Chinous Moira
Eine Kurzgeschichte von Frank Jankowski aus dem Jahr 2001 oder so. Und das einzige, was hierbei nicht der hundertprozentigen Wahrheit entspricht, sind die Namen.
Seine Geburt fällt mit der Klimax der Silvesterfeier 1962/63 zusammen.
Bleibt von den berauschten Ärzten und Schwestern der Entbindungsstation unbemerkt.
Weshalb kein Geburtsschein ausgestellt und sein Geburtsjahr später willkürlich festgelegt wird.
Flucht aus Biafra. 1968. Seine deutsche Mutter weckt den Sechsjährigen mitten in der Nacht, ihn und seine zwei Geschwister – befiehlt, Schuhe anzuziehen, verabreicht ihm eine Ohrfeige, die einzige, an die
Chinou Charles Olaudah W.
sich als Erwachsener wird erinnern können.
Schuhe! Er ist immer barfuß gegangen, selten in Sandalen. Die Schuhe sind zu klein, er weigert sich, erntet die Backpfeife.
Sie besteigen eine Dschunke, vaterlos, schippern den schwarzen Strom flußaufwärts, nach dem zwei Staaten benannt worden sind. Ein Kanonenboot kommt ihnen entgegen. Sie werden beschossen, halbherzig, mehr zum Spaß, die Schüsse erhellen die Nacht wie Blitze. Ein Flüchtling der Dschunke fällt.
Chinou wird sich später an das erstaunlich helle, fluoreszierende, ja leuchtende Blut erinnern, das in jener Nacht aus dem Rücken des Fremden sickert. Am Flugplatz angekommen, hetzen sie über eine große grüne Wiese, besteigen ein Propellerflugzeug, fliegen hoch über der Heimat, sehen ein bombastisches, überirdisches Feuerwerk, von dem die übrige Welt keine Notiz nimmt – die anderen, die nah- und fernöstlichen Feuerwerke am Jordan und am Mekong sind der Welt näher…
***
Er besuchte Klasse drei, als ich ihn zum ersten Mal sah. Seine Fremdheit war sichtbar. Meine nicht. Weshalb er mich acht Jahre später im ersten Semester Englisch-Leistungskurs auch nicht wiedererkannte. Wo hatte er in der Zwischenzeit gesteckt?
Sein Vater lebt in Nigeria. Man wußte nicht, wo das liegt – ein unpopuläres Land, ohne Apartheit, ohne Serengeti, ohne Kriege nach außen, ohne Fremdenverkehr nach innen. Populär war nur der Bundesstaat, in dem er zur Welt gekommen war.
Biafra. Das Bild seines vermeintlichen Spielkameraden ist das erste Pressefoto, an das ich mich erinnere: Das Biafrakind. Schwarz-weiß. Grobkörnig. Harter Kontrast. Effektvoll.
Das Biafrakind blickt mich wohlwollend an, gütig, aber sein Ausdruck ist spiegellos, als hätte es den inneren Frieden schon gefunden. Der prall aufgepustete Bauch: Eine Wucherung in den Unterhautgewebsspalten, ein Ödem, die Folge von Hypoproteinämie, Eiweißmangel im Blut. Der medizinische Befund lautet „Prämortales Hungerstadium nach unzureichender exogener Nahrungszufuhr“…
Was, um Himmels Willen, versteht der Mediziner unter endogener Nahrungszufuhr?
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Am Gymnasium ist Chinou Charles Olaudah der stärkste, sportlichste und beliebteste Schüler. Und sein Englisch ist das beste von allen. Wenn er im Winter auf seinem Bett einen Floh findet, nimmt er ihn unter seine Decke.
Eine menschliche, herzliche Größe.
Seine vollkommene Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft werden ihn scheitern lassen, das entspricht einer gewissen Folgerichtigkeit. – In Chinous Begleitung ist man überall gerne gesehen – in Diskotheken, Billardsalons, im Bundesleistungszentrum, auf dem Schützenfest. Wenn Chinou Geld hat, haben auch seine Begleiter Geld.
Spendabel als verteile er Werbegeschenke. Mit ihm zusammen ist alles selbstverständlich und einfach. Chinou nennt jeden ‚Freund‘. Niemand weiß, welchen Stellenwert man in seinem Leben einnimmt, ob man einer von hundert oder einer von zwanzig ist.
Oder einer von dreien. Ich lernte, damit zu leben, fand mich damit ab, wie auch mit seinem Geheimnis.
Das Moira hieß.
