich!“, sagte ich mir, stand indes weiterhin da wie gelähmt. Hier ist irgend etwas Fürchterliches geschehen… . Aber irgend etwas zu unternehmen hieße womöglich, noch Schrecklicheres heraufzubeschwören. Ein Wirbel von Gedanken erfaßte mich, und ich sah bloß noch die bösen Augen der toten Alten, die langsam auf mich zu gekrochen kam. Hineinstürmen und der Alten den Schädel zertrümmern. Das ist die einzige Möglichkeit! Ich schaute mich suchend um und hatte Glück: In einer Ecke des Flurs entdeckte ich einen Krockettschläger, der wieso auch immer bereits seit Jahren dort gestanden haben mußte. Den Schläger greifen, reinstürmen und drauf! Das Zittern hatte noch nicht nachgelassen. Vor innerer Kälte stand ich mit eingezogenen Schultern da und rührte mich nicht. Meine Gedanken galoppierten los, verhedderten sich, kehrten wieder zum Ausgangspunkt zurück und galoppierten erneut los um andere Sphären zu erschließen-, und ich versuchte die ganze Zeit sehr konzentriert ihnen zu folgen. Und es war, als ob sie zwar auf meiner Seite waren, jedoch keine Befehle von mir entgegennehmen wollten.
„Die Toten“, klärten mich meine eigenen Gedanken auf, „sind ein nichtsnutziges Volk. Sie die RUHENDEN zu nennen war äußerst unbedacht, denn sie sind viel eher UNRUHESTIFTER. Man muß auf sie achtgeben und darf sie keine Minute aus den Augen lassen. Fragen Sie jeden beliebigen Wächter der Totenkammer. Was glauben Sie, warum die dort hin berufen wurden? Nur aus einem einzigen Grunde: Um darauf zu achten, daß sie nicht auseinander kriechen. Denn solche spaßigen Zwischenfälle ereignen sich häufiger als man denkt. Ein Toter bis zu diesem Zeitpunkt noch als Wächter angestellt wusch sich einmal auf Befehl der Obrigkeit im Baderaum, kroch aus der Totenkammer raus, dann in die Desinfektionskammer hinein, und verschlang dort einen ganzen Wäschehaufen. Die Desinfektoren haben den Toten zwar gehörig durchgewalkt, was jedoch die unbrauchbar gewordene Wäsche anbelangte, so mußten sie den gesamten Schaden aus eigener Tasche bezahlen. Ein anderer Toter ist mal in einen Kreißsaal gekrochen und hat die werdenden Mütter derart erschreckt, daß eine von ihnen sofort eine Fehlgeburt erlitt, der Tote aber stürzte sich auf die noch warme Leibesfrucht und machte sich sogleich daran, sie laut schmatzend hinunter zu würgen. Und als daraufhin eine beherzte Krankenschwester dem Toten einen Schemel auf dem Rücken zerschmetterte, biß er dieser Krankenschwester ins Bein, und sie starb kurz darauf an den Folgen einer Leichengiftinfektion. Wie gesagt, die Toten sind ein nichtsnutziges Volk, und man sollte sich vor ihnen in Acht nehmen!“ „Aufhören!“, sagte ich zu meinen eigenen Gedanken, „Ihr redet dummes Zeug. Tote können sich nicht bewegen!“ „Na schön“, sagten meine eigenen Gedanken, „dann geh doch in Deine Stube, wo sich die wie Du sagst -‚unbewegliche‘ Tote befindet.
