Die Andrologin

Eine Kurzgeschichte von Frank Jankowski aus dem Jahr 1991.

‚Wie bitte?‘ Anatol stutzte: „Es gibt nichts Erotischeres, als die fasanigen Klasmen einer strammen jungen Lesbe.“ Zum wiederholten Male war Anatol über einen solchen Satz gestolpert. Nun massierte er mittels Daumen und Zeigefinger die Sattellage seines Nasenbeins, schlug die letzte, mit einer inakzeptabel hohen Zahl versehenen, Seite auf, klappte den Roman zu und fällte schließlich jenes Urteil, das er schon bald wieder revidieren sollte: ‚Wie fantasielos!‘ Dabei wußte er die bildhaften Wortschöpfungen des Autors durchaus zu würdigen, rang er doch selbst oft genug nach griffigen Wendungen – zum Beispiel um sich bei stilleren Liebhaberinnen nach dem Erfolg seiner Paarungsmethode zu erkundigen. Am wenigsten behagte ihm die Formulierung mit diesem peinlichen Bewegungsverb: „Gekommen! Wohin denn, bitte schön?“ – „Na zum Orgas…“ – „Schweig! – Wie kann man ein solch erhabenes Gefühl durch ein schnödes Fremdwort ausdrücken?! »Orgasmus«! – Nach einer Unannehmlichkeit klingt das ja geradezu. Weshalb? Drückt ein ganzes Volk solch eine Sache durch ein ausländisches Wort aus? Was ist das für eine Sprache, die zum Ausdruck höchster Wonne fremde Wortschätze anpumpt? Warum hat man sich kein eigenes Wort ausgedacht, so wie man sich für negative Beschleunigung »bremsen« ausgedacht hat? Ist da irgendwann einmal ein Grieche gekommen und hat einer Deutschen das Wort beigebracht? »Avtó ine Orgasmo!« Oder eine Griechin einem Deutschen? Haben denn die Deutschen bis dahin keinen eigenen Bedarf an dieser Vokabel gehabt? An dieser Sache? An diesem Gefühl? An diesem Ursprungserlebnis aller Strebungen und Wollungen? Anatol lehnt die meisten deutschen Wörter ab, die zur Abgrenzung der Geschlechter erfunden worden sind. Eigentlich alle. Erst recht diejenigen, die die Überwindung dieser Abgrenzung ausdrücken.„Wir brauchen endlich einen eigenen Begriff – so etwas wie Rauschend gestilltes Verlangen‘ in einem Wort.“Dachte er. 

Nachdenklich wanderte sein Blick durch das Wartezimmer, in dem er seit geraumer Zeit auf die Audienz seines Männerarztes wartete.Miteinander schlafen!… Man ist doch wach dabei, immer wacher, hellwach. In Johann Heinrich Zedlers 68-bändigem Universallexikon von 1734 steht es mit Doppel-F: »Beischlaff heisset die fleischliche Vermischung des männlichen Geschlechts mit dem weiblichen, welche allen bekannt ist …« »Die fleischliche Vermischung, welche allen bekannt ist« – wie zeitlos. »Sonst ist anzumerken«, hat der Mann noch geschrieben, der Anatols Urururururgroßvatersein könnte – Anatol hat vierundsechzig davon und kennt von keinem einzigenden Beruf – »Sonst ist anzumerken, dass von dem allzu häufigen Genuss des Beischlaffes große Krankheiten entstehen, doch man sich nicht weniger viele Ungelegenheiten zuziehen kann, wenn man solchen ganz und gar unterlässt.«Nein, dann schon lieber »Geschlechtsverkehr«, wenn das auch irgendwie schlecht und verkehrt klingt, und wenn auch mit »Verkehr« kaum jemand eine malerische Landstraße meint, auf der zwei Automobile einander begegnen,sondern vielmehr ein unüberschaubares Gewirr von über- und untereinander verlaufenden, sich kreuzenden, sich ineinander verwickelnden, parallelen und windschief zusammengeführten Asphaltbahnen und Betonpisten, auf denen Tausende von zum Verwechseln ähnlichen Kraftfahrzeugen sich unter einer Dunstglocke träge dahinschleppen… Seines Männerarztes! Wochen waren vergangen, seit er das Branchenbuch nach diesem Kerl durchforstet hatte – natürlich vergeblich. Gynäkologen gab es reichlich, um nicht zu sagen massenhaft, aber Andrologen? Nicht einen! Erst in der Uniklinik war er fündig geworden. Und nun lungerte er also gerade in dessen Vorraum herum, als endlich die erhoffte Tür aufgesprengt wurde, und ein hektisches Fräulein den Hilfesuchenden hereinscheuchte. 

