Getränkekarte von Monster Ronsons Karaokeclub

Drink more sing better. Ist Musik ein Spiegelbild des Zeitgeistes?

Gestern, Samstagabend, (nach Jahren) mal (wieder) Besuch des Berliner XXL-Karaokeclubs „Monster Ronson’s“, und ich würde mir gerne die Mühe machen, diese vielen bunt gemischten Eindrücke zu einem schwungvollen Feuilleton-Report zusammenfließen zu lassen, aber wer soll’s lesen? Zur Zielgruppe des Clubs gehöre ich mitnichten, folglich ist sein Partyvolk nicht mein Volk. Also nur eine Kladde: 

Der Türsteher: eine Art dystopischer Kauz, der, wie die gesamte Belegschaft, nur Englisch spricht; nicht sein Fault, schon klar – in Berlins Nightlife Deutsch zu sprechen gilt längst als irgendwie voll cringe (peinlich); irgendwie muss man sich in diesem provinziellen Metropolchen schließlich vergegenwärtigen, dass es kosmopolitisch pulsiert. Sorry, kann durchaus sein, dass ich Berlin unrecht tue, dass im Madrider und Pariser Bewirtungsgewerbe mittlerweile ebenfalls die Kolonialobermeistersprache vorherrscht. Die nette Türschwester mustert mich jedenfalls warmherzig, checkt meine Bereitschaft zur guten Laune und warnt mich abschließend eindringlich, heute sei Gay night (erster o-Ton – with a really charming holländic rural Accent: »Wir sind heute Schwuli hier!« (oder so ähnlich). Bei so fürsorglichen und positiven Vibes MUSS man einfach lächeln (= getarntes breites Grinsen); ich nenne das Passwort: »Nein, ich habe nichts gegen Schwulis, ganz und gar nicht, wirklich nicht!«, stelle mir vor, dass man sich früher mal vorstellte, dass drinnen eine Horde naughty Queers auf einen wartet, um mir pausenlos an den Hintern zu grabschen. Was (natürlich auch heutzutage) Quatsch ist. Eine Horde Heten weilt drinnen, 19- bis 30-jährige Leistungsträger unseres Bürgertums, die sich heute ihre Seele aus dem Leib jubilieren, kein Schwuli weit und breit – was eigentlich schade ist, denn von Schwulen werde ich seit jeher immer sofort recht herzlich-höflich integriert. Und: ihre Kultiviertheit zieht reife, interessante Frauen an… Hier bleibe ich den ganzen Abend alleine, bestaune Karaoke als (für mich neue) Methode, sich vom daily Grind-Business-Ballast zu befreien – offenbar leichter und lustiger als Schrei-Therapie, Selbstfindungsjodeln und Wut-Yoga. Womit wir zum Wesentlichen kommen. Das most Sophisticatete hier (das Geilste-Stilvollste halt) ist ohne jeglichen Zweifel das von rommygon (Rommy González) gestaltete Drinksverzeichnis in 70erjahre-Afro-Anmutung mit der (klassischen) »Story of Monster Ronsons«: vom Tellerwäscher, pardon Autoscheibenwäscher (am großen Stern), zum Karaokemillionär. Das prominente Motto erkennt man – geschickt von hochpreisigen Hologrammeffekten getarnt – erst im Dunkeln: »Drink more sing better«.

Nein Leute! Druckfehler! Lauter, nicht besser! – Denkfehler? Geisteshaltungsfehler?… Bezeichnenderweise werden solche Sprüche auch in meinem Stammkaraokeclub propagiert, was ich auch dort für bedenklich halte, da sie unverhohlen zur Selbstvergiftung animieren, und weil mir Umsatzgier unsympathisch ist, und heimtückische Skrupellosigkeit erst recht. Dort entbehren die per Filzstift an die Wand gekritzelten Sprüche allerdings nicht eines gewissen Humors:

»Investiere in Alkohol — mehr Prozente bekommst du nirgends!«
»Nüchtern bin ich schüchtern, voll bin ich toll.«

Alkoholspruch in Karaokebar
Alkoholisierungspruch in meiner kleinen, aber ansonsten feinen Karaokebar