Ein ganz und gar unerwarteter Eigensinn bemächtigte sich meiner. „Und ich werde doch gehen!“, sagte ich zu meinen eigenen Gedanken mit aller Entschlossenheit. „Versuchs doch!“, sagten meine eigenen Gedanken spöttisch. Dieser Spott brachte mich nun endgültig in Rage. Ich packte den Krockettschläger und stürzte zur Tür. „Warte!“, brüllten meine eigenen Gedanken, aber ich hatte bereits meinen Schlüssel hervorgeholt, die Tür aufgeschlossen und weit aufgestoßen. Die Alte lag dicht hinter der Türschwelle und hatte ihr Gesicht im Teppich vergraben. Mit erhobenem Krockettschläger stand ich da zu allem bereit. Die Alte rührte sich nicht. Der Schüttelfrost ließ nach und auch meine Gedanken strömten wieder klar und deutlich durchs Gehirn. Ich konnte ihnen wieder Befehle erteilen. „Zuallererst die Tür schließen!“, befahl ich mir selbst. Ich zog den Schlüssel von der Außenseite der Tür ab und steckte ihn von innen wieder ins Schloß. Das tat ich mit der linken Hand, während ich mit der rechten den Krockettschläger festhielt und die Alte dabei keine Sekunde aus den Augen ließ. Ich drehte den Schlüssel herum, und nachdem ich vorsichtig über die Alte gestiegen war, ging ich rasch in die Mitte der Stube. „So, jetzt rechnen wir beide ab.“, sagte ich. Ich hatte einen Plan ausgeheckt, mit dem gewöhnlich die Morde in Kriminalromanen und entsprechenden Zeitungsartikeln begangen wurden. Und zwar wollte ich die Alte einfach in einen Koffer sperren, sie aus der Stadt bringen und in einem Sumpf versenken. Eine geeignete Stelle wußte ich schon. Mein Koffer lag unter der Couch.
Ich zog ihn darunter hervor und klappte ihn auf. Es waren alle möglichen Sachen darin: Ein paar Bücher, ein alter Filzhut und zerlöcherte Wäsche. All das legte ich auf die Schlafcouch. In diesem Moment schlug die Außentür ins Schloß und es kam mir vor, als wäre die Alte aufgesprungen. Ich fuhr augenblicklich hoch und griff nach dem Krockettschläger. Die Alte liegt ruhig da. Ich bleibe stehen und lausche. Es ist der Lokführer, der zurückgekommen ist. Ich höre wie er in seine Stube geht. Da, jetzt geht er Über den Flur in die Küche. Marja Vasiljevna wird ihm doch nicht von meinem absonderlichen Verhalten erzählen das wäre gar nicht gut! So ein Teufelskram. Ich muß ebenfalls in die Küche gehen, um sie durch mein Erscheinen ein bißchen zu besänftigen. Noch einmal kletterte ich über die Alte, stellte den Schläger unmittelbar neben die Tür, weil ich nicht wollte, daß ich, nachdem ich wieder zurückgekommen war, beim Betreten meiner Stube noch den Schläger bei mir hatte, und ging raus auf den Flur. Aus der Küche drangen Stimmen zu mir vor, aber ich konnte nicht verstehen was geredet wurde. Ich drückte die Tür meines Zimmers geräuschlos zu und ging dann vorsichtig zur Küche: Ich mußte unbedingt herausfinden, worüber Marja Vasiljevna mit dem Lokführeren sprach. Den größten Teil des Flurs durchquerte ich sehr schnell, aber kurz vor der Küche verlangsamte ich meinen Schritt. Offensichtlich redete der Lokführer. Er erzählte über irgend etwas, das ihm bei der Arbeit passiert war. Ich ging rein. Der Lokführer stand mit einem Handtuch in den Händen da und redete, und Marja Vasiljevna saß auf einem Hocker und hörte zu. Als der Lokführer mich sah hielt er inne. „Seien Sie gegrüßt, Matvej Filipovitsch!“, sagte ich und ging weiter ins Badezimmer. Währenddessen schwiegen die beiden. Marja Vasiljevna hatte sich wohl an meine Seltsamkeit gewöhnt, und daher den letzten Vorfall wahrscheinlich längst vergessen.