Der Arzt wies Anatol einen Hocker zu und verlas schnurstracks die Anamnese, während seine Sprechstundenhilfe sich in einen Sessel pflanzte, als sei dies das Selbstverständlichste von der Welt. „Akuter Kinderwunsch – seit zwei Jahren erfolglos. Verlobte: negativer Befund… „Wie oft hatten Sie denn Verkehr mit Ihrer Verlobten?“ Hier schluckte Anatol – er haßte es, lügen zu müssen, doch in Wahrheit war er nunmal weder verlobt, noch hegte er momentan besonders dringende Kinderwünsche. Allerdings hatte er trotz zahlreicher sexualpraktischer Nachlässigkeiten im Gegensatz zu seinen Freunden noch nie auch nur die geringste Zellteilung verursacht – genau dies machte ihm zu schaffen, und zwar so arg, dass er mittlerweile ernsthaft an seiner Fortpflanzungsfähigkeit zweifelte. Jedenfalls hatte er, um diese quälenden Zweifel ein für alle Male auszumerzen, sichschließlich in den Vorwand einer Familiengründung geflüchtet… Also wie oft? „Na ja, also… meistens haben wir abgewartet, bis ihr Eisprungkam, damit…“ Und schon deutete sein Androloge auf eine spanische Wand:„Schön, dann wollen Sie sich untenrum bitte mal freimachen.“Gewiß wollte er das. Aber die Anwesenheit einer Frau war eigentlich nicht ausgemacht. Nicht etwa, dass er sich genierte… Gut, das eine oder andere… Gliedmaß hätte ruhig ein bißchen, sagen wir, repräsentabler oder: ‚Achtung gebietender‘ ausfallen können, aber darum ging es ja nicht; es ging ums Prinzip!… „Ach so!“ Der Arzt hatte begriffen. „Macht es Ihnen was aus, wenn meine Assistentin der Untersuchung beiwohnt?“ – „Aber nein, um Gottes Willen, kein Problem!“ Unwillkürlich schwenkte Anatols Blick auf besagte Assistentin, die sich soeben weit zurück lehnte und beidarmig ihr volles Haar aufschüttelte. Dabei kam er nicht umhin, sich ein ziemlich klares Bild von der Topographie ihres Oberkörpers zu machen. Hier mußte Anatol abermals schlucken, um gleich darauf weltmännisch abzuwinken: „Und außerdem, ich meine… wenn es der Wissenschaft dient…“

Kurz darauf stand er in Unterhose vor den beiden. Der Mann krempelte die feingerippte weiße Baumwolle fachgerecht um und inspizierte erst einmal in aller Ruhe die schrumpelige Dreifaltigkeit unter dem krausen Haarbüschel. Dann holte er plötzlich tief Luft und spitzte seine Lippen wie zu einem gewichtigen Befund. Unserem Helden stockte der Atem…„Gutes deutsches Mittelmaß würde ich sagen.“Tja also – einer solchen Wertung brauchte man sich ja nun wahrhaftig nicht zu schämen! Gutes Mittelmaß! Der Zweifler atmete erleichtert auf. Und am liebsten hätte er dem Verkünder der frohen Botschaft auch gleich noch recht herzlich die Hand geschüttelt. Doch über die wurden soeben ein Paar Latexhandschuhe gepfriemelt. Es könne nun ein bißchen unangenehm werden, hieß es. Anatol hatte dieses `Ein bisschen unangenehm‘ zu oft beim Zahnarzt gehört. In Erwartung gellender Schmerzen runzelte sich das gute deutsche Mittelmaß deshalb unverzüglich auf ein sehr viel bescheideneres Maß zusammen. Und während der Männerspezialist die eingeigelten Beutelchen wog, deren Inhalte hin und her murmelte und die dahinter gelegenen Stränge zwirbelte, wurde die Stirn seines Schützlings von einem Heer banger Schweißperlen bevölkert. Umsonst, wie sich herausstellte, denn das Gellen blieb aus – eigentlich sogar der Schmerz an sich. Ja vermutlich hätte unser deutscher Mittelmaßträger die Inspektion sogar richtiggehend angenehm gefunden, wären bloß die Umstände andere gewesen!