Er redete nie mehr als drei Worte über sie, wich meinen Fragen aus. Nur einmal, ein einziges, sehr betrunkenes Mal pries er ihre Einzigartigkeit, ihre Schönheit und Stärke. Ihre Gewandtheit. Niemals zuvor oder danach sprach er in solchen Farben, mit dieser Stimme von einer Frau.
Sie war seine große Liebe. Und der Name prägte sich ein. Als Sinnbild weiblicher Verlockung.
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Ein Sportsmann. Ein Sportgeist.
‚Sport‘: aus dem altfranzösischen ’se desporter‘, mündet ins englische ‚disport‘: ‚Zerstreuung‘, ‚Vergnügung‘.
Für Chi-Boy, wie seine Freunde ihn nannten, ist es mehr als das: Sport ist seine Bestimmung, seine Religion. Er ist ihr Erfinder, ihr Beherrscher, und der Sprungturm des Stadionschwimmbads ist sein Thron. Er klettert auf die Zehnmeter-Plattform, drückt sich in den Handstand, wippt kerzengerade nach hinten in den freien Fall, schraubt sich um beide Achsen in die Tiefe und taucht exakt vertikal ins Wasser ein… Er habe das im Fernsehen gesehen und selbst einmal ausprobieren wollen.
In der Turnhalle stellt er sich unter den Basketballkorb, bündelt seine Atmung, federt vom Boden ab, erreicht tatsächlich mit der Fußspitze den Metallring, an dem der Korb befestigt ist, und läßt diesen sekundenlang erzittern. Meister des Viet-Wo-Dao.
Chi-Boy ist der Star des Gymnasiums. Die städtischen Türsteher machen Diener vor ihm. Die furchtlosesten und aggressivsten Schläger erweisen ihm stets ein Lächeln.
Chi-Boy war unverletzbar, unberührbar, wäre das auch ohne die vietnamesische Straßenkampfkunst gewesen, konnte jedem davonlaufen, bis weit über Niedersachsens Grenzen hinaus, jedem. Post-SV und die anderen maßgeblichen Leichtathletik-Vereine machten ihm Geschenke, auf daß er bei den großen Meisterschaften in ihren Farben arbeite – ohne Training. Sein Training waren die Meisterschaften. Chi-Boy trainierte nicht, Chi-Boy hatte Spaß. Medaillen, Urkunden, Preise, Schulterklopfen. Chi-Boy hob nichts davon auf, sammelte nichts. Jeder Mensch sammelt irgendetwas, und sei es Geld oder Briefe. Chi-Boy nicht. Er besaß nichts, behielt nichts, konnte jederzeit, jeden Augenblick fortziehen. Seine gesamte Habe paßte in die Innentaschen seines ockerfarbenen Lederjackets. Dieses Jacket war das einzige, was er nicht kampflos aufgegeben hätte, es war sein Großod, sein Zauberschutz, sein magisches Zeichen, seine Hinterlassenschaft, seine einzige Abhängigkeit.
Moira hatte es ihm geschenkt.
Hätte ihn jemand gefördert, hätte ihn jemand gezwungen, von der athletischen Kunst Profession zu machen, wandelte er heute durch die Sportpresse.
Jedenfalls nicht durch den Innenhof einer Irrenanstalt.
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Der einzige jedoch, der – außer Moira natürlich – über die Macht verfügte, Chinou zu etwas zu zwingen, war der Multimillionär T.T., lang gesprochen, Tie-Tie, bloß nicht kurz, sein Vater, der ihn zwingt, in Oxford Jura zu studieren. Um das Familien-Imperium zu verteidigen.
Ich lernte T.T. auf der Fahrt von Enugu nach Jos kennen. Eine Tagesreise im weiß gepanzerten Lincoln. Vor und hinter uns fuhren je zwei teuer bewaffnete Leibwächter in einem weißem Toyota und einem weißen Peugeot.
Auf den einsamen Überlandpisten, die sich schnurgerade durch Nigerias Tropen ziehen, zeugen unzählige Bombenkrater von dem Bürgerkrieg, dem Chinou entflohen war. Manche Löcher so groß und so tief wie die Swimmingpools der Costa Blanca.
Ich bat, den Convoy anhalten zu lassen, um Bananen zu kaufen. T.T. ließ das nicht zu. Kaufte bei der nächsten Gelegenheit eigenhändig ein Bündel giftgrüner Bananen. Als ich ihn davor bewahren wollte, wies er mich zurecht: Er lebe seit sechzig Jahren in diesem Land, müsse sich mit Bananen folglich besser auskennen. Nachdem er den ersten Bissen angeekelt ausgespuckt hatte, blickte er mich an, wie ein Fechtmeister seinen Schüler anblickt, zum ersten Mal von ihm getroffen.