Plötzlich beschlich mich eine Ahnung: Ich hatte die Tür nicht abgeschlossen. Was, wenn die Alte jetzt auf einmal aus meiner Stube heraus gekrochen käme? Ich wollte zurückstürzen, besann mich jedoch im selben Augenblick eines Besseren, und um meine Mitbewohner nicht zu erschrecken durchquerte ich mit ganz ruhigen Schritten die Küche. Marja Vasiljevna trommelte mit den Fingern auf dem Küchentisch herum und sagte zu dem Lokführeren: „Ausgezeisnet! Das ist wirklis gesickt; is hätte das siserlis auch stibitzt!“ Mit stockendem Herzen ging ich raus auf den Flur. Und kaum daß ich die Küchentür geschlossen, spurtete ich auch schon zu meiner Stube. Von außen war alles ruhig. Ich trat näher an die Tür und machte sie ganz behutsam ein kleines Stückchen auf. Die Alte lag nach wie vor regungslos auf dem Fußboden das Gesicht im Teppich vergraben. Der Krockettschläger stand wie gehabt an seinem Platz neben der Tür. Ich nahm ihn, ging in die Stube und schloß mich ein. Wahrhaftig, es roch unverkennbar nach Leiche in der Stube. ich stieg über die Alte, ging zum Fenster und setzte mich in den Sessel. Wenn mir davon nur nicht übel würde, solange ich so ermattet war. Aber es war bereits ein unerträglicher Gestank. Ich steckte mir eine Pfeife an. Ich fühlte mich schwach und mein Magen tat weh. Aber was sitze ich hier eigentlich herum? Ich muß handeln und zwar schnell, bevor die Alte endgültig verfault ist. Auf alle Fälle muß ich sie aber ganz vorsichtig in den Koffer packen, sonst versucht sie nachher auch noch, meinen Finger abzubeißen. Und dann an einer Leichengiftinfektion sterben? Danke ergebenste „Aber ja doch natürlich!“, rief ich aus, „Jetzt würde es mich aber doch interessieren, womit Sie mich denn eigentlich beißen wollen? Wo haben Sie denn Ihre Beißerchen?!“ Ich lehnte mich im Sessel nach vorne und suchte die Fußleiste entlang der Fensterseite ab, wo meiner Berechnung zufolge das künstliche Gebiß der Alten liegen mußte. Aber das Gebiß war nicht da. Ich dachte nach: Sollte die tote Alte womöglich bei mir in der Stube herum gekrochen sein und ihre Zähne gesucht haben? Und womöglich hatte sie sie sogar gefunden und sich wieder in den Mund gesetzt? Ich nahm den Krockettschläger und suchte damit nochmals die Kante ab. Nein, das Gebiß war verschwunden. Daraufhin holte ich ein dickes Laken aus der Kommode und ging zu der Alten. Den Krockettschläger hielt ich für alle Fälle fest in der rechten Hand und in der linken das Laken. Der Anblick der toten Alten rief in mir eine seltsame Mischung aus Ekel und Angstgefühl hervor. Mit dem Schläger hob ich ihren Kopf ein wenig an: Der Mund stand offen, die Augen kullerten nach oben, und über der gesamten Kinnpartie, wo ich sie mit dem Stiefel hingetreten hatte, war ein großer dunkler Fleck aufgegangen. Ich schaute der Alten in den Mund. Nein, sie hatte ihr Gebiß nicht gefunden. Ich zog den Schläger unter ihrem Kopf weg. Der Kopf fiel runter und schlug auf dem Fußboden auf.