Juckepunkt

ist HIER nicht die (ziemlich degenerierte und witzlose) Verführung zum Besäufnis, sondern schlicht und ergreifend der Sound: Er klingt gleichsam wie aus den Siebzigern (in einer Hafenkneipe). Die Begleitmusik (der Karaoke-Tracks) übertönt dumpf jeden normalen Stimmton, den das Mikrofon empfängt. Man muss brüllen, um die Stimme zu hören. Das ist freilich nicht Sinn und Zweck der Karaoke-Idee. Hat aber, andererseits, oft den Vorteil, das Publikum vor den musikalisch Unbegabten zu schützen, die über genügend Selbstsicherheit (oder Selbstüberschätzung) verfügen, sich auf die Bühne zu stellen und anderen den Marsch zu blasen – ihren ganz persönlichen ungenierten Marsch, denn Singen ist gut und gesund und ein Menschenrecht schließlich, auch für talentfreie Laien – egal wo und wie und wie laut und wie falsch. Dafür zahlt man ja schließlich die 10 Euro Eintritt (nach 20 Uhr). – So weit, so karaokekonventionell.

Kann man von einem professionellen KJ (Karaoke-Discjockey) erwarten, dass er die Sounds individuell abmischt, um guten Sängern Gehör zu verschaffen und die anderen sanft im Zaum zu halten? Ich meine ja. Hier legte gestern eine KJane auf, die dazu nicht in der Lage (oder Stimmung) war, ohnehin adäquater als Bestatterin oder Gerichtsvollzieherin aufgehoben wäre. Ich habe weiß Gott viel Fantasie, kann mir aber beim besten Willen nicht vorstellen, wer aus welchem Grund eine dermaßen humor- und freudlose Matrone zur KJane ernennt. Immerhin ist IHR Mikrofon laut genug eingestellt, um ihren Befehlen (Clap your hands) und Verboten (mehr als einen Songwunsch einzureichen) Gehör zu verschaffen.
Kann man von einer KJane erwarten, dass sie eine solche Veranstaltung mit irgendeiner Art von Originalität und (musikalischer) Struktur verfeinert? Ich selbst würde z.B. einfach mal eine halbe Stunde Deutschsprachigkeit verordnen oder nur Lieder zulassen, die weder Englisch noch Deutsch sind. Oder mal ein paar Balladen oder Rock’n Roll-Rhythmen – irgendeine Form von Animation, Spontaneität, Abwechslung… 

Eine originelle Auflockerungsmaßnahme wäre eine kurze Phase mit Songs klassischer Tanzrhythmen. Hier ein paar willkürlich aus meiner persönlichen Karaoke-Liste herausgegriffene Beispiele:
Rumba: Tornero, Der Junge mit der Mundharmonika, Save The Last Dance For Me, One way wind, What’s another year, Blue bayou, Tränen lügen nicht, Deine Spuren im Sand, Lay back in the arms of someone, If I said you had a beautiful body, Mississippi, All I Have To Do Is Dream
Samba: Quando, quando, Love is in the air
Cha-cha: Jeans On, It never rains in Southern California, Rivers Of Babylon, One Way Ticket, Words
Wiener Walzer: Lucille, That’s Amore, Delilah, Norwegian Wood
Slow walz: Amazing grace, You Light Up My Life, When I Need You
Jive/Swing/Rock ‘n Roll: Don’t Be Cruel
Tango: Capri Fischer
Foxtrott/Quickstep: Some broken hearts, Tie A Yellow Ribbon
Slowfox: Strangers In The Night

Geschlagene anderthalb Stunden muss ich, inklusive der 12 Minuten Pause, die unsere KJane sich zwischenzeitlich ausbittet (was ich so auch noch nie erlebt habe), warten, bis ich dran komme, nutze die Zeit, mich heimlich einzusingen, hatte mir I’m not in love (von 10cc*) gewünscht, mag besonders die zweite Bridge und das Outro, werde vorher abgewürgt, allerdings nicht von der überarbeiteten, strengen KJane, sondern von Ronsons veraltetem (oder auch bloß minderwertigem) Karaokesystem, dessen Track-Anbieter, in diesem Fall, glaube ich, u.a. “Sunfly” und “Zoom”, die Stücke dreist einkürzen. “Karafun” ist (auch grafisch) DEUTLICH besser; aber ganz unter uns: Das Kürzen kann durchaus von Vorteil sein – etwa bei Cohens Halleluja, das man wirklich nur selten in voller (fünfminütiger) Länge erträgt, oder bei den berüchtigten Langstrecken-Popsongs der 70er: Bohemian Rhapsody (5:54 Minuten), Stairway to Heaven (8:02), American Pie (8:33), Hotel California (6:30). – I’m not in love geht auch über sechs Minuten, aber der Gesang hört bereits bei viereinhalb auf. Danach könnte man behutsam ausblenden. So wird man nach der endlosen Marter dieses ohrenbetäubenden Dumpfbasskrachs auch noch um die Höhepunkte einer bezaubernden Ballade betrogen! Immerhin singen einige der jungen Leute aus vollen Kehlen mit, was mich wundert, denn umgekehrt kann ich bei denen nicht mitsingen – äh -sprechen…

Ist Musik ein Spiegelbild des Zeitgeistes?