Ich war über die Bitterkeit dieses Obstes erstaunter als irgendjemand sonst, so überwältigend hatte die Autorität dieses Mannes auf mich gewirkt, der Chinous Vater war.
Zuhause erfuhr ich aus dem Lexikon, dass dieser ingwerartige Bedecktsamer erst im Mittelalter von Südostasien über Indien in den arabischen Raum gelangt war, und Arabische Händler sie dann nach Afrika und Europa importiert hatten.
Autorität, diese zwingende Macht des Überlegenen, ist etwas Angeborenes, man verliert sie nicht. Chinous Vater verlor sie nicht einmal in Badehose, in der Thermalquelle zu Jos. Sein ganzer Körper war so weiß wie mein eigener. Kichernde und wiehernde Paviane versammelten sich auf den Uferfelsen. Der Chief von Enugu sah aus, als hätte er in Domestos gebadet und dabei nur Kopf und Hände herausgehalten. Aber jede Komik, jede Lächerlichkeit dieses Anblicks erstickte im steinernen Vakuum seiner Autorität.
***
Kurz nach unserer Nigeria-Reise wurde Chinou zum ersten Mal eingeliefert. Das heißt, ich dachte, es sei das erste Mal gewesen. Tagelang hatte er sich nicht gemeldet. Ich erfuhr es von seiner Mutter.
Und dann. Stand er vor mir. In einem zu großen Jogginganzug, aus dem seine schlanken sehnigen Fesseln verloren herausragten. An den Füßen abgetragene Anstaltspantoffeln. Seine sanften, klaren Züge waren erblichen und verkniffen. Starrer Blick aus mühselig halbgeöffneten Augen. Die Arme aus irgendeinem Grund angehoben – vielleicht, um das Gleichgewicht zu halten oder auf die Umarmung vorbereitet zu sein. Er nuschelte meinen Namen mit Ausrufezeichen, ohne seine vertrockneten, aufgesprungenen dünnen blassen Lippen zu bewegen. Schlurfte schwerfällig auf mich zu, der ich erschrocken dastand, blöde stammelnd. Chinou spürte die Angst. Umarmte mich. Nicht ich war es, der Beistand brauchte…
Ich roch den toxischen Atem. Der Druck seiner Umarmung nahm stetig zu. Ein knarrender Schraubstock. Schon konnte ich nicht mehr atmen. Fürchtete zu ersticken. Fürchtete Rippenbrüche. Setzte seiner Umarmung meine Umarmung entgegen. Drückte aus Leibeskräften zu. Es war ein Kampf. Ein Existenzkampf.
Als mir das bewußt wurde, im selben Moment, ließ der Koloss nach. Hob mich an, als sei ich ein Kind. Hatte nicht gegen mich gekämpft, sondern gegen einen Dämon.
Auslöser der Psychose ist ein Joint gewesen. Den Moira gedreht hatte. Vorletztes Mal, letztes Mal und auch dieses Mal.
Wenn ein Bewußtsein so weit gespannt ist wie das seinige, bringt ein Krümel THC es leicht zur Explosion.
Oder Implosion. Das ist nichts Besonderes. Besonders ist nur die Renitenz eines verbrannten Kindes, sich vor dieser Erkenntnis zu verschließen.
Wir spazierten durch den Innenhof der Nervenklinik. Chinou berichtete langsam, stichwortartig.
Daß er sechs Nächte nicht geschlafen habe.
Daß er sich für Gottes Sohn gehalten habe. Für den Erlöser.
Daß er eine Handvoll Polizisten, die ihn hatten dingfest machen wollen, verletzt habe.
Ich war irgendwie stolz auf ihn.
Er irgendwie nicht.
Hinter den beiden Schlitzen, die von seinen geschwollenen Lidern standhaft offen gehalten wurden, blitzte etwas Gewalttätiges auf – ich erlebte auch das zum ersten Mal. Es gibt Situationen, da kann er es nicht leiden, festgehalten zu werden.
Da lässt man ihn am besten einfach machen…
Er hatte seinen BMW 850 CSI, diesen damals schnittigsten Protz auf Rädern, gegen eine Laterne gelenkt. Am Steuerrad eingeschlafen, mitten in der Stadt, mitten am Tag, während der Fahrt.
Fünf, sechs uniformierte Männer überwältigen ihn, bringen ihn her.
Man mästet ihn. Mit Valium und Haloperidol. Legt ihn lahm. Das Bild eines benommen sich umschauenden mächtigen Toros, dem sie die Klinge in den Nacken durch den halben Torso ins Herz gespießt haben. Poetisch, nicht?