Als nächstes breitete ich das Bettlaken auf dem Boden aus und zog es ganz dicht an die Alte heran. Dann kippte ich die Alte mit meiner Hand und dem Krockettschläger über ihre linke Seite auf den Rücken. Nun lag sie auf dem Laken. Die Beine der Alten waren in den Kniegelenken angewinkelt und ihre Fäuste drückten gegen die Schultern. Die Alte sah aus wie eine auf dem Rücken liegende Katze in Verteidigungsstellung, die versucht, den Angriff eines Adlers abzuwehren. Nur schnell weg mit diesem Kadaver. Ich wickelte die Alte in das dicke Laken ein und stellte sie auf die Füße. Sie war leichter als ich vermutet hatte. Ich ließ sie in den Koffer sinken und versuchte den Deckel zu schließen. Hier hatte ich die eigentliche Schwierigkeit erwartet, aber der Deckel ließ sich verhältnismäßig einfach zuklappen. Ich ließ die Kofferschlösser einrasten und richtete mich auf.
Der Koffer steht vor mir und erweckt einen derart harmlosen Eindruck, daß man glauben möchte es lägen Wäsche und Bücher darin. Ich faßte ihn am Henkel und probierte ihn anzuheben. Und wahrhaftig, es funktionierte schwer selbstverständlich, aber nicht übermäßig, und ich würde ihn ohne Probleme bis zur Straßenbahn tragen können. Ich guckte auf die Uhr. Zwanzig nach fünf. Sehr gut. Ich setzte mich in den Sessel um ein bißchen zu verschnaufen und rauchte die Pfeife zuende. Offenbar waren die Sardelken, die ich heute gegessen hatte nicht gerade besonders gut gewesen, denn meine Magenschmerzen wurden immer schlimmer. Vielleicht aber auch deshalb, weil ich sie roh gegessen hatte? Möglicherweise auch eine reine Nervensache. Ich sitze da und rauche. Und so vergeht eine Minute nach der anderen. Die Frühlingssonne scheint durchs Fenster und ich blinzele in ihre Strahlen. Da, jetzt versteckt sie sich hinter dem Schornstein des gegenüberliegendes Hauses-, und der Schatten des Schornsteins fällt vom Dach und legt sich über die Straße bis auf mein Gesicht. Ich erinnere mich, wie ich gestern um dieselbe Zeit hier saß und ein Povest geschrieben habe. Da ist es ja: Das karierte Papier, auf dem es mit meiner feinen Handschrift niedergeschrieben ist. „Der Wundertäter war von hohem Wuchs.“ Ich schaute aus dem Fenster. Draußen ging ein Invalide mit einer Beinprothese und verursachte ein lautes Klopfgeräusch mit seinem Bein und dem Stock. Zwei Arbeiter und eine alte Frau, deren Hüfte die beiden umklammerten, brachen in gröhlendes Gelächter aus, als sie den komischen Gang des Invaliden bemerkten.
Ich erhob mich. Es wird Zeit! Höchste Zeit mich auf den Weg zu machen! Höchste Zeit die Alte im Sumpf zu versenken!
Ich muß mir noch Geld von dem Lokführer leihen.
Ich betrat den Flur und ging zu seiner Tür. „Matvej Filipovitsch, sind Sie zu Hause?“, fragte ich. „Ja, ich bin da.“, antwortete der Lokführer. „Dann entschuldigen Sie bitte, Matvej Filipovitsch, aber haben Sie zufällig ein bißchen Geld im Haus? Ich kriege übermorgen meinen Lohn, und ich wollte Sie fragen, ob Sie mir nicht eventuell dreißig Rubel borgen könnten!?“ „Kann ich machen.“, sagte der Lokführer; und ich hörte wie er mit seinen Schlüsseln rasselte und irgendeine Kiste aufsperrte. Dann öffnete er die Tür und reichte mir einen nagelneuen Dreißigrubelschein. „Vielen Dank Matvej Filipovitsch!“ sagte ich. „Keine Ursache!“, sagte der Lokführer.