„Soweit alles in Ordnung.“ Der Androloge erhob sich, und ein Hauch der Erleichterung wehte ihn an. „So. Als nächstes wird jetzt Ihre Samenflüssigkeit untersucht.“ – „Jetzt gleich?“ – „Nein, das machen Sie in unserem Labor. Aber erst, nachdem Sie mindestens zwei Wochen enthaltsam gewesen sind.“ Mit diesen garstigen Worten wurde Anatol aus seiner Obhut entlassen. Draußen stoben eisige Flocken durch die Dämmerung.

‚Einen ganzen halben Monat..!‘ Und was, wenn ihn aus Versehen einer von diesen herrlichen Knabenträumen übermannte? Wehmütig dachte Anatol an die Zeit, bevor er herausgefunden hatte, dass jene Träume durch ebenso schlichtes wie ergreifendes Handanlegen künstlich zu ersetzen waren. Wie sehr sehnte er sich mitunter nach diesen rauschenden Kindheitserlebnissen zurück! Im Prinzip braucht ja vermutlich auch ein Erwachsener bloß abzuwarten, bis jener vielfach verwunschene Arterhaltungsdrang sich automatisch ihre Bahn in die erhoffte Zukunft bricht. Mehrmals bereits hatte Anatol es redlich in Angriff genommen, diese unüberschaubar lange Durststrecke zu überwinden, war bislang jedoch jedes mal kläglich gescheitert – spätestens an dem Punkt, als er befürchtete, seiner trotz allem ja nun ziemlich heiß geliebten Libido verlustig zu gehen, die nämlich nach einem anfänglichen Anstieg immer schwächer wurde, anstatt, wie zu erwarten gewesen wäre, immer mächtiger.Um jegliche Anfechtung diesmal bereits im Keim zu ersticken, klügelte Anatol eine Art Schlachtplan aus, der im Wesentlichen darin bestand, jeden Abend gnadenlose Körperertüchtigung im Fitnessclub zu begehen und das allmorgentliche Aufbäumen jener Wohllust mit einer kalten Dusche gnadenlos in die Knie zu zwingen, deren sinnstiftendes H irgendwann zwischen dem Westfälischen Frieden und der Niederlegung der Reichskrone einer unbegreiflichen Amputationen zum Opfer gefallen war. Auf diese Weise sollte es ihm während der ersten Woche tatsächlich gelingen, seine Würde zu bewahren. Dagegen entwickelte sich die zweite zu einem entehrenden Spießrutenlauf: Die ewig quengelnde Morgenlatte ließ sich mittlerweile nicht einmal durch Eiswasser in die Knie zwingen; und anscheinend hatte das Fitnesstudio, in dem es zwar Frauen – doch leider keine Männertage gab, allerhand Top-Modell-Agenturen massenhaft Dauerkarten gestiftet, so dass ihn all die halbentblößten schweißbenetzten Sirenen mit Sicherheit bald in den Wahnsinn getrieben hätten, wäre er nicht in den winterlichen Park zu den Joggern übergelaufen. Schlimm quälte ihn die Erkenntnis, ein wehrloses Opfer geifernder Hormone zu sein. Und erst jetzt offenbarte sich ihm die philosophische Tiefe jenes Romans, den er im Wartezimmer so großkotzig als fantasielos abgetan hatte. Eines Morgens war Anatol auf unerklärliche Weise in ein Frauendampfbad gelangt. Vom Anblick all der schweißnassen nackten Leiber, die sich im tropischen Dunst geschmeidig rekelten, wurde ihm schummrig. Mit spöttischem Gesichtsausdruck deutete eine von ihnen auf seinen brunstleidenden Schoß und stimmte dazu ein schier unmenschliches Geräusch an. Eine zweite tat es ihr nach, dann eine dritte… Verstört fummelte Anatol seinen Wecker aus. Es war dies der langersehnte Tag. Sein Zölibat war beendet.