Das Phänomen der Musik als Spiegelbild des Geistes einer Epoche ist ein weites Feld der Forschung und (kontroversen) Diskussion. Die Idee, dass Musik in der Lage ist, die tiefsten Gefühle und Gedanken einer ganzen Gesellschaft widerzuspiegeln, ist schließlich nicht nur faszinierend, sondern auch relevant für unsere kulturelle Identität und soziale Dynamik. 

Die Romantik war von emotionaler Intensität und Subjektivität geprägt, was den Schluss nahelegt, dass der romantische Komponist ein melancholischer und naturverbundener Typ war. Die Musik der jetzt 30-Jährigen scheint aus flachen, melodielosen Sprechgesängen einerseits zu bestehen und sich andererseits auf Themen wie Nightlife und Sex zu fokussieren. Ein paar simple Akkorde und beatige Basslines reichen ja auch aus, um ein bisschen mitzuhopsen. – Was sagt uns das über diesen Menschenschlag? Ist er oberflächlich und uninspiriert, ohne Tiefgang und Gefühl? … Wenn man sich dazu vor Augen hält, dass Protestierende heute keine Molotowcocktails werfen, sondern sich auf dem Asphalt festkleben… irgendwie stimmig… Sind Digital Natives unromantischer als ihre Vorfahren? Interessieren sie sich mehr für soziale Gerechtigkeit? Oder hat die neue Generation, wie jede andere vor ihnen, einfach nur einen Geschmack, der sich (uns) Älteren verschließt? 

Wie die Rockstars unserer 60er und 70er Jahre, drückten die Künstler der Romantik Gefühle aus, schufen Musik, die von existenziellen Themen wie Natur, Liebe, Tod und Leidenschaft inspiriert war, von der Suche nach Individualität und künstlerischer Freiheit, und reflektierten eine Geisteshaltung, die von Aufbruch und Umbruch geprägt war. Heutige Kunstwerke sind von einem viel höheren Grad an Kommerzialisierung und Massenproduktion geprägt. Ein Rapper, dessen Namen in meiner Generation keiner kennt, geschweige denn dessen Œuvre, ist bereits Milliardär! Ohne Globalisierung, ohne digitale Technologien völlig undenkbar! In Wahrheit ist die Vielfalt der Stile, Genres und Klangwelten heute vielleicht so groß wie nie zuvor; insofern spiegelt die Musik der Gegenwart auch eine Gesellschaft der kulturellen Vielfalt und offenen Grenzen…


Sorry, jetzt hab ich mich verquatscht. Zurück zu Monster Ronson’s:
Ein halbes Sternchen für die lustige Türschwester und die nette Bardame, die zwischendurch, im Gegensatz zur Gerichtsvollzieherin, auch mal ein Ständchen zum Besten gab; und je ein halbes für die moderaten Preise und die tolle Getränkekarte, macht zwei Sternchen.

Und: so besoffen, dass ich mich dort gut aufgehoben fühle, möchte ich niemals mehr werden.

Beim Beobachten des Publikums, das ja zugleich Darsteller ist (gibt es ein Kofferwort, das die beiden Rollen zusammenfügt, wie „Prosumer“ die Verschmelzung von Hersteller und Konsument ausdrückt?), diese fröhliche, glückliche Ausgelassenheit und Unbeschwertheit, diese sozialkompetente Kritiklosigkeit, diese empathische Arglosigkeit, Unreflektiertheit, Taubheit… da rückte mein Traum von einem modernen, kultivierten Karaokeclub mit köstlichen, alkoholfreien, heißen Getränken (die gut für die Stimme sind), mit musikalischen Gästen und mit KJs, die ihr Mischpult im Griff haben und auch sonst für eine gewisse Qualität sorgen, in weite Ferne…


*) „10cc“ steht übrigens laut Wikipedia für „10 Kubikzentimeter“: Der Bandname soll, so eine Legende, vom angeblichen Durchschnittsspermavolumen eines Mannes bei einem Orgasmus abgeleitet sein. Einige Beteiligte, darunter ihr erster Produzent Jonathan King, haben dies später dementiert. (Laut ChatGPT beträgt die durchschnittliche Spermienmenge, die ein Mann bei einer Ejakulation freisetzt, etwa 3 bis 5 Kubikzentimeter. 😉

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