Ich steckte das Geld in meine Börse und ging zurück in mein Zimmer. Der Koffer stand noch ganz friedlich an seinem Platz. „So nun aber los, und zwar auf direktestem Wege!“, sagte ich zu mir selbst. Ich nahm den Koffer und verließ die Stube. Marja Vasiljevna sah mich mit dem Koffer und rief: „Wohin fahren Sie?“ „Zu meiner Tante“, sagte ich. „Bleiben Sie lange weg?“, fragte Marja Vasiljevna. „Nein, ich muß meiner Tante lediglich die ganze Wäsche hier bringen, und werde wahrscheinlich noch heute wieder zurückfahren.“ Ich ging raus. Auf dem Weg zur Straßenbahn trug ich den Koffer mal auf der rechten und mal auf der linken Seite, und kam wohlbehalten dort an. Ich stieg auf die vordere Plattform des Straßenbahnanhängers auf und winkte der Schaffnerin zu sie möge herkommen und mir einen Gepäckfahrschein ausstellen. Ich wollte meinen einzigen Dreißigrubelschein nicht durch den ganzen Wagen reichen, und konnte mich auch nicht so recht entschließen den Koffer stehen zu lassen um selbst zur Schaffnerin zu gehen. Die Schaffnerin kam zu mir nach vorne auf die Plattform und erklärte mir, daß sie kein Wechselgeld rausgeben könne. Somit mußte ich an der ersten Haltestelle wieder aussteigen. Ich wurde böse und wartete auf die nächste Straßenbahn. Ich hatte Magenschmerzen und meine Beine zitterten leicht. Und dann erblickte ich plötzlich mein liebenswürdiges Fräulein: Sie ging soeben über die Straße, schaute jedoch nicht in meine Richtung.
Ich schnappte mir den Koffer und stürzte hinter ihr her. Ich wußte ja nicht wie sie heißt und konnte sie deshalb nicht bei ihrem Namen rufen. Der Koffer stellte eine fürchterliche Behinderung dar. Ich umfasste ihn mit beiden Armen und haute ihn mir auf diese Weise beim Laufen ständig auf die Kniee und gegen den Bauch. Das liebenswürdige Fräulein ging ganz schön schnell, und ich spürte, daß es mir nicht gelingen würde sie einzuholen. Ich war in Schweiß gebadet und setzte meine letzten Kräfte ein. Das liebenswürdige Fräulein bog in eine Querstraße ein. Als ich die Ecke erreicht hatte war sie verschwunden. „Verdammte Alte!“, fluchte ich, den Koffer auf die Erde knallend. Die Ärmel meiner Joppe waren völlig vom Schweiß durchnäßt und klebten mir an den Armen. Ich setzte mich auf den Koffer, nahm ein Taschentuch zur Hand und wischte mir damit den Hals und das Gesicht ab. Zwei Jungen blieben vor mir stehen und guckten mich an. Ich setzte ein ganz entspanntes Gesicht auf und schaute unverwandt in den nächsten Torweg so als erwartete ich jemanden. Die beiden Jungen tuschelten miteinander und zeigten mit ihren Fingern auf mich. Eine wilde Wut stieg in mir hoch. Ach wenn ich ihnen doch nur den Starrkrampf anhexen könnte! Und nur dieser widerlichen Bengel wegen stehe ich jetzt allen Ernstes auf, wuchte den Koffer hoch, verdrücke mich damit zum Torweg und sehe hinein. Ich mache ein verwundertes Gesicht, ziehe die Uhr aus der Tasche und zucke mit den Schultern. Die beiden Jungen sind mir gefolgt und beobachten mich. Ich zucke nochmals mit den Schultern und schaue in den Torweg. „Komisch!“, sage ich laut, nehme den Koffer und schleppe ihn zur Straßenbahnhaltestelle.