Das Labor befand sich in einem alten Fabrikgebäude, durch dessen Treppenhaus eisige Winde zogen. Der Zweifler stemmte die Eisentür auf und schritt etwas beklommen zur Anmeldung, wo eine blutjunge MTA gerade an ihrem Frühstück nestelte. Unmittelbar daneben saßen einige ältere Herrschaften beisammen, die den Zustand ihrer Körpersäfte bekakelten, ohne dabei den Neuzugang aus den Augenwinkeln zu lassen. – „Kann ich helfen?“ – „Ja…“ flüsterte Anatol „ich soll hier einen… äh… Fertilitätstest machen“ – „Wie bitte?!“ krakeelte das Fräulein (eigentlich hatte sie bloß eine Idee zu laut zurück geflüstert, aber für Anatol war es ein Krakeelen). Erschrocken spähte er nach dem Kaffeekränzchen, das jetzt schon mit halbem Ohr lauschte, und legte dem begriffsstutzigen Persönchen sein Ansinnen noch einmal ganz sachte dar. – „Ach so!“ hallte es durch die Gemäuer „Einen Spermatest! Ja, ja, das Klo ist gleich rechts hinter der Eisentür.“ Und schon schickte sie sich an, einen geradezu aufsehenerregenden Batzen Nutella zu verschlingen.„Ja und!?“ erkundigte sich Anatol gereizt. Das Gequassel der Rentner war unterdessen gänzlich verstummt. „Soll ich mir vielleicht in die Hand..?!“ Zähneknirschend kramte sie nach einem winzigen Reagenzglas, das Anatol zunächst eine Weile begutachtete und ihr dann, auf den kleinen Finger gepfropft, fuchtelnd unter die Nase hielt: „Ich möchte ja nicht angeberisch erscheinen, aber es wäre ganz überaus reizend, wenn wenigstens mein Zeigefinger hineinpassen würde! “Wie hätte die junge Frau ahnen sollen, dass das mit dem Zeigefinger ironisch gemeint war?.. 

Als Anatol endlich ein wenigstens daumengroßes Behältnis erwirkt hatte, zog er von dannen – gefolgt von einer greisen Schar aufgerissener Münder.

Auf der Toilette war es so kalt, dass es nicht einmal stank. Anatol machte sich sofort daran, seinen Hosenstall abzuwetzen, was, wie sich herausstellte, kaum mehr als die Durchblutung seiner Handfläche anregte. In Ermangelung jeglicher Fremdunterstützung war er zur Gänze auf seine eigene Fantasie angewiesen, und so flüchtete er in die saunaartig geheizte Praxis seines Andrologen, der selbstverständlich krank war oder im Urlaub oder gar nicht mehr auf der Welt. Jedenfalls mußte sein Fall diesmal von der Assistentin alleine bearbeitet werden. Nachdem sie selbst sich wegen der fantastischen Hitze ein wenig freigemacht hatte, prüfte sie sogleich die Funktion des sogenannten paarigen Schwellkörpers. Doch kaum war dieser zu einem einigermaßen brauchbaren Fruchtbarkeitssymbol gediehen, als jemand aus der rauen, bitteren Wirklichkeit sehr zielstrebig die Türklinke betätigte. Die frischgebackene Männerärztin löste sich augenblicklich in fatales Unwohlgefallen auf, und vor lauter Scham fing Anatols Herzmuskel an zu stampfen, als hätte man ihn beim Ladendiebstahl erwischt. Zur Entspannung hauchte er eine Dampfwolke gegen die Kacheln. Doch gleich darauf rüttelte der Unsichtbare zum zweiten Mal energisch an der Tür, wobei unserem Latrinenbesetzer um ein Haar auch noch das gläserne Prüfbehältnis entglitten wäre. Anatols Geduld waram Ende: „Was kann es wohl bitte schön bedeuten, wenn ein Scheißhaus verschlossen ist,hä?!“ Hastige Schritte entfernten sich. Von nun an lief alles wie geschmiert: Kaum hatte Anatol seine virtuelle Andrologin zur Fortsetzung der Untersuchung animiert, beugte diese plötzlich, von zügellosem Ehrgeiz gepackt, ihren Rumpf nach vorne und legte sich nun derart virtuos ins Zeug, dass ihrem Patienten Hören und Sehen verging. Sekunden später stieg aus dessen Zehen ein chorisches Säuseln empor, verselbständigte sich, kribbelte flink durch die Schenkel, rieselte in den Orgon, brodelte dort symphonisch auf, stürzte sich mit berauschender Schubkraft in die Freiheit, klatschte im hohen Bogen gegen eine Kachel und verwandelte sich allmählich in ein sämiges, milchiges Eiszäpfchen.

Epilog

Das Reagenzgläschen ging leer aus. Es kam eine Armbewegung zu spät, besser gesagt, der Zweifler kam eine Armbewegung zu früh.

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