Der Torso des Toros?…
Als ich wieder draußen war, hinter den beiden Automatiktüren aus Panzerglas, im Treppenhaus, setzte ich mich auf die Stufen und zweifelte.
Sonderbare Zweifel:
Woher wußte er eigentlich plötzlich wieder so genau?
Und die anderen: daß er nicht der Erlöser ist?
Sechs Tage und Nächte ohne Schlaf…
Ich selbst, wenn ich eine Nacht auslasse (eine Nacht) schweben mein Ich und mein Es den gesamten nächsten Tag kopfschüttelnd um mich herum. Ich habe das einige Male erlebt. Zwei Nächte ohne Schlaf habe ich noch nicht erlebt. Drei Nächte? Die Träume eines Untoten stelle ich mir fröhlicher vor. Vier Nächte. Das Grauen. Eine Tortur, die bei mir bleibende Störungen auf allen Ebenen des Körpers und Geistes nach sich zöge – und wahrscheinlich den Verlust der Seele.
Der Rest, die fünfte, sechste Nacht, liegt jenseits.
Meiner Fantasie…
***
Zwei Jahre später verbrachten wir eine Woche im Londoner Appartement seines Vaters. Zum Abendessen hatte er eine alte Bekannte eingeladen. Ngozi. Igbo, wie er selbst. Eine aufgeweckte, energische Frau. Mit einem Sexappeal, aus dem man mühelos zwei hätte machen können. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie als Ledermodendesignerin. Die beiden waren sich auf geschwisterliche, jedenfalls besondere Art vertraut.
Wir verbrachten einen guten, schönen Abend zu dritt.
Als sie vor dem Zubettgehen Chinou, den Glücklichen, fragte, ob sie bei ihm schlafen dürfe, murmelte der zu meiner allergrößten Verblüffung, sie möge eines der drei freien Schlafzimmer nehmen, händigte ihr einen vakanten Schlafanzug aus, sagte Gutnacht und legte sich hin.
Ngozi zog sich um, setzte sich zu mir auf die Empire-Chaiselonge und bat mich, den Fernseher einzuschalten – mal sehen, was Umaru Dikko macht, der den Nigerianern zwölfeinhalb Milliarden Dollar geklaut hatte, und deshalb aus seiner Londoner Villa gekidnappt worden war. Ein jämmerlicher Coup: Ex-Mossad-Agenten überfallen den Milliardär am hellichten Tag vor seiner Villa, pumpen ihm Pentathol in die Vene und pferchen ihn zusammen mit dem Anästhesisten in eine Kiste, um ihn als Diplomatengepäck mit einer leeren Frachtmaschine der Nigerian Airways direkt nach Lagos zu schaffen…
Ngozi schlief ein, ehe ich auch nur einen Nachrichtensender geortet hatte. Ihre vollendeten vollmilchschokoladenbraunen Füße, deren Sohlen genauso hell waren, wie T.T.s Bauch, gerieten (wohl aus Versehen) auf meinen Schoß. So brennend die Verlockung auch war, sie zu berühren, zu streicheln, ich traute mich nicht, spielte einfach nicht in ihrer Liga. Nach einer ganzen Weile der Huldigung ihrer sich hebenden und senkenden Brust und ihres restlichen schönen und übrigens auch überaus wohlriechenden Körpers, fasste ich mir ein Herz, hob ihre Fesseln behutsam an, wollte mich davonstehlen, schlafen legen.
Sie erhob sich ebenfalls, begleitete mich wie einen langjährigen Geliebten…
Am nächsten Morgen war Chinous Laune, im Gegensatz zu meiner, eine schlechte. Und das war, wenn man die Maßstäbe der Wahrscheinlichkeitsrechnung anlegt, etwas sehr Unwahrscheinliches. Ich vermutete die Ursache in der ungenierten nächtlichen Ruhestörung durch unseren lauten Gast.
Der nun singend das onyxgekachelte Bad kultivierte.
-„Geile Frau!“ grinste ich aufmunternd, anerkennend, dankend.
-„Das? Das ist ’ne Schlampe.“ Chinou stand auf.
-„Hm.“
Dann pochte er laut gegen die Badezimmertür und rief grimmig:
-„Ey, Moira, what’s up?“
Moira?! – Wieso Moira?…
-„Ich denke, sie heißt Ngozi!?“
-„Ja, auch.“
-„Und wieso…?!“ – Ich musste schlucken. „Doch nicht etwa DIE Moira!?“
-„Welche sonst?“
***
Kein Epilog. Alles gesagt.
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