Um fünf Minuten vor sieben komme ich am Bahnhof an. Ich löse eine Rückfahrkarte bis Licij Nos und steige in den Zug ein. Außer mir befinden sich noch zwei andere Fahrgäste in dem Waggon: Einer ist augenscheinlich ein Arbeiter, er war müde, hat sich die Schirmmütze über die Augen gezogen und schläft. der andere ist noch ein junger Bursche, er ist angezogen wie ein ländlicher Modenarr. Unter dem Jacket trägt er ein rosafarbenes Kosovorotka, und unter der Schirmmütze ragt ein lockiger Haarschopf hervor. Er raucht eine kleine Papyrosa mit einem hollgrünen Plastikmundstück. Ich stelle den Koffer zwischen die Sitzbänke und setze mich hin. Mein Magen tut so gemein weh, daß ich meine Fäuste zusammenballe um nicht laut aufzustöhnen. Zwei Polizisten führen irgendeinen Herrn ab. Er geht mit auf dem Rücken verschränkten Armen und mit hängendem Kopf den Bahnsteig entlang. Der Zug setzt sich in Bewegung. Ich werfe einen Blick auf die Uhr: Zehn Minuten nach sieben. Oh was wird es mir für ein Vergnügen bereiten, die Alte in den Sumpf gleiten zu lassen!. Schade nur, daß ich mir keinen Stock mitgenommen habe, denn unter Umständen werde ich ein bißchen nachhelfen müssen. Der Modegeck mit dem rosafarbenen Kosovorotka mustert mich auf unverschämte Weise. Ich drehe ihm den Rücken zu und gucke aus dem Fenster. In meinem Magen brauen sich fürchterliche Krämpfe zusammen, daraufhin beiße ich die Zähne zusammen, balle die Fäuste und spanne die Beinmuskeln an. Wir fahren an Lanskaja vorbei und an Novaja Derovnja. Da vorne funkelt die goldene Spitze der buddhistischen Pagode und dahinter erscheint das Meer. Aber auf einmal ist mir das alles vollkommen egal; ich springe auf und renne mit winzigen Trippeischritten zur Toilette. Eine wahnsinnige Wolle erfaßt mich und raubt mir die Sinne… Der Zug verlangsamt seine Fahrt. Wir erreichen Lachta. Ich bleibe sitzen, und aus Angst, man könnte mich während des Aufenthalts aus der Toilette jagen, mache ich nicht die leiseste Bewegung. „Wenn er doch nur endlich weiterfahren würde! Bitte!“
Der Zug fährt an, und vor lauter Wonne schließe ich die Augen. Oh diese Minuten sind so süß wie der wunderbarste Augenblick einer Liebe! Meine sämtlichen Muskeln sind aufs Äußerste angespannt, aber ich bin mir darüber im Klaren, daß mich diese Anstrengung extrem schwächen wird. Der Zug hält schon wieder an. Wir sind in Olgino. Das bedeutet nochmal diese Qualen! Aber diesmal war es falscher Alarm. Kalte Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn und eine sanfte frische Brise flattert rings um mein Herz. Ich erhebe mich und lehne mich mit dem Kopf einige Augenblicke gegen die Wand. Der Zug fährt, und das Schaukeln des Waggons tut mir gut. Ich reiße mich fest zusammen und verlasse leicht torkelnd die Toilette. Es ist niemand mehr im Waggon. Der Arbeiter und der Modegeck mit dem rosafarbenen Kosovorotka sind offensichtlich in Lachta oder in Olgino ausgestiegen. Ich gehe langsam zu meinem Fensterchen. Und mit einem Male bleibe ich wie angewurzelt stehen und gucke mit stumpfem Blick gerade vor mir auf den Boden. der Koffer ist nicht mehr da, wo ich ihn hingestellt hatte. Vielleicht habe ich mich im Fenster geirrt. Ich hechte zum nächsten Fensterchen. Kein Koffer. Ich hechte zurück, wieder nach vorne, renne durch den ganzen Waggon, schaue auf beiden Seiten unter sämtliche Sitze, aber der Koffer ist nirgends. Aber ja, das ist ja überhaupt keine Frage! Während ich in der Toilette war hat man mir natürlich den Koffer geklaut! Das hätte ich mir ja denken können! Ich setze mich mit weit aufgerissenen Augen auf die Sitzbank und erinnere mich aus irgendeinem Grunde daran, wie bei Sakerdon Michajlovitsch wegen des glühenden Topfes mit einem Knall die Emaille aufgeplatzt war. Was soll denn jetzt werden?, fragte ich mich selbst. Wer wird mir denn jetzt noch glauben, daß ich die Alte nicht umgebracht habe? Man wird mich noch heute verhaften, gleich hier, oder in der Stadt auf dem Bahnhof, wie diesen Herrn, der beim Gehen seinen Kopf hängen ließ. Ich gehe raus auf die Plattform. Der Zug fährt gerade nach Licij Nos ein. Die weißen Säulen huschen vorbei, und eine von Zäunen frankierte Landstraße. Der Zug hält an. Das Trittbrett meines Waggons reicht nicht bis auf die Erde. Ich springe runter und gehe zum Stationshäuschen. Um von hier bis in die Stadt zu gehen braucht man noch eine halbe Stunde. Ich gehe in ein Wäldchen. Dort drüben sind ein paar kleine Wacholderbeersträucher. Hinter ihnen wird mich niemand sehen. Ich begebe mich dorthin. Auf der Erde kriecht eine große grüne Raupe. ich kniee mich hin und berühre sie mit dem Finger. Sie windet ihren kräftigen feingliedrigen Körper einige Male nach der einen und nach der anderen Seite. Ich schaue mich um. Niemand sieht mich. Ein leises Beben rieselt durch meinen Rücken. Ich beuge den Kopf tief runter und sage leise: „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, heute und alle Tage bis an der Welt Ende. Amen.“19 Damit schließe ich mein Manuskript erst einmal ab, da mir beim Lesen gerade auffällt, daß es auch so schon hinreichend verwickelt ist.
Ende Mai und erste Junihälfte des Jahres 1939
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ANMERKUNGEN
zu Daniil Charms (aus: Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden. 19. Aufl.. Bd. 4. 1987) Daniil Ivanovitsch, eigtl. D.1.Juwatschov, russ. Lyriker, Dramatiker und Prosaist, geb. in Petersburg 12.1.1906, gest. (in Haft) 2.2.1942; neben A.1.Wwedenskij der Hauptvertreter der 1927 gegr. liter. Gruppe „Oberiu“ (russ. „Ob-edinenie Real’nogo Iskusstva“, Vereinigung für reale Kunst), einer avantgardistischen Gruppe von Dichtern und Künstlern, die bis 1930 bestand; 1931-32 in Haft. 1941 erneut verhaftet, verhungerte er im Gefängnis; 1956 rehabilitiert. Charms experimentierte mit Lyrik und verfaßte kleine Dramen, reich an Alogismen und Überraschungsmomenten in Handlungs- und Personenführung. „Elizabeta Bam“ (deutsch in: Daniil Charms: Fälle, 1970) näherte sich dem absurden Theater. Mitte der 1930er Jahre zog sich Charms mehr und mehr auf einfachere Stilistik und realistischere Thematik zurück (auch Kinderbücher). Seine Miniaturen „Slutschai“ (dt. Fälle) sind minuziöse Beobachtungen des Alltags, in denen sich das Groteske offenbart.
„Povest“; eine liter. Gattungsbezeichnung; irgendwo zwischen „Erzählung“ und „Novelle“ einzuordnen. Da sich die deutsch/russische Komparatistik über eine entsprechende Übersetzung nicht einig ist, wählte ich den russ. Begriff.
„Sadovaja ulica“ (Sadovijstraße), eine der größeren Straßen Leningrads, die fast genau parallel zum Fontanka-Kanal verläuft, und somit zwischen sich und der „Bolschaja Neva“ (Große Newa) den eigentl. Stadtkern Leningrads umschließt.
„zur besseren Bekömmlichkeit“: Das russ. Verb „zakusit“‚ läßt sich nicht mit einem entsprechenden deutschen Verb übersetzen, da es lt. Daum/Schenk soviel wie „nachessen, damit vorher Gegessenes oder Getrunkenes besser bekommt, oder um einen anderen Geschmack in den Mund zu bekommen“ bedeutet.
„ich gehe nach Hause“: Dieses Zuhause ist nicht nach heutigen, westeuropäischen Maßstäben zu verstehen. Vielmehr handelt sich dabei um eine Art Wohngemeinschaft, wobei dieser Begriff sicher nicht dem Geist jenes Milieus entsprechen würde.
„sardelki“ sind lt. Pavlovskij kleine dicke Würste. Da mir die deutsche Entsprechung unbekannt ist, wählte ich hier und im folgenden der Einfachheit halber die von mir eingedeutschte russische Bezeichnung „Sardelken“.
„Metschnikov“ (aus: DBG-Handlexikon; Deutsche Buch-Gemeinschaft Darmstadt; 1964, S.583) ilja Metschnikov, russ. Bakteriologe, geb. 1845, gest. 1916; Arbeiten über Immunität und Cholera. Nobelpreis 1908.
„Genie unserer Zeit“; eine etwas ungebräuliche Formulierung, die ich deshalb gewählt habe, weil sie möglicherweise in Anspielung auf Lermontovs „Geroj naschego vremeni“ (Ein Held unserer Zeit) verwendet wurde.
„Kwass“, säuerlicher, gewöhnungsbedürftiger Brottrunk; dem Bier ähnliches Getränk aus wässrigem Malzbrei, Zucker und Weizenmehl, mit geringem Alkoholgehalt. Kann man neben Wodka getrost als typisch russ. Nationaigetränk bezeichnen.
Zum Sprachfehler Marja Vasiljevnas: Im russ. Original macht sie aus stimmhaften und stimmlosen ’s‘-Lauten jeweils entsprechend stimmhafte und -lose ‚Zisch‘-Laute. Diesen Sprachfehler mit einer Art Lispeln wiederzugeben erscheint mir insofern eine unglückliche Entsprechung zu sein, als sich dadurch leider nicht der relativ warme und weiche Klangcharakter des russ. Sprachfehlers einfangen läßt, der möglicherweise für die Figurenanalyse von Bedeutung ist.
„Ruhende“ u. „Unruhestifter“: hierbei handelt es sich eigentlich um eine Art Wortspiel: „pokojniki“ bedeutet „Tote“, während das von Charms frei substantivierte Adjektiv „bespokojnyj“ (hier: „bespokojniki“) soviel wie „ruhelos“ bedeutet. Es müßte also „Tote“ und „Ruhelose“ heißen.
„Licij Nos“: Zu deutsch „Fuchsnase“, ist der Name einer kleinen Eisenbahnstation, die ca. 30 km nordwestlich von Leningrad, direkt am Finnischen Meerbusen liegt.
„Kosovorotka“; It. Daum/Schenk ein russisches, folkloristisches Oberhemd mit Stehkragen und seitlichem Verschluß.
„Im Namen des Vaters…“: Hierbei bin ich davon ausgegangen, daß sich Charms auf Teile des „Missionsbefehls“ (Mt.28,19-20) bezieht, wo die entsprechende Passage vollständig heißt: „Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: taufet sie auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen /!/ Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ Um auf die „Raupe“ Bezug zu nehmen sei hier noch auf die entsprechende Stelle im Markusevangelium hingewiesen: (16,15) „Und er sprach zu ihnen: Gehet hin in alle Weit und predigt das Evangelium aller Kreatur.“ Mit meiner eigenmächtigen Ergänzung des „… heute und …“ wollte ich wiederum dem Charms-„Zitat“ gerecht werden